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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Veränderungen

© Sylvia Thomas


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Der ICE hatte an diesem Tag enorme Verspätung. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass aus den 77 Minuten mittlerweile sagenhafte 666 Minuten wurden! Kein gutes Omen seinen ersten Arbeitstag zu spät zu beginnen ….
Die Ruhe, die Karl beim Anblick der alten Stadtkirche empfand, legte sich wie Balsam auf seine ständig gereizten Nerven. Vor ein paar Tagen hätte er die Sonnenstrahlen, die sich in den bunten Fenstern spiegelten und die die schönsten Spektralfarben auf seinen Schreibtisch zauberten, nicht einmal gesehen. Doch nun hatte er eine Entscheidung getroffen. Keine leichte, zugegeben. Wer ändert schon gern sein komplettes Leben und sieht freiwillig einer ungewissen Zukunft entgegen? Er hatte es getan. Letzte Woche quittierte Karl seinen Dienst und war bald frei wie ein Vogel.
Eine letzte Amtshandlung, dann würde er sich Psychopaten nur noch mit einer Bierflasche in der Hand vor dem Fernseher widmen. Ein herrliches Gefühl!
Karl nahm die letzte verbliebene Akte, lehnte sich gelassen in seinem Schreibtischstuhl zurück und legte die Beine auf den Schreibtisch. Der letzte Fall seiner unglaublich steilen, aber kurzen Karriere lag in seinen Händen. Einen kleinen Augenblick dachte er sogar daran, diesen angefangenen Fall seiner Nachfolgerin Sheryll zu überlassen. Wäre da nur nicht dieses verflixte Pflichtbewusstsein, dessen er sich nicht so schnell entledigen konnte.
Wie hypnotisch angezogen, lenkte Karl seinen Blick immer wieder auf die bunten Lichtbrechungen auf seinem Tisch, weg von der Akte in seiner Hand. Plötzlich verschwand das Licht und Karl fühlte ein übermächtiges Bedauern - beinahe wie einen Verlust. Im Zimmer wurde es schlagartig dunkler. Die Sonne verschwand hinter dem Kirchturm. Karl setzte sich auf. Zeit, um zu arbeiten. Nur noch heute, nur noch dieser eine Fall. Karl schlug die Akte auf. Er blickte in starre, leere Augen, sah bläulich schimmernde Male in einem schwammig aufgedunsenen Männergesicht, das mitten auf der Stirn eine kreisrunde Vertiefung aufwies. An den Rändern der Wunde sah Karl scharfe, verkrustete Kanten. Das Opfer Ernst Güstrow wurde erschossen - glatter Durchschuss auf geringe Entfernung. Die Tatwaffe, das Gewehr des Jägers, lag neben dem Tatort. Normalerweise sollten diese Bilder Abscheu in einem Menschen hervorrufen. In Karl regte sich bei diesem Anblick nichts. Auch dies war ein Grund, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Doch ausschlaggebend waren letztendlich nur diese Träume ….
Träume sind Schäume, heißt es. Karls Träume waren Tornados. Sie fegten durch seine Nächte wie Blizzards und hinterließen in seiner Seele eine Trümmerlandschaft. Wenn Karl die Augen schloss, konnte er sie sehen, die zerfetzten Körper, abgetrennte Gliedmaßen, Leichen, wie aus einem Wachsfigurenkabinett. Das war wohl der Preis, den er als begnadeter Kriminalpsychologe für das Wohl der Allgemeinheit zahlte. Aber er hatte genug gezahlt. Alles Grauenvolle lag nun hinter ihm.
Wenige Stunden später machte sich Karl allein auf, um die Nachbarn des Opfers zu befragen - unauffällig, wie ein Schwatz über den Gartenzaun. Und richtig: Keiner schien sein auffälliges Interesse zu bemerken. Alle antworteten ausführlich und erzählten ihm die haarsträubendsten Geschichten.
Keiner schien unglücklich über den Tod des Nachbarn zu sein.
"Wissen sie", hörte er die alte Hertel berichten. "endlich haben wir Ruhe vor diesem Lump. Wie er seine Frau und die Kinder behandelt hat! Ich kann ihnen sagen. Ich hätte ihm wahrscheinlich schon lange den Hals umgedreht, wenn ich die arme Frau wäre. Trotzdem, eine schreckliche Geschichte. Nicht war? Und das in unserem kleinen friedlichen Dorf."
Klein und friedlich, von wegen!
