Als Karl zum Fenster hinaus schaute
Eine Kurzgeschichte von Desiree Schley
Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Doch ehe sie auch nur weiter an ihr Projekt denken konnte, ging ein Ruck durch den Zug. Die Bremsen kreischten, die Menschen schrieen und alles fiel durcheinander. Was war geschehen? Sheryll wurde von einem herunterfallenden Koffer getroffen und verlor das Bewusstsein.
Karl seufzte laut auf und fasste sich plötzlich an den Kopf. Ihm war, als wäre ein schwerer Gegenstand darauf gefallen. Vor seinen Augen schwirrten schwarze und rote Punkte und nur mit Mühe konnte er sich auf den Füßen halten.
Doch warum?
Sheryll wurde ins Krankenhaus in Frankfurt eingeliefert. Der Zug war entgleist, erzählte man der verletzten Frau. Und sie war von herunterfallenden Koffern getroffen worden. Bei der Entgleisung waren die Fensterscheiben zerbrochen und Sheryll wurde aus dem fahrenden Zug geschleudert - ein Umstand, der ihr das Leben rettete.
"Leider wissen wir noch nicht, wann wir Sie entlassen können.", klärte sie der behandelnde Arzt auf. "Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen und wir würden Sie gerne zur weiteren Beobachtung da behalten." Benommen nickte Sheryll und kurz darauf war sie eingeschlafen.
Der Phantomschmerz! Er war ein Hinweis für Karl - das wusste er. Nun musste er nur noch herausfinden, was geschehen war. Schnell setzte er sich in sein Auto, versuchte den stechenden Schmerz zu ignorieren und freute sich auf das bevorstehende Ereignis. Denn etwas Wunderschönes würde passieren.
Seit Karl zwanzig war, hatte er diesen Schmerz und sein Vater hatte ihm damals erklärt, woran das lag und Karl hatte es von ihm geerbt. Er fuhr in die nächste Stadt, denn dort bekam er am ehesten die Informationen, die er benötigte.
Sheryll war inzwischen wieder aufgewacht und ließ die Untersuchungen klaglos über sich ergehen. Keine Hinweise auf schwerere Verletzungen! Nur Prellungen, Schürfwunden und eine kleine Gehirnerschütterung. "Nichts Schlimmes!" meinte der Arzt. Sheryll hätte ihm am liebsten den Mittelfinger gezeigt - sollte er doch ihre Schmerzen auf sich nehmen! "Sie können morgen früh gehen, sollten keine Komplikationen auftreten."
Karl hatte inzwischen herausgefunden, was geschehen war. Ein Zugunglück auf der Strecke Köln-Frankfurt. Es gab nur Verletzte und keine Toten. Ein weiteres Zeichen für Karl - denn nur Lebende konnte man erlösen!
Am Frankfurter Krankenhaus angekommen ging er zielstrebig zur Information. "Guten Tag! Mein Name ist Karl Bräuer und ich bin von der Presse.", stellte er sich vor und zeigte dabei sein schönstes Lächeln. Was ihm nicht schwer fiel, denn Karl lachte eigentlich immer und die Frauen flogen auf ihn. Groß, dunkelhaarig und überaus attraktiv hatte er schon immer leichtes Spiel gehabt.
Für seine Tätigkeit als Erlöser waren diese Eigenschaften jedoch das Wichtigste von allem und dies machte er schon seit über zwanzig Jahren. "Ich würde gerne mit einigen Gästen des Zuges sprechen. Ist das möglich?" Die Krankenschwester wollte erst verneinen, ein Blick in die dunklen Augen von Karl und sie besann sich jedoch eines anderen "Bitte gehen Sie in den dritten Stock. In Zimmer 344 liegt Sheryll Fleuw und sie ist die einzige, die ansprechbar ist." hauchte die junge Frau. Karl lächelte
ihr nochmal zu und drehte sich um. Erfreut dachte er wieder an seinen Erfolg bei Frauen - auch diese hier lag ihm zu Füßen und Sheryll Fleuw, würde seine nächste Erlösung sein - sollte sie eine Kopfverletzung erlitten haben. Denn seinen nächsten Auftrag hatte er an der Burg erhalten - starke Kopfschmerzen bis kurz vor die Bewusstlosigkeit.
Sheryll ging unruhig im Zimmer auf und ab. Ein Arzt hatte sie soeben gefragt, ob sie der Presse Auskunft geben wollte. Wollte sie nicht, aber der Arzt hatte sie fast bekniet. Und sie wollte kein Spielverderber sein. Sie war einfach zu gutmütig. Außerdem ging es ihr nicht gut und deswegen ging sie jeder Diskussion aus dem Weg. Seufzend legte sie sich wieder zu Bett und drapierte die Decke so um sich, dass man ihr scheußliches Krankenhausenachthemd nicht sehen konnte. Gerade rechtzeitig, denn schon öffnete sich
die Tür und der Zeitungsmensch trat ein.
Überrascht hob Sheryll eine Augenbraue und starrte ihren Gegenüber eindringlich an. Er sah gut aus! Genau ihr Geschmack. Prüfend musterte sie ihn von oben bis unten und als sie bemerkte, dass er ihr direkt ins Gesicht schaute, wurde sie rot und stammelte verlegen vor sich hin.
Karl lächelte innerlich über diese kleine Frau. Er konnte nicht viel von ihr sehen, aber was er sah gefiel ihm sehr gut und er freute sich bereits auf seine Tätigkeit. Nur noch ein Tag - dann war es vollbracht.
