Nur ein Augenblick
Eine Kurzgeschichte von Leandra S.
Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich
ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14.
Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk
eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der
Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten.
Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die
Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich
ihre Wege kreuzen würden.
Sheryll spielte Möglichkeit um Möglichkeit durch, wie sie ihre Präsentation gleich
beginnen könnte. Sie hatte sich eigentlich bereits die letzten Tage damit
beschäftigt, aber irgendwie gefiel ihr keine einzige Einleitung. Ihre Einleitung
sollte perfekt sein, kurz, prägnant und aussagekräftig. Schließlich hing von
diesem Auftrag einiges ab. Ihre Firma hatte sie nach Frankfurt geschickt,
um einem großen Komitee die Pläne für ein neues Einkaufscenter vorzustellen.
Millionen hingen an diesem Projekt, und ihr Chef, Herr von Kreutzen, hatte ihr
diese Präsentation mit großen Erwartungen übertragen. Wenn sie ihren Chef
enttäuschte, würde sie das Kopf und Kragen kosten. In dieser Situation gab es
nur alles oder nichts.
Während sie noch einmal ihre Präsentation im Laptop durchging, stoppte der ICE mit quietschenden Bremsen auf offener Strecke. Sie wurde von der Bremskraft nach vorne geschleudert, der Computer rutschte von ihrem Schoß. Fluchend hob sie den Laptop auf, der (Gott sei Dank!) unbeschädigt war. Dann rutschte sie zum Fenster und sah, wie die meisten der anderen Fahrgäste, aus dem Fenster.
"Weiß jemand was passiert ist?" Stimmen dröhnten durcheinander. Niemand wusste etwas, aber alle spekulierten.
"Ein Attentat?"
"Vielleicht eine Bombe!"
"Vielleicht ist der Zug kaputt gegangen!"
"Oder jemand hat die Notbremse gezogen, weil er auf der Flucht vor der Polizei ist...."
Solche und ähnlich wilde Gerüchte kursierten unter den Fahrgästen.
Sheryll verkniff sich ein verhaltenes Grinsen. Wahrscheinlich war alles halb so schlimm.
Nach einer halben Stunde Aufenthalt auf freiem Feld hörten sie eine Durchsage
des Zugführers:
"Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund eines kleinen Zwischenfalls mussten wir unsere
Fahrt leider kurz unterbrechen. Ein leeres Autowrack hat die Schienen blockiert.
Das Wrack wird bereits entfernt; in wenigen Minuten geht es weiter.
Wir bedanken uns für Ihr Verständnis."
"Ein paar Jugendliche hatten wohl Langeweile", spekulierte eine junge Mutter.
"Ach, dann ist es ja nicht weiter schlimm", schnabbelte eine ältere Tante im Gang.
Sheryll dachte nur trocken: 'Als ob der Zugführer uns gesagt hätte, wenn sich jemand unter den Zug geworfen hätte...' Sie hatte sich jedoch gut genug im Griff, um der älteren Dame noch freundlich und zustimmend zuzunicken. Dann schloss sie die Abteiltür und nahm ihren Laptop wieder auf. Durch Zufall blickte sie auf die Uhr... es würde verdammt knapp werden.
Karl stand auf, reckte sich, und marschierte in die Küche. Er nahm sich ein Stück kalten Braten aus dem Kühlschrank, und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Kein Bier, wenn er Bereitschaft hatte. Die Sonne begann bereits, langsam am Horizont zu versinken. Zufrieden nahm Karl wieder auf seinem Liegestuhl Platz und genoss die milde Sommerluft. Das Radio im Hintergrund dudelte leise Rockmusik, die hin und wieder von Kurznachrichten, Werbung oder kleinen aufmunternden Monologen der Moderatoren unterbrochen wurde.
Herzhaft biss Karl in seinen Braten und spülte mit einem Schluck Wasser nach als ihn das Telefon plötzlich aus seiner entspannten Lethargie riss.
"Hallo?"
"Keine Angst, Kumpel, brauchst nicht arbeiten kommen",
tönte sein Arbeitskollege Thomas gutgelaunt.
"Schon klar", knurrte Karl gutgelaunt, "dann wär auch der Pieper gegangen, kein Telefon."
"Du Fuchs!" scherzte Thomas und wurde dann ernst. "Ich wollte dir auch nur mitteilen, dass dein Urlaubsplan für nächsten Monat in Ordnung geht... hab grad mit Heiner gesprochen. Nur für den Fall, dass wir uns heute doch nicht mehr sehen."
"Bereitschaft geht bis morgen früh, acht Uhr", erwiderte Karl, "und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass eine 24 Stunden Bereitschaft ohne Ereignis vorbeigeht. Hast du von der Zuggeschichte gehört?"
"Ja, hatten sie gerade in den Lokalnachrichten. Kein "Person unter Zug",
wahrscheinlich nur ein Scherz von gelangweilten Jugendlichen. Also keine Arbeit für uns", antwortete Thomas.
"Besser so als anders", erwiderte Karl und grinste. "Aber jetzt stör mich nicht weiter, ich will essen. Und gleich kommt ein Spielfilm den ich unbedingt sehen will."
"Jaja!" lachte Thomas, "schon in Ordnung. Ruh dich mal aus. Wer weiß was heute noch auf dich zukommt!"
Lachend stimmte Karl zu und legte auf. Dann widmete er sich wieder entspannt seinem kalten Braten.