Auf seine Nachfolgerin Sheryll hatte er nun lang genug gewartet. Sie kam nicht. Sicher hatte ihr altes Projekt, eine gemeinnützige kinderpsychologische Betreuung, sie aufgehalten. Eine kleine Notiz mit seinem Aufenthaltsort hatte er auf dem Schreibtisch, der nun ihr Schreibtisch war, hinterlassen. Er wollte ein Kapitel seiner Lebensgeschichte schließen und zwar sofort.
Karl nahm sich vor, die Witwe und ihre Kinder zu besuchen.
Der Obduktionsbericht war nicht eindeutig: Tod durch Erschießen oder Erwürgen.
Wer kam da in Frage? Der verhaftete Walter: Er hätte sicher die körperliche Kraft gehabt. Keine Skrupel auch. Vorstrafen hatte er genug. Aber sein Motiv war doch sehr vage. Das Opfer hatte bei ihm Schulden. Die paar Kröten taten ihm sicher weh. Aber deswegen gleich jemanden ermorden?
Dann war da der Jäger. Er hatte zweifellos geschossen - und auch getroffen. Aber er hatte kein Motiv. Der arme Kerl stand jetzt noch unter Schock, der zweifelfrei nicht gespielt war!
Wer kam sonst noch in Frage? Fast alle Bewohner hatten berichtet, wie brutal das Opfer gegen seine Saufkumpane und seine Familie vorging.
Die Suffköpfe klammerte Karl für sich erst einmal aus.
Die Familie kam ihm kam verdächtigsten vor. Sie hatten alle einen stichhaltigen Grund, das Opfer tot zu sehen - jedenfalls wenn er der den Befragten Glauben schenken konnte.
Die Vernehmungsprotokolle zeichneten das Bild einer trauernden Frau mit erwachsenen, unselbstständigen Kindern. Beängstigend wenig war zu lesen. Die üblichen Fragen. Plausible Antworten. Mehr nicht. Kein Wort von Misshandlungen oder körperlicher und seelischer Gewalt.
Karl beschloss die Witwe und die Kinder noch einmal zu besuchen. Von Sheryll noch immer keine Spur.
Es war gegen siebzehn Uhr, als Karl an dem verfallenen Haus ankam. Die Läden hingen schief, Sperrmüll lag verstreut im ganzen Garten umher. Insgesamt hinterließ das Grundstück einen sehr ungepflegten Eindruck. Kein Wunder. Das Opfer hatte ja auch jeden Cent in die Kneipe getragen.
Karl ging langsam durch den Garten zum Haus. Er versuchte, seine Sinne anzustrengen, um einen Eindruck von dem Leben hier zu gewinnen. Er berührte die verrostete Badewanne, hob einen vertrockneten Blütenkelch hoch und versuchte vergeblich das Zwitschern der Vögel zu vernehmen. Alles strahlte Kälte und Verwahrlosung aus. Jedes Leben schien aus dem Haus gewichen. Zweifellos war er hier richtig. Einen Augenblick verschwendete er an einen Gedanken, dass er laut Vorschrift nicht allein die Befragung durchführen durfte. Aber was waren schon Vorschriften? Das war sein letzter Fall. Und er wollte ihn schnell zu Ende bringen.
Als er klopfte, beschleunigte sich sein Puls. Es ist falsch, was du hier tust, hämmerte es in seinem Gehirn. Und hätte er zur Feier des Tages nicht schon am Nachmittag drei Wodkas getrunken, womöglich hätte er auf dieses Alarmsignal gehört.
So öffnete sich ächzend die Tür einen Spalt und ein Auge blickte heraus. Es gab kein Zurück mehr. "Ja?"
"Hallo, Frau Güstrow." Zur Vorsicht zeigte er seinen Ausweis des BKA. Offizielle Dokumente öffneten Tür und Tor. "Mein Name ist Bissinger. Karl Bissinger. Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen."
"Warum?", vernahm er eine Stimme hinter der Tür. Noch immer konnte er nur das Auge erblicken. "Ihr wart doch schon da. Was wollt ihr noch?"
"Nur Routine, Frau Güstrow. Wir haben da noch ein paar Dinge vergessen." Sein sanfter Ton beruhigte selbst Schwerverbrecher. Irgendjemand hatte ihm einmal gesagt, er hätte Märchenonkel werden sollen. Seine Stimme sei hypnotisch.
Kurz darauf öffnete sich knarrend der Hauseingang.
Eine kleine Frau mit tiefen Falten im Gesicht ließ ihn herein und schloss die Tür hinter Karl. "Kommen Sie.", forderte sie ihn auf und schlurfte voraus.