"Guten Tag! Mein Name ist Karl Bräuer und ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen." Sheryll nickte, sagte jedoch nichts. Noch immer starrte sie ihn an.
Eigentlich war er nichts Besonderes, aber trotzdem! Sie konnte ihren Blick nicht lösen. Er stellte ihr Fragen und Sheryll antwortete, allerdings wusste sie nicht mehr was er gefragt und was sie geantwortet hatte und plötzlich war er weg.
Wie aus einer Trance erwacht schüttelte sie den Kopf und versuchte sich zu erinnern. "Sie sind ja noch gar nicht angezogen," bemerkte eine junge Krankenschwester irritiert. Verwundert schaute Sheryll sie an. "Darf ich denn schon gehen?" "Aber natürlich! Sie haben die ganze Zeit geschlafen und jetzt ist es zehn Uhr morgens. Sie hatten keinerlei Komplikationen und dürfen gehen." Es war ein neuer Tag? Sheryll war perplex. Sie hatte weder mitbekommen wie der Reporter ging, noch hatte
sie die Nacht oder den Morgen bewusst erlebt. Ob sie vielleicht doch schwerer verletzt war? Vorsorglich sagte sie nichts, sondern richtete ihre Sachen und machte sich auf den Heimweg.
Karl lächelte wie so oft still in sich hinein. Noch wenige Minuten und es war soweit. Er herrschte über diese Welt und keiner wusste es. Seit Jahren beherrschte er die Menschen und entschied über Freud und Leid. Am liebsten würde er seine Macht hinausschreien, aber damit würde er sich und seine Macht nur zerstören und das war das Letzte was er wollte! Angespannt und vor Freude erregt saß er in seinem Auto und beobachtete Sherylls Haus. Gestern hatte er sie nach ihrem Wohnort und ihren Gewohnheiten befragt und
er hatte ihr den Befehl gegeben, heute nacht die Tür offen zu lassen bevor sie schlafen ging. Und da er ihre Angewohnheiten kannte, wusste er, dass sie gleich schlafen gehen würde.
Da! Das Licht im Badezimmer wurde gelöscht und dann auch das im Schlafzimmer. Karl wartete noch kurz, stieg aus seinem Auto und schloss leise die Tür. Auch wenn er von Sheryll keine Reaktion erwartete, wusste er nichts über ihre Nachbarn. Zum Glück war es gerade Neumond und die Strassen lagen im Dunklen. Nur vage konnte man Schatten erkennen und Karl schlich sich ins Haus. Die Tür war unverschlossen und er lief die Treppe nach oben. In der Hand hielt er seinen Koffer - darin war sein gesamtes Arbeitsmaterial.
"Hallo Sheryll!", begrüßte er die im Bett liegende Frau. Erschrocken fuhr Sheryll herum und erblickte den Mann. Im ersten Moment erkannte sie ihn nicht und dann sah sie Karl. Doch warum war er hier? Ängstlich schaute Sheryll ihn an, zog sich die Decke bis zum Kinn und versuchte so unauffällig wie möglich aus dem Bett zu kommen. "Was wollen Sie denn hier?" fragte sie verwirrt.
Karl lächelte sie beruhigend an. "Dich erlösen!" Mit diesen Worten öffnete er seinen schwarzen Koffer und was Sheryll darin erblickte, veranlasste sie einen lauten Schrei auszustoßen. Sie sprang aus dem Bett und versuchte ins Bad zu flüchten.
Doch Karl hatte ihre Absicht erkannt und verstellte ihr den Weg und fing sie ab. Lachend nahm er sie hoch und trug sie zum Bett zurück. "Ich tu dir nichts! Denn Erlösung sollst du erfahren!"
"Ich will nicht erlöst werden!" schrie Sheryll hysterisch und wehrte sich verzweifelt. Doch Karl war zu stark und ihre Gegenwehr brachte ihn noch mehr zum Lachen.
"Doch, das weißt du nur noch nicht. ICH bin der Erlöser und ich werde dich befreien - so soll es geschehen!" schrie er plötzlich und warf die geschockte Sheryll aufs Bett. Als sie erneut fliehen wollte, schlug er ihr brutal mit dem Handrücken mitten ins Gesicht. Sherylls Kopf flog nach hinten und knallte an die Wand. Bewusstlos sackte die Frau zusammen. Lächelnd beobachtete Karl sie während er seine Utensilien zusammensuchte - ein langes Seil und ein großes dickes Messer.
Er hob Sheryll hoch als hätte sie kein Gewicht und legte sie ins Bett. Geschickt fesselte er ihre Hände und Füße und dann schnitt er ihr das Nachthemd auf. Er setzte sich vor sie, betrachtete den vollkommenen Körper und wartete bis sie wieder erwachte.
"Was willst du hier? Warum ich?" fragte ihn plötzlich eine leise Stimme.
Er hatte sich so auf ihren Körper konzentriert, dass er ihr Gesicht vergessen hatte.
"Du hast es verdient!"
Mit diesen Worten griff er nach seinem Messer und stand auf. Langsam näherte er sich der Frau. Verzweifelt drehte und wendete sie sich, schaffte es aber nicht, die Fesseln zu lösen.
"Leute wie du sehen mich als Psychopathen, aber die Gläubigen wissen wer ich bin! Nackt kommen wir und nackt gehen wir! ICH BIN DER ERLÖSER!!!" schrie er und stach immer wieder zu...