Augenblicke
Eine Kurzgeschichte von Johanne Jacobsen
Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Karl, versunken in der Harmonie des Augenblicks, sah, wie sich in einem der unteren Turmfenster das warme Licht der Sonne widerspiegelte, was das wohlige Gefühl, welches er in diesem Moment so intensiv empfand, noch verstärkte. Es war, als hätte er die Wirklichkeit für wenige Sekunden verlassen. Man hätte es fast als einen kurzen Moment des absoluten inneren Friedens bezeichnen können. Dann wurde das sich spiegelnde Licht plötzlich und unbarmherzig von einem heran rasenden Zug durchschnitten. Karl wunderte sich
noch, dass die Trasse so nah an diesem alten Turm vorbei führte, und scheinbar gleichzeitig hörte er hinter sich die Worte: "Karl, kommst du?".
Sheryll war tief in ihre Sorgen um das Projekt versunken. Vieles war nicht so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte, unerwartete Probleme hatten sich aufgetan, den Zeitplan durcheinander gewirbelt und doch musste die Präsentation morgen einen professionellen Eindruck bei den Sponsoren hinterlassen. Sie kramte gerade in ihrem Aktenkoffer auf der Suche nach einer Verkaufsstatistik, deren Layout sie noch einmal überarbeiten wollte, als der ältere Herr neben ihr aufstand. Sie schaute kurz auf, ihr Blick streifte
am Fenster vorbei, und sie sah einen alten Turm vorbeirasen.
Karl drehte sich abrupt um: "Ja, ja, natürlich, ich komme." Die Führung durch die alte Burg war fast zu Ende. Er und Sarah waren auf der Durchreise gewesen und hatten spontan für ein Wochenende in der Nähe Halt gemacht. Es war wunderschön gewesen. Sie hatten in einer winzigen Pension übernachtet, abends romantisch gegessen, eine Wanderung durch den nahen Taunus unternommen, an einer Weinverkostung teilgenommen, und nun würden sie sich nach dem Besuch der alten Burg allmählich auf den Rückweg machen
müssen. Als Karl die Gruppe eingeholt hatte, hörte er gerade noch die Worte: "Ich hoffe, es hat Ihnen allen gefallen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.", danach leises Klatschen der Besucher, Sarah erledigte an einem öffentlichen Telefon im Eingangsbereich noch rasch einen Anruf, dann machten sie sich auf den Weg zu seinem Auto.
Sheryll hörte die Ansage des Schaffners: "Sehr verehrte Fahrgäste, in Kürze erreichen wir Frankfurt Flughafen. Dieser Zug endet dort. Sie haben Anschluss an ...", den Rest konnte sie nicht mehr verstehen, denn in diesem Augenblick klingelte ihr Handy. Sie suchte ihre Taschen danach ab, und als sie es schließlich im Aktenkoffer fand, war das Klingeln bereits wieder verstummt. Sie sah auf das Display: "Rufnummer unbekannt".
Es gab wenig Verkehr auf den Straßen, so dass sie für den Rückweg nicht sehr lange brauchten. Schon nach einer guten halben Stunde erreichten sie Frankfurt. Karl hatte Sarah versprochen, sie noch zum Bahnhof zu bringen, von wo aus sie den Zug nach Hause nehmen wollte. Nach diesem Wochenende würden sie sich erst einmal für unbestimmte Zeit nicht mehr treffen können. Karl war verheiratet und würde während der nächsten Wochen fest eingespannt sein, und von Sarah wusste er, dass auch sie in einer festen Beziehung
lebte; allerdings hatte sie ihm bisher so gut wie nichts darüber erzählt. Es war ihm beinahe so vorgekommen, als hätte sie etwas zu verbergen.
Sheryll überlegte kurz, von wem der Anruf gewesen sein mochte, beschloss dann aber, nicht weiter darüber nachzudenken. Sie wollte sich die Vorfreude nicht nehmen lassen. Seit über einer Woche war sie nun schon wegen des Projektes unterwegs gewesen und war froh, wenigstens heute Abend noch einmal kurz zu Hause ausspannen zu können - und auf ein paar romantische Stunden zu zweit. Sie hatte solche Sehnsucht gehabt wie schon lange nicht mehr. Jetzt fuhr der Zug im Bahnhof ein. Sie würde kurz umsteigen müssen, und
schon in etwa einer halbe Stunde würde sie zu Hause ankommen. Sie konnte es kaum erwarten.