Er ging durch einen schmutzigen Flur. Das alte Gerümpel gehörte schon seit Jahren auf den Schrott. Eine dicke Schmutzschicht lag über den Möbeln. Karl war in großer Versuchung, seine Handschuhe überzustreifen. Im Privatleben war Karl pedantisch sauber. Das kam sicher daher, dass er beruflich so viel im Dreck wühlen musste.
Die Witwe saß ihm nun an dem grob gehauenen Küchentisch gegenüber. Sie bot ihm einen Kaffee an, den er dankend ablehnte. Keinen Schluck hätte er in dieser Höhle herunterbekommen!
"Frau Güstrow, ich möchte ihnen zunächst mein aufrichtiges Beileid zum Ableben ihres Mannes aussprechen.", begann Karl geschraubt. Er versuchte, sich einen Eindruck von der Frau zu verschaffen. Schlampig? Ja. Aber auf Ordnung legte wohl keiner der Bewohner großen Wert. Verängstigt - auf jeden Fall. Sie sah ihn an, wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen war. Wovor fürchtete sie sich? Vor Entdeckung? Möglich.
"Danke", hauchte sie kaum hörbar.
Plötzlich traten noch zwei Gestalten in den Raum und setzten sich unaufgefordert an den Tisch. Die Frau war offensichtlich die Tochter Isolde. Die Ähnlichkeit mit der Mutter war frappierend. Das jüngere Abbild. Aber auch schon in ihre Haut hatten sich vorzeitig Falten eingegraben.
Der junge Mann, wohl der Sohn Paul, war nur wenig älter, groß und kräftig. Aber seine Augen blickten genauso leer wie die der anderen Familienmitglieder.
In Karl machte sich ein Gefühl des Mitleids breit. Schnell verdrängte er dies. Es war unprofessionell und konnte den Blick für das Wesentliche trüben.
Die Witwe saß in ihrer übergroßen schwarzen Kleidung, die sie noch erbärmlicher wirken ließ, am Tisch und betrachtete aufmerksam ihre Hände.
Auch jungen Erwachsenen saßen kerzengerade da, die Hände brav auf den Tisch gelegt, der Blick starr geradeaus.
Karl räusperte sich. Ihm steckte ein dicker Kloß im Hals. Seine Antennen witterten Gefahr. Unprofessionell - das war das Einzige, was ihm zu seiner Aktion hier einfiel. So etwas durfte nicht einmal einem Anfänger passieren. Man ging nicht einfach ohne entsprechende Rückendeckung in das Haus eines Verdächtigen. Aber nun war er schon einmal in dieser vertrackten Situation: nun Augen zu und durch. "Also, weshalb ich gekommen bin: Meine Kollegen haben ihnen ja schon genügend Fragen gestellt. Was mich interessiert, ist ihr Verhältnis zu dem Toten. Ich habe gehört, er hätte sie geschlagen …?", begann er vorsichtig.
Noch immer starrte die Alte auf ihre ungepflegten Hände. Man hätte eine Stecknadel fallen hören, so still war es. Keiner schien zu atmen, nicht die Kinder, nicht die Witwe. Kein Vogelzwitschern durch die halb offenen Fenster, nur muffiger abgestandener Geruch, dämmriges Licht und absolute Stille.
Karl war nicht gewillt, die Stille zu durchbrechen. Seine Nerven waren gestählt durch jahrelange Erfahrung und Training. Dann ein hörbares Schlucken der Alten.
"Ja, das stimmt schon. Der Ernst war aber sonst ein guter Mann. Das müssen Sie mir glauben. Er hat das nie mit Absicht gemacht. Nur wenn er betrunken war."
"Ja, natürlich." Ein bisschen Sarkasmus konnte sich Karl nicht verkneifen. Verdammt, er hätte nichts trinken sollen. War er völlig verrückt geworden? Er trank nie im Einsatz.
"Und wie steht es mit ihnen Fräulein Güstrow?", sprach er das Mädchen an. "Hat sich ihr Vater an ihnen vergriffen?"
"Ich weiß nicht, was sie meinen." Zu schnell. Eindeutig zu schnell. Sie sah ihn noch immer nicht an. Sie hatte den Blick auf ihre Hände gesenkt. Genau wie die Mutter.
"Ich denke, das wissen sie. Sexuelle Handlungen. Hat ihr Vater sexuelle Handlungen an ihnen vorgenommen?" Vermutungen. Bluff. Hatte er sich zu weit aus dem Fenster gelehnt?
