Der Turm zu Babenberg
Eine Kurzgeschichte von Eva-Beatrice Soller
Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Karl fand es immer wieder eigenartig, dass der Turm und das alte Gutshaus ein und denselben Baustil aufwiesen. Hatte nicht Großmutter oft seltsame Geschichten über diesen Turm zu Babenberg erzählt? Ein wunderschönes Schloss wäre es einst gewesen, aber seine Mutter hatte dann stets gelacht und rigoros erklärt Großmutter hielte wieder einmal ihre berühmte Märchenstunde.
Trotzdem, Karl grinste in Erinnerung an seine infantilen Gedanken, die seine Kindheit und Jugend geprägt hatten. Denn damals hatte er in dem alten Turm, in dessen Schatten er aufgewachsen war, einen Aufpasser und Beschützer gesehen, einem mahnenden Zeigefinger gleich.
Jetzt dieser erstaunliche Zufallsfund. Beim Renovieren hatte er, eingemauert in einer Nische hinter einer morschen Holzvertäfelung im Schlafzimmer seines Urgroßvaters eine uralte verschlossene Messingkassette gefunden. Erst nachdem er die Kassette geborgen und weitere Steine aus dem bröckeligen alten Mauerwerk gelöst hatte, fand er in einem gut erhaltenen ledernen Kuvert den passenden Schlüssel für die Schatulle. Es war ein aufregender Moment gewesen, als sich mit knirschendem Geräusch der Schlüssel in dem immer
noch intakten alten Schloss der Kassette gedreht hatte und der Deckel sich öffnen ließ. Seine Erwartungen waren wirklich nicht allzu groß gewesen, aber als er jetzt nur vergilbte Papiere und alte Kuverts mit Wachssiegeln vorfand, war die Enttäuschung doch groß.
Doch plötzlich, bei einem sehr amtlich wirkenden Schreiben, begannen seine Hände zu zittern. Er konnte es zwar nicht ganz genau entziffern, aber war sich doch ziemlich sicher, dass dieses Schreiben die langgesuchte Bestätigung des damaligen Landbesitzes der Babenbergs enthielt. Denn soweit er es beurteilen konnte, sagten diese Papiere eindeutig aus, dass der Turm und der Grund, einschließlich der beiden Seen und den Wäldern bis hin zum Fluss, seit Jahrhunderten seiner Familie gehörten.
Sein Großvater hatte dies schon immer behauptet, aber da es keinerlei Beweise gab mussten sie sich mit dem begnügen was ihnen laut Unterlagen von 1880 zugesprochen worden war und das beschränkte sich auf das Gutshaus und 4000 qm Land.
Denn als die nahe gelegene Kirche in der damals sämtliche Schriften über Land und Leute aufbewahrt wurden 1856 bis auf die Grundmauern abgebrannt war, konnten keinerlei Nachweise mehr erbracht werden, die das Geschlecht derer von Babenberg als Eigentümer dieses Landstriches anerkannt hätten. Eigenartig war bloß, dass in diesen Schriftstücken aus der Kassette nicht nur von seinem Urgroßvater Peter, sondern auch von einem Bruder Paul von Babenberg die Rede war.
Hatte der Familienclan derer von Babenberg noch weitere Überraschungen in petto?
Sollte sich nun sein Traum erfüllen Babenberg endlich aufwändig nach den alten Bildern und Stichen renovieren zu lassen? Seine jetzigen Mittel reichten gerade mal für das Nötigste.
Sheryll hing ihren Gedanken nach, während die Landschaft an ihrem Zugfenster vorbei flog. Seit vierzehn Tagen befand sie sich nun in Deutschland. Bisher hatte sie in Boston gelebt. Doch das verlockende Angebot eines namhaften Architekturbüros in Köln, das sich hauptsächlich mit alten denkmalgeschützten Gebäuden befasste, hatte sie nicht mehr in ihrer Heimat gehalten.
