Drachenaugen töten
© Gitte Kiefer
Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Vor vier Tagen hatte Karl kurz entschlossen einen Flug von Frankfurt-Hahn nach Pisa gebucht. Er wollte einmal raus aus der hektischen Metropole, in der er seit zwanzig Jahren lebte. Nun stand er mit gepacktem Koffer, zum Rückflug bereit, am Hotelfenster und starrte auf den alten, schiefen Campanile, während seine Gedanken und Erinnerungen weit darüber hinaus reisten. In eine Zeit, als er noch ein Mensch ohne Schuld, als sein Leben noch voller Ziele und Träume war.
Sheryll ging während der Zugfahrt gedanklich die nächsten Schritte ihres "Projektes Yvonne" durch. So jedenfalls hat sie, die nicht wirklich Sheryll heißt, ihre Obsession genannt, den Menschen zu finden, der auf brutale Weise das junge Leben ihrer besten Freundin Yvonne, auslöschte. Nach endlosen Recherchen, Befragungen, Analysen in Frage kommender Täter hat sie endlich einen kleinen Hinweis, der Hoffnung macht, der die jahrelangen Wochenendfahrten von Köln, wo sie nun wieder lebt, rechtfertigt. Sie weiß nicht, ob es gelingen wird. Sie weiß nur, dass sie immer wieder fahren wird, bis ihre Projekt, ihre Mission vollendet ist.
Tränen kullerten über die Wangen des grauhaarigen Mannes, während er am Fenster stand und an die schöne Zeit dachte, die er vor zehn Jahren hier mit Karin, der großen Liebe seines Lebens, verbrachte. Er, der Sonderling, der einsame Junggeselle, hatte endlich mit fast vierzig Jahren eine Frau gefunden. Eine tolle Frau. Jung, unbekümmert und anmutig. Ein bildschönes weibliches Wesen, das seine Liebe erwiderte und ihn zum glücklichsten Menschen der Welt machte.
Yvonne und Sheryll waren jung, voller Träume und Lebensgier, als sie damals gemeinsam ihr kleines Dorf verließen, um in der Stadt ihr Glück zu machen. Naiv und gutgläubig mieteten sie gemeinsam ein teures Appartement in Frankfurt, dessen Miete und Nebenkosten fast ihr ganzes Gehalt als Angestellte einer großen Bank verschlang. Das Leben in der Stadt gefiel den beiden Mädels. Keine von ihnen wollte je zurück in die Provinz. Um überleben zu können, arbeiteten beide am Abend abwechselnd als Animierdamen in einer Bar des berüchtigten Bahnhofsviertels. Es war die gleiche Bar. Wenn Yvonne Dienst hatte, war Sheryll zu Hause und umgekehrt. Sie hatten Spaß, konnten sich schöne Kleider leisten und genossen ihr junges Leben. Nach einiger Zeit jedoch begann Yvonne sich zu verändern. Sie wirkte anders, fraulicher und reifer. Ihre Unbekümmertheit wich einer stillen Zufriedenheit. Gleichzeitig wurde sie ihrer Freundin gegenüber immer verschlossener. Sheryll bedrängte sie nicht, wusste aber, dass Yvonne verliebt sein musste. Diese Vermutung wurde zur Gewissheit, als sie an ihrem Hals ein einzigartiges, goldenes Medaillon entdeckte, das auf dem Deckel die Gravur eines chinesischen Drachen trug. Die Drachenaugen waren zwei herrliche, lupenreine Feuertopase. Das Innenleben des Schmuckstückes zierte ein winziges Foto eines dunkelhaarigen Mannes mit markanten Gesichtszügen, der fast wie ein Araber wirkte. Sheryll hatte einmal einen Blick auf das Medaillon geworfen, als Yvonne unter der Dusche war. Sie konnte ihre Freundin verstehen. Diesen Mann hätte auch sie geliebt.
Noch lange hatte Karl weinend am Fenster gestanden. Er wusste, dass er etwas tun musste, seine Schuld zu sühnen. Den einzigen Menschen, der ihm je etwas bedeutete, hatte er getötet. Seine Spuren hatte er verwischen können. Unbehelligt konnte er leben und seine Arbeit tun. Dennoch war es kein Leben mehr. Er war am Ende. Das war ihm klar. Er wollte sich nicht mehr verstecken und war fest entschlossen, zurückzufahren, um sich zu stellen. Heute sah er viele Dinge ganz anders. Damals aber, als er Karin zufällig in der Bar vorfand, die dort als Yvonne mit fremden Männern flirtete, da hatte er beschlossen sie zu töten. Niemals hat er vergessen können, dass sie, sein Engel, seine Königin, ihn so belügen konnte. Er hatte sie auf Händen getragen, ihr viele teure Geschenke gemacht. Eigentlich wollte er mit ihr leben, doch Karin zog es vor, weiter mit Gudrun, ihrer Kollegin aus der Bank, eine Wohnung zu teilen.
Karl und Karin hatten ihre Liebe geheim gehalten. Ihm war klar, dass niemand seine Spur aufnehmen würde. Das Medaillon mit seinem Bild hatte er ihr nach der Tat vom Hals genommen. Er trug es immer bei sich in einem Seitenfach seiner Geldbörse.