Erschreckt blickte sie auf und wieder erinnerte Karl dieser Gesichtsausdruck an ein verschrecktes Reh. "Wie bitte? Das dürfen sie nicht denken. Niemals darf das jemand denken. So etwas tut man nicht."
"Nein", stimmte Karl zu. "So etwas tut man nicht. Es ist ein Verbrechen und es wird mit Recht hart bestraft."
"Sicherlich. Wenn sie das sagen."
"Sind sie verheiratet? Haben sie eine feste Beziehung? Hatten sie je eine feste Beziehung?"
Wieder diese verschreckte Mimik. Himmel, wo bin ich hier hingekommen?
"Nein."
"Und warum nicht? Sie sind doch nicht hässlich."
"Vater hätte es nicht erlaubt."
"Und weshalb?"
"He?"
"Ich frage weshalb! Jeder Vater wünscht sich, seine Tochter zu verheiraten, Enkel zu haben. Das wäre normal."
"Vater war nicht so."
"Und wie war er?"
"Anders."
"Offenbar. Weil er sie belästigt hat?!"
"Sie drehen mir das Wort im Mund um!"
"Oh nein, junge Frau." Karl spürte Wut in sich aufsteigen und Triumph. Sie saß in der Falle. Gleich würde die Falle zuschnappen. Es war einfach. Zu einfach! Das hätten doch seine Kollegen ebenfalls in Erfahrung bringen können. Warum hatten sie das nicht?
"Ich bin es nicht gewesen!"
"Nein, sie waren es nicht. Auch nicht ihre Mutter. Sie haben gar nicht die Kraft dazu." Spürbares Aufatmen. "Aber ihr Bruder hat sie.", wandte sich Karl an den jungen Mann, der mit unbewegtem Gesicht, die Unterhaltung angehört hatte. Wenn Karl es nicht besser wüsste, er hätte ihn für taub gehalten.
"Und Herr Güstrow, was haben sie dazu zu sagen?"
"Nichts. Sie können mir nichts beweisen." Kaltblütig. Der erste Eindruck war meist der richtige. Noch immer saß der junge Mann stocksteif da.
Langsam wurde es dunkel im Zimmer. Die Sonne ging unter, nasse Kälte herrschte im Gemäuer. Aber die Bewohner schienen nichts davon zu merken.
"Entschuldigung. Könnten sie das Licht anmachen?" Karl wollte Licht, Helligkeit, Wärme um sich haben.
"Nein." sagte die Mutter mit einer festen Stimme, die Karl ihr niemals zugetraut hätte. Die Stimmung im Raum hatte sich blitzartig geändert.
Karl schien er sich verhört zu haben.
"Nein? Warum nicht?"
"Sie verdächtigen meinen Sohn. Er ist ein guter Junge. Er hat seinem Vater nichts getan."
"Nein, er hat ihn nur umgebracht." Wieder Sarkasmus. Das schien zu Gewohnheit zu werden.
"Hat er nicht. Ich haben meinen Mann auf dem Gewissen." Karl glaubte sich verhört zu haben. Hatte die Alte gerade ein Geständnis abgelegt?
"Sicher nicht, gute Frau. Ich sagte schon, es gehört eine große körperliche Kraft dazu. Und wir gehen davon aus, dass das Opfer sich gewehrt hat. Sie hätten es niemals mit ihrem Mann aufnehmen können."
Hilflos sah die Mutter ihre Kinder an. Die Kinder schauten die Alte an. Ein geheimes Einverständnis schien zwischen den Dreien zu herrschen. Karl fühlte sich ausgeschlossen.
"Was ist nun?", wurde er ungeduldig. "Wollen Sie bei ihrer Aussage bleiben? Dann werde ich sie alle mitnehmen müssen.", versuchte er die Drei aus der Reserve zu locken.
"Es nützt nichts.", sprach die Mutter mit fester Stimme. "Sie haben mich. Ich komme freiwillig mit und lege ein Geständnis ab."
"Nein, Mutter", mischte sich die Tochter ein. "Wir hängen da alle mit drin. Ich werde dich nicht gehen lassen."
Aha, wir kommen der Sache näher, dachte Karl.
"Sie hat Recht. Ich habe es getan, Mutter. Und ich werde mitgehen. Freiwillig. Ich werde ein Geständnis ablegen.", sagte diesmal der Sohn. Womit er schon der Vierte, einschließlich Walter, im Bunde der Mörder wäre, dachte Karl.