"Amerika ist das Land der Zukunft, aber alte Kulturen musst du in Europa suchen, hatte ihr Großvater immer gesagt. Da ihr Ururgroßvater väterlicherseits nach einem Familienstreit nach Boston ausgewandert war, hatte ihre Familie eine romantische Affinität zu Deutschland entwickelt und legte seit Generationen unter anderem auch großen Wert darauf die Deutsche Sprache aufrechtzuerhalten. Sheryll grinste, wenn sie daran dachte wie sie diese Regel - zu Hause Deutsch zu sprechen - verabscheut hatte. Doch nun waren
ihre perfekten Deutschkenntnisse und ein abgeschlossenes Archäologie- und Architekturstudium ein riesiger Vorteil bei der Bewerbung gewesen und hatten ihr bei den vielen hundert Interessierten den Zuschlag bei der Vergabe des Traumjobs eingebracht.
Jetzt hatte sie allerdings sinnbildlich ziemlich kalte Füße, denn dass sie ihre Chefs nun gleich ins Wasser schubsten und sie ganz allein zu diesem außergewöhnlichen Projekt schickten jagte ihr doch kalte Schauer über den Rücken. Den Umbau des alten, denkmalgeschützten Gutshauses, das mehr einem Schloss oder einer Burg glich zu überwachen, davon hätte sie nie zu träumen gewagt.
Sie befasste sich wieder mit der Landschaft einem wunderschönen Fleckchen Erde, aus der auch ihre Vorfahren stammten. Sie freute sich immer mehr auf ihre Aufgabe.
Karl legte die Kassette mit den wertvollen Unterlagen in den Safe, den er sich in der alten Bibliothek hatte einbauen lassen übrigens einer der wenigen Räume, die nicht von dem Umbau und der Renovierung betroffen waren. Ein Blick auf die Uhr mahnte ihn zur Eile. Er sollte den Architekten von Mautner+Moebig vom Bahnhof abholen. Auf die fertigen Pläne war er wirklich mehr als gespannt - hoffentlich konnte er das alles finanziell ermöglichen. Von der Abteilung Denkmalschutz im Landratsamt bekam er zwar Unterstützung,
aber auch dies war lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein. Auf jeden Fall musste er morgen auf die Gemeinde gehen und die alten Unterlagen vorlegen. Vielleicht konnte er ja dann den alten Turm in den Umbau integrieren. Dazu waren aber sicher noch detaillierte Nachforschungen und Übersetzungen notwendig. "Mal sehen, was der avisierte Spezialist so auf Lager hatte" - soll ja nicht nur Architekt, sondern auch Archäologe sein.
Sheryll stand bereits seit fünf Minuten vor dem kleinen Bahnhofsgebäude von Babenberg. Es gab keine Telefonzelle, keinen Bahnangestellten, ja nicht mal ein Taxi war zu sehen. Eine ganz schön verlassene Gegend dieses Babenberg. Mit quietschenden Bremsen hielt plötzlich ein knallrotes Cabrio ein paar Meter von ihr entfernt. Ein junger, sportlicher Mann mit dunklen, kurzen Haaren sprang aus dem Wagen und lief in das kleine Bahnhofsgebäude. Minuten später kam er kopfschüttelnd wieder heraus.
Da Sheryll keine Lust hatte in dieser Einöde länger zu warten, wandte sie sich entschlossen an den jungen Mann. "Könnten Sie mich bitte bis zu einem Taxistand mitnehmen?" Karl erfasste erst jetzt bewusst die hübsche, junge Frau. Die rotgelockten, schulterlangen Haare leuchteten in der Sonne und die Figur ließ auch nichts zu wünschen übrig.
Lächelnd öffnete er die Beifahrerertüre seines Wagens. "Wo darf ich sie hinbringen? Mit Taxis werden Sie hier kein Glück haben. Da ich sowieso jemanden abholen wollte, der leider nicht gekommen ist, habe ich Zeit und kann Sie fahren."
Sheryll war sichtlich erleichtert "Nach Gut Babenberg, wenn es keine allzu großen Umstände macht, bitte." Karl starrte sie erstaunt an. "Sind Sie die Architektin Berg? Ich war völlig auf einen Herrn fixiert. Verzeihen Sie, mein Name ist Karl Babenberg. Wir haben jetzt sozusagen denselben Weg. Willkommen in meiner Heimat."