Karl war froh, relativ schnell einen Parkplatz gefunden zu haben. So blieb noch genügend Zeit, Sarah zum Bahnsteig zu begleiten. Er vermisste sie jetzt schon. Der Zug hatte Verspätung. Sie standen auf dem Bahnsteig, hielten sich in den Armen und sprachen leise miteinander.
Sheryll hatte nicht viel Zeit, um ihren Anschlusszug zu erreichen. Sie drängelte sich an den vielen Menschen vorbei, hetzte durch den Bahnhof, erreichte den Bahnsteig noch rechtzeitig, aber ihr Zug war noch nicht zu sehen. Da sah sie die beiden. Zuerst war sie sich nicht sicher, aber dann näherte sie sich noch ein Stück. Als die Frau sich ein wenig drehte und sie sie besser erkennen konnte, war sie sich sicher. Ihr Atem stockte. Sie rang nach Luft und drehte sich weg, aus Angst, völlig die Fassung zu verlieren.
Noch nie hatte sie jemandem so sehr vertraut wie Sarah. Sie konnte es nicht glauben.
Karl hielt sie jetzt ganz fest. Am liebsten hätte er sie gar nicht mehr gehen lassen. Sarah genoss diese letzte Umarmung und wünschte, sie hätte das Gefühl dieses Augenblicks festhalten können. Sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie über Karls Schulter hinweg, und da stand sie. Sarah erschrak und löste sich sofort aus Karls Umarmung. Scheinbar hatte Sheryll sie noch nicht entdeckt. "Was ist los?" fragte Karl verwirrt. "Dort drüben steht Sheryll", antwortete Sarah monoton.
"Wer ist...?" Schon bevor Karl die Frage beendet hatte, wusste er, wer sie war. Deshalb also hatte Sarah nie darüber gesprochen. Es war eine Frau.
Sheryll dachte nicht mehr nach. Wie in Trance ging sie hinüber zu Sarah und diesem Mann. Sie musste Klarheit haben - sofort.
"Hallo Sheryll, Schatz. Schön dich endlich wiederzusehen. Ich hatte dich erst viel später zurück erwartet, weil ich dich auf deinem Handy nicht erreichen konnte und deshalb dachte, du wärst noch in einer Besprechung." Sheryll antwortete nicht. Sie war wie gelähmt. "Das ist Karl, ein Arbeitskollege. Wir haben uns gerade zufällig hier getroffen und ein wenig geplaudert." Sarahs Worte trafen Sheryll wie Hammerschläge. Diese Lüge war zu viel. Aber Sheryll blieb äußerlich ruhig, schaffte sogar
ein Lächeln in Karls Richtung.
"Freut mich!" sagte Karl. Sheryll wollte etwas erwidern, öffnete den Mund, brachte aber kein Wort hervor. Es war, als beherrschte sie ihren Körper nicht mehr; mehr noch, es war, als hätte sie ihn gänzlich verlassen und betrachtete die Szene als Unbeteiligte von außen. Dabei sah sie, wie sich Sarah und dieser Karl mit ihr unterhielten, mit ihr, die sie nur da stand und abwesend durch die beiden hindurch blickte. Sie sah den Zug in den Bahnhof einfahren und auch, dass Karl viel zu nahe am Bahnsteigrand
stand. Alles war für sie sehr weit entfernt und lief wie in Zeitlupe ab. Sie starrte auf Karls Füße, wollte ihn warnen, blieb aber zu ihrem eigenen Erstaunen stumm und spürte auf einmal, wie sie von hinten von einem vorbei hastenden Mann angerempelt wurde. Der Stoß kam ihr vor wie durch Watte und als könnte er ihr nicht wirklich weh tun. Aber sie sah sich stolpern, unendlich langsam. Sie sah Karl, wie er versuchte, sie aufzufangen, dabei das Gleichgewicht verlor und nach hinten fiel. Sie hörte Sarah schreien,
Bremsen quietschen, aber alles war sehr weit weg. Dann nur noch Stille.