"Den Teufel werden wir tun. Für dieses Scheusal gehen wir nicht in den Knast." Die Mutter schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass alle zusammenzuckten. Auch Karl. Nein, soviel Entschiedenheit hätte er ihr im ersten Augenblick wirklich nicht zugetraut.
"Es tut mir leid." mischte sich Karl in das Gespräch. "Ich werde sie wohl alle mitnehmen müssen. Auf der Wache werden wir klären, wer nun den Mord begangen hat."
"Nein.", polterte der junge Mann. "Das werden wir nicht." Überrascht schauten ihn sechs Augenpaare an.
"Was soll das, Paul?", flüsterte die Mutter.
"Wir werden nicht in den Bau wandern. Es war richtig, was ich getan habe."
"Du wirst nicht allein die Schuld auf dich nehmen."
"Keiner wird die Schuld auf sich nehmen, Mutter. Dieser Kerl vom BKA ist allein hier. Überleg` doch mal! Alle anderen sind schon lange weg und haben den Walter eingebuchtet. Wer weiß, wie der dazu gekommen ist, noch mal hier aufzukreuzen. Ich wette, keiner dieser Trottel hat einen blassen Schimmer, wo dieser Bulle steckt. Also werden sie ihn hier auch nicht suchen. Verstehst du?"
Sie reden, als ob ich nicht hier wäre, dachte Karl und erkannte die Gefahr. Er versuchte schon, mit dem Rücken zur Tür zu kommen, um schnell den Rückzug antreten zu können.
"Halt, hier geblieben, Kommissar. So leicht entkommen sie uns nicht. Sie halten sich wohl für besonders schlau, was? Sind sie aber nicht."
Stimmt, dachte Karl. Er hat Recht. Das Ganze hier war von Anfang an eine Farce.
Der junge Güstrow hielt ihn an seinem Ärmel fest. Er war Karl zweifelsohne kräftemäßig überlegen. Aber ganz ohne Gegenwehr wollte sich Karl nicht fangen lassen. Er versuchte zu entkommen, was ihn nur einen gewaltigen Hieb in die Magengrube einfing. Karl krümmte sich vor Schmerz und hatte seine Not, sich auf den Beinen zu halten. "Verdammt.", entfuhr es ihm, bevor ihn ein Hustenanfall quälte. Er fühlte sich, als hätte man sein Innerstes nach Außen gestülpt.
"Ja, da haben sie ganz recht. Das hätten sie Schlaukopf sich wohl nicht träumen lassen. Sie bleiben schön hier, bis wir entschieden haben, was wir mit ihnen machen werden. Los komm schon, vorwärts!"
Der junge Mann schubste Karl voraus, der vergebens versuchte, sich zu wehren. Aber schon der Hieb in die Magengrube hatte ihm einen Großteil seiner Kräfte geraubt.
Zwischen dem ganzen Sperrmüll fand sich unter der Treppe eine versteckte Tür, die in einen Keller führte. Karl wurde die dunkle Treppe hinunter geschubst. Es war stockdunkel. Vorsichtig tastete er sich mit dem Fuß vorwärts, um nicht zu fallen. Doch es schien Paul Güstrow nicht schnell genug zu gehen. Wieder ein Tritt in die Nierengegend und Karl fühlte den Boden unter sich schwinden. Langsam, wie in Zeitlupe, fühlte er sich ins Bodenlose fallen. Er wartete auf den Schmerz beim Aufprall, der ewig auf sich warten ließ. Eine schwarze Grube, scheinbar ohne Grund.
Dann war er plötzlich da - der Aufprall. Sein Körper knallte mit voller Wucht gegen irgendetwas Hartes, das er nicht sehen konnte. Aber egal was es war, er fühlte sich, als ob sein ganzer Körper nur noch aus Schmerz bestände.
Plötzlich und unerwartet überfiel ihn, da er nun regungslos am Boden lag, ein Gefühl der Furcht - und eine unheimliche Verwunderung darüber. Natürlich kannte er Angst. Schließlich war er auch einmal klein gewesen. Ja, als Kind hatte er sich ab und zu gefürchtet. Aber dieses Gefühl hatte er seit er erwachsen war, nicht mehr gehabt. Noch nie hatte er in seinem Beruf Angst verspürt. Grauen, das ihm die Nackenhaare einzeln hervorstehen ließ - ja. Ekel, das ihn würgte, auch. Nur nie nackte Angst. Die bloße Panik, einer Situation nicht gewachsen zu sein. Nein, nie. Immer hatte er sich auf seine Partner verlassen können. Wortlos hatten sie sich verstanden und auch in den brenzligsten Situationen aufeinander bauen können.