Sheryll beobachtete Karl von Babenberg beim Autofahren, ein wirklich interessanter Mann. Seine großen blauen Augen waren von unverschämt langen Wimpern eingerahmt und die gerade, kräftige Nase unterstrich die vollen Lippen. Karl war sich der Musterung der jungen Dame bewusst. Ein kleines spöttisches Lachen entfuhr ihm "Na sind Sie zufrieden oder haben Sie sich einen Gutsherrn anders vorgestellt? Sheryll lachte. "Ich bin Amerikanerin und habe kaum eine Vorstellung von deutschen Gutsherren, aber ich bin
neugierig und versuche alle Eindrücke wie einen Schwamm aufzusaugen."
Nach zehn Minuten fuhren sie über eine Brücke und anschließend durch ein breites, altes Burgtor. Der Burggraben war wild bewachsen und der Gutshof mit seinen Brunnen und den imposanten Gebäuden wirklich eine wahre Pracht. Sheryll stieß beeindruckt einen Entzückensschrei aus als ihr Blick auf den alten, mit Rosen überwachsenen Turm fiel. "Es ist wie im Märchen, ich warte nur noch, dass Dornröschen auf der Bildfläche erscheint."
Karl lachte. "Damit kann ich nicht dienen aber ich habe wirkliche Schätze für Sie." Er führte sie in die Bibliothek und zeigte ihr die Unterlagen in der Kassette.
"Am besten Sie vertiefen sich mal in die Materie. Wenn das alles stimmt, kann ich Babenberg wieder im alten Glanz erstrahlen lassen. Na ja, sicher muss ich dann ein bisschen Land verkaufen, also sehen wir erstmal, was das Landratsamt zu unserem spektakulären Fund sagt. Inzwischen hole ich Ihnen eine Stärkung. Später führe ich Sie dann herum und zeige Ihnen auch Ihre Unterkunft für die nächsten Wochen. Sie bekommen ein Zimmer mit Blick auf den Turm. Dann möchte ich allerdings unbedingt die Pläne sehen, ich
bin schon ganz gespannt."
Sheryll nickte zustimmend, war aber mit ihren Gedanken bereits in die Unterlagen vertieft. Die altdeutschen Texte machten ihr nur anfänglich Kopfzerbrechen, aber schnell war sie mit der Materie wieder vertraut.
Tatsächlich gehörte hier alles zu Schloss Babenberg. Es war also gar kein Gut, sondern ein gräfliches Schloss. Immer wieder tauchten die Namen der beiden Grafensöhne Peter und Paul auf. Der alte Graf Gustav Dietrich von Babenberg führte ein strenges Regiment. Er entschied wen seine beiden Söhne heiraten sollten und wo und wie sie leben sollten. Peter von Babenberg fügte sich dem Willen des despotischen Vaters, aber Paul war nicht bereit nur wegen des schnöden Mammons zu heiraten. Bei Nacht und Nebel verließ er
Babenberg. Sein Vater enterbte ihn und überließ ihm lediglich den alten Turm.
Während Sheryll die Geschichte las überliefen sie kalte Schauer. Dieser Paul Babenberg war am gleichen Tag geboren wie ihr Urgroßvater. Hatte ihr nicht ihr Opa erzählt, dass sein Vater seinen Namen gekürzt hatte, da die Amerikaner den vollen Namen jedes Mal so verunstalteten, dass ihm nichts anderes übrig geblieben war.
Sollte sie hier durch Zufall bei ihren Vorfahren gelandet sein? Gab es solche Zufälle und Wegkreuzungen im wirklichen Leben?
Karl sah in Sherylls aufgewühltes Gesicht. Sie hatte ihm inzwischen nicht nur bestätigt, dass die Unterlagen rechtlich einwandfrei wären, sondern auch ihre Familiengeschichte unterbreitet. Der Anruf in Boston bestätigte letztendlich alle Vermutungen. Karl und Sheryll waren verwandt. Hatte das Schicksal sie zusammengeführt oder die Vorsehung? War im Leben doch alles vorbestimmt? Oder können wir bei bestimmten Wegkreuzungen selbst entscheiden in welche Richtung uns das Schicksal führen soll?
"Dann gehört der Turm dir", lachte Karl. "Nein, nein keine Angst, ich freue mich so endlich wieder eine Familie zu haben, da teile mit dir auch gerne den Rest, wenn alles so stimmt wie du annimmst. Allerdings müssen wir den Turm erst einmal aufbrechen. Unser Ururgroßvater ließ ihn wohl damals von innen zuschütten und zumauern."
Nachdem Sie alle behördlichen Instanzen durchlaufen hatten und an der Echtheit der Unterlagen keinerlei Zweifel mehr bestand, wurde der Turm feierlich geöffnet.
Sheryll hatte inzwischen ein Päckchen aus Boston bekommen. Ihre Großmutter Lavinia, hatte ein kleines, in Leinen eingenähtes Dokument beigelegt. Das Schreiben war an ihren Urgroßvater gerichtet. Anscheinend hatte ihre Ururgroßmutter Isabel dies Ihrem Sohn zukommen lassen als der alte Graf gestorben war. Wie dieses Schreiben nach Boston kam konnte nicht so genau ergründet werden. In diesem Testament verwies sein Ururgroßvater Gustav Dietrich darauf, dass sein Sohn Paul bei seiner Rückkehr nach Babenberg das was
ihm rechtlich zustünde vorfinden würde, wenn er die an ihn gerichteten Zeilen richtig deuten könnte:
"Dieser Turm sei wie der Finger der gestreckt Dir zeige
Hier sollst Du sein hier ist deines Wesens Bleibe
Die Stufen die genau eines Jahres Ablauf zählen
Sollst Du nach Deinen Lebenszahlen wählen
Tag und Jahr nimm als Zahl sodass es ergibt der Stellen zwei.
Somit sei Deine Sorg und Schmach dann immerfort vorbei."
Großmutter schreibt, sie glaube, dass mein Urgroßvater dies von einer späteren Reise aus Deutschland mitgebracht habe und sie könne sich lediglich erinnern, dass er es ständig besonders aufbewahrt aber nie geöffnet habe. Alle Fragen habe er stets abgeblockt und wollte nie darüber sprechen. Ob er wusste was dieses Schriftstück beinhaltete, könne sie deswegen nicht sagen.
Beide brüteten tagelang über dem Text, Karl wurde ungeduldig und wollte nun endlich den Turm öffnen lassen. "Sicher finden wir dann irgendetwas um den Sinn dieser Worte besser zu verstehen."
Es dauerte einige Tage bis das alte Eisentor des Turmes sich endlich quietschend öffnete. Spezialarbeiter mussten mit viel Fingerspitzengefühl unter den strengen Blicken von Sheryll den Turmaufgang von Steinen und Schutt befreien. Es gab sie tatsächlich die 365 Stufen. Soviel wie ein Jahr Tage hatte. Diese führten nach oben in eine wunderschöne Burgkemenate. Allein der Ausblick entschädigte für alle Kosten und Mühen.
Immer wieder probierten sie verschiedene Möglichkeiten aus um das Geheimnis zu lüften. Es war Karl, der durch Zufall gegen eine der 365 Steinstufen stieß worauf sich einer der horizontalen Stützsteine löste.
Im Nachhinein konnten sie das Rätsel rekonstruieren. Urgroßvater Paul war am 29.09.1869 geboren, die Quersumme war somit 44. Es war die 44. Stufe hinter der sie eine Kassette mit wertvollem altem Schmuck und alten 300000 Goldtalern fanden. Auch noch für heutige Verhältnisse ein unvorstellbares Vermögen.
Jetzt hatte der alte Turm wieder zusammenführt was das Schicksal einst getrennt hatte und Schloss Babenberg würde bald wieder im alten Glanz erstrahlen.
Bei der Einweihung, ein Jahr später, kamen alle Verwandten aus Boston, Sheryll hatte ein neue Heimat und Karl wieder eine Familie.
Und Babenberg dank geheimnisvoller Wegkreuzungen glückliche Bewohner mit dem neuen alten Geschlecht derer von Babenberg.