Wenige Stunden später saß er im Flugzeug zurück nach Frankfurt, wo er am späten Abend eintraf.
Sheryll war pünktlich am Frankfurter Hauptbahnhof angekommen und hatte bereits im Hotel eingecheckt. Es war nicht weit vom Bahnhof. Man kannte sie dort bereits, da sie seit Jahren immer wieder übers Wochenende kam.
Nachdem sie sich geduscht und geschminkt hatte, wählte sie für den Abend einen eng anliegenden schwarzen Rock, der kurz genug war, ihre langen Beine ins Szene zu setzen. Darüber trug sie eine transparente Chiffonbluse. Die Bluse ließ ihre straffen Brüste mehr erahnen, denn sehen. Eine sehr raffinierte Kombination, die auf Männer Eindruck machte. Sie warf ihren dunklen, wadenlangen Ledermantel darüber, schnappte sich ihre Handtasche und verließ das Hotel.
Nach wenigen Minuten war sie in der Bar, in der sie früher und nun seit drei Jahren wieder an jedem Wochenende arbeitete.
Freundlich wurde sie von ihren Kolleginnen begrüßt. Niemand aus der Zeit, als Yvonne noch lebte, war mehr da. Für alle hier war sie nun Claudine. Es machte ihr nichts aus, auf verschiedene Namen zu hören. Schließlich war ihr wirklicher Name auch nicht Sheryll. Es war in dieser Branche durchaus üblich, sich wohlklingende andere Namen zu geben.
Gegen dreiundzwanzig Uhr betrat Karl die Bar. Zurück in seiner Heimatstadt waren alle seine guten Vorsätze verflogen. Er wollte sich nicht mehr stellen. Warum auch? Hatte die kleine Schlampe es nicht doch verdient, dass er ihr die Lichter ausgeblasen hat? Er war fast wieder sicher, das Richtige getan zu haben. Dennoch hatte er heute jegliche Vorsicht verworfen. Etwas hatte ihn magisch hierher getrieben, das er sich nicht erklären konnte.
Das Interieur war anders. Nichts erinnerte mehr an die Bar, die er früher hin und wieder einmal mit Geschäftspartnern aufgesucht hatte.
An einem großen, erhöhten Tisch in der Mitte des Lokals turnte eine spärlich bekleidete Frau an einer Stange.
Karl nahm an der Theke Platz und bestellte sich einen Whiskey Cola. Neben ihm saß eine Blondine, die eine weiße, fast durchsichtige Bluse trug. Sie gefiel ihm. Bald darauf waren Claudine und Karl in ein interessantes Gespräch vertieft. Auch Claudine war angetan von diesem Fremden, den sie nie zuvor hier gesehen hatte. Irgendwie schien sie ihn zu kennen. Auf Ihre Frage bedeutete er ihr aber, dass er zum ersten Mal in seinem Leben in dieser Bar sei. Sie tanzten, tranken und hatten Spaß.
Einige Zeit später saßen Claudine und Charlie bereits abseits in einer verschwiegenen Ecke und tauschten heftig Zärtlichkeiten aus. Für eine Weile vergaß die junge Frau ihr Projekt und ihren Kummer, vergaß alles, was sie seit Jahren bedrückte. "Dieser Mann könnte mir gefährlich werden", dachte sie benommen von seinen herrlichen Zärtlichkeiten, die sie zum Beben brachten.
Er hatte eine warme Stimme und behandelte sie mit Würde und Respekt. Er war anders, als die Männer, die sonst hier verkehrten. Das spürte sie sofort. Eine spontane Zuneigung zu diesem Mann hatte von ihr Besitz ergriffen.
So beschloss Claudine, Charlie mit in ihr Hotel zu nehmen.
Wie ausgehungerte Tiere fielen sie übereinander her, hatten Sex voller Leidenschaft und Gier. Charlie, der nicht mehr jung war, nahm sie immer wieder mit wilder Kraft, die er langsam drosselte, um dann inne zu halten. Die langen, fast quälenden Pausen heizten sie mehr und mehr an, verstärkten ihre Geilheit ins Unermessliche.
Die Sonne war schon wieder aufgegangen, als Claudine unendlich glücklich auf dem Nachtkasten nach ihren Zigaretten fingerte, während Charlie im Bad war. Sie fand die Zigaretten nicht, warf aber versehentlich Charlies Geldbörse herunter.
Als sie sich danach bückte, blinkte ihr etwas entgegen. Es waren die Topasaugen eines chinesischen Drachens. Vor ihr lag das Medaillon ihrer toten Freundin Karin, die alle Yvonne nannten.
Einen Moment lang war Sheryll wie versteinert. Aus weiter Ferne hörte sie Charlie aus dem Bad rufen: "Schatz, wann sehen wir uns wieder?"
Sheryll hatte ihren kleinen schwarzen Revolver aus der Handtasche genommen und stand bereits vor der Badezimmertür.
"Du kannst mich Gudrun nennen. Ich schätze, wir werden uns niemals mehr sehen", entgegnete sie.
Dann trat sie ein, um ihr Projekt zu vollenden.
Eingereicht am 07. April 2006.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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