Aber das hier war etwas anderes. Da war niemand, der mit gezücktem Revolver hinter der Tür stand. Er hatte nicht einmal die Aussicht auf Hilfe.
Ein flackernder Lichtschein kam die Treppe herunter. War das nun gut oder schlecht?
"Mensch, Junge, du hast ihn `runter geschmissen. Er regt sich nicht. Sieht aus, als wäre er tot." Vorsichtig kam die Alte mit einer Kerze in der Hand näher.
Karl regte sich nicht. Er hatte das Gefühl, jeden Knochen in seinem Leib gebrochen zu haben. Jeder Atemzug bedeutete Schmerz. Nein, er konnte sich nicht einmal gegen die Alte wehren. Er war denen hier bedingungslos ausgeliefert.
Sie kam immer näher heran. Er spürte ihren ekelhaften Atem, der nach abgestandenen Rauch und billigem Fusel roch und ihm zu einem Würgereiz verhalf. Normalerweise hätte ein Tritt genügt, die Alte außer Gefecht zu setzen. Später, sagte sich Karl. Später, erhol dich erst ein bisschen.
"Bis du verrückt Mutter?" Die Alte wurde zurückgerissen. "Bleib fern. Wenn er doch noch ganz gut beieinander ist, kann er dir sonst was tun."
"Der sieht nicht so aus."
Nun beugte sich der junge Mann vor. "Nein, ich glaube, der hat für den Augenblick genug. Ist auch von da oben runtergekippt." Er lachte. "Aalglatt. Ich glaube, das ist an die vier Meter tief. Der hat erst mal genug. Aber es ist trotzdem besser, wir fesseln ihn."
"Das wird nicht reichen." Die Tochter Isolde meldete sich zu Wort.
"Warum nicht? Glaub mir, wenn ich die Fesseln festziehe, entkommt der nicht."
"Schaust du kein Fernsehen? Die entkommen immer. Da ist ein zerbrochenes Glas, wenn wir nicht mehr da sind oder eine Säge. Irgendwie entkommen die immer. Wir müssen auf Nummer sicher gehen."
"Und, was schlägst du vor?"
"Fesseln und ausziehen!", meinte sie achselzuckend, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Paul schüttelte sich vor Lachen. "Schwester, das ist abartig."
"Mag sein, aber wirkungsvoll bei der Kälte. Da geht der sicher nicht freiwillig raus."
"Ich glaube, der Kerl hat Recht." Paul Güstrow lachte noch immer. "Du hast einen Mann wirklich bitter nötig. Also gut, ich fessle ihn, dann gehört er dir."
Nicht gut, gar nicht gut. Nacktes Grauen erfasste Karl. Fesseln gut und schön. Aber als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, wollte man ihn nackt in diesem kalten Keller verrotten lassen? Und das noch im günstigsten Fall. Was der Tochter so mit ihm vorschwebte, daran wollte Karl lieber gar nicht denken.
Verzweifelt versuchte er wieder Leben in seinen geschundenen Körper zu bringen. Es musste ihm gelingen, von hier fort zu kommen. Er war noch nicht bereit zum Sterben. Er war noch keine vierzig, hatte noch nicht einmal eine eigene Familie, geschweige denn Kinder! Und sich von diesem Ungeheuer schänden lassen, gehörte sicher nicht zu seiner Lebensplanung!
Bis vor kurzem hatte er gedacht, es könnte nicht schlimmer kommen, ja sich sogar selbst bemitleidet. Sein eiserner Wille war ihm Mord für Mord von unsichtbarerer Hand genommen worden, und er fühlte sich seiner Tatkraft beraubt.
Doch mit einem Schlag kehrte alles wieder. Sein Wille zu überleben, seine Energie, sich nicht dem ungewissen Schicksal zu ergeben, sein Ehrgeiz immer und in jeder Situation das Beste zu geben.
"He, er bewegt sich.", stellte die Mutter fest. "Los Paul, mach ihn fest."
Karl konnte nicht, so verzweifelt er es auch versuchte, gegen Paul Güstrow ankommen. Er wurde, wie es die Tochter gewünscht hatte, seiner Kleider entledigt und auf einem Stuhl festgebunden. Seine Beine wurden wie die Ranken einer Kletterpflanze um die Stuhlbeine gewunden. Diese Stellung verursachte ihm schlagartig unerträgliche Krämpfe, gegen die er