Sheryll hetzte über den Bahnsteig. Durch den ungeplanten Aufenthalt des Zuges war sie nun eine geschlagene Dreiviertelstunde später als geplant am Bahnhof angekommen. Sie hatte nun noch fünfzehn Minuten, um rechtzeitig zur Präsentation zu gelangen.
Sie hatte zwischenzeitlich mit ihrem Handy von Kreutzen angerufen. Er hatte eindringlich auf sie eingeredet, sie solle alles dransetzen, pünktlich zu kommen, aber nicht abgehetzt und kurzatmig erscheinen. Eine schier unlösbare Aufgabe - aber von ihr hing alles ab. Verzweifelt versuchte sie, sich durch die Menschenmassen zu wühlen. Auf dem Bahnhofsplatz angekommen hielt sie Ausschau nach einem Taxi. Ihre einzige Chance, jetzt noch einigermaßen rechtzeitig bei Neftek Business aufzutauchen. Natürlich drängte der
größte Teil der Fahrgäste auch auf den Taxistand zu. Sheryll sah schon ihre Felle davonschwimmen. Dann entdeckte sie ein freies Taxi, einige Schritte von ihr entfernt, und sie lief darauf zu. Doch ein großer Mann hieb ihr - wohl aus Versehen - seine dicke Aktentasche ins Gesicht, gab ihr noch einen Stoß mit der Schulter bis Sheryll taumelte, und ging dann an ihr vorbei um in das freie Taxi einzusteigen.
Sheryll stand wütend auf dem Bürgersteig und schaute dem Mann im Taxi nach. Sie war sauer, und dennoch hielt sie es für ein Versehen. Bis der Mann aus dem Fenster zu ihr sah, sie mit einem fehlenden Vorderzahn dreckig angrinste und ihr obendrein noch den Stinkefinger zeigte. Erbost starrte sie dem ekelhaften Kerl nach. Sie sah aus, als hätte sie eine Prügelei hinter sich. Die Haare waren zerzaust, ihr hübsches Gesicht verkrampft vor Wut, ihre helle Jacke hatte einen kleinen Schmutzfleck.
'Es kann nur noch besser werden', dachte sie. Was ein Tag!
Durch das Hupen eines Autos wandte Sheryll ihre Aufmerksamkeit der anderen Straßenseite zu. Dort stand ein freies Taxi! Sheryll fühlte ihr Blut in den Adern pulsieren als sie das Taxi ins Visier nahm. Sie drehte sich auf dem Absatz um und hetzte auf die andere Straßenseite zu. Sie war so fixiert auf ihre letzte Chance, dass sie nur dunkel die Rufe vernahm, ein aufgeregtes anschwellendes Geräusch der umstehenden Menschenmenge. Doch sie verstand nicht. Sie sah nur das Taxi vor sich. In Gedanken stieg sie schon
ein und raste ihrer Präsentation entgegen.
Mit langen Schritten überquerte sie die Fahrbahn. Im Hintergrund hörte sie einen Aufschrei. Leicht irritiert drehte sie den Kopf.
Plötzlich spürte sie rechts einen schweren Schlag, Reifen quietschten, und das Gemurmel der Menschenmenge verwandelte sich in hysterische Hintergrundmusik. Sie sah nach rechts und blickte direkt in zwei riesige Scheinwerfer. Dann sah sie den Asphalt auf sich zukommen, und es wurde tiefe Nacht um sie.
Hektisch zog sich Karl den Arztkittel über und hetzte durch die Gänge des Antoniuskrankenhauses. Auf dem Weg zur Notaufnahme reihten sich einige Schwestern, Pfleger und andere Ärzte mit ein.
In der Notaufnahme angekommen öffnete sich gerade die Tür des Rettungswagens. "Dr. Bergmann, Sie ist vor einen LKW gelaufen. Schädel-Hirn-Trauma, bewusstlos."
Karl gab in knappen Worten seine Anweisungen. Im Eilschritt wurde die junge Frau Richtung OP geschoben.
Schwester Katharina überprüfte die Personalien. "Sheryll Schneider aus Köln, 28. Ich schau mal ob ich Angehörige finde."
Karl nickte.
'Hübsches Ding', dachte er sich und betrachtete die junge Frau mit den dunklen Augenringen und der Platzwunde am Kopf.
In diesem Moment öffnete sie die Augen und sah ihn direkt an.
"Bleiben Sie ruhig liegen, Frau Schneider. Wir werden Ihnen helfen." Karl griff nach ihrer schmalen Hand.
Sheryll schüttelte stumm den Kopf, wollte etwas sagen. Sie richtete sich leicht auf.
Karl drückte sie zurück. "Entspannen Sie sich."
Sheryll wehrte sich. Krampfhaft umklammerte sie seine Hand. Ein schmales Rinnsal aus Blut lief aus ihrem Mund. Sie bäumte sich kurz auf, sah ihn flehend an. Der Blick ging ihm durch Mark und Bein. Für einen Augenblick bestand ein unlösbares Band zwischen ihnen. Die Welt um sie herum schien nicht mehr zu existieren. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Beruhigend drückte er ihre Hand.
"Ich muss..." hauchte sie. Karl schüttelte den Kopf.
"Sie müssen sich ausruhen. Wir bekommen Sie schon wieder hin." Er lächelte.
Auch Sheryll versuchte zu lächeln.
Dann wurde ihr Körper schlaff.
Nie wieder würde sie lächeln.
Sie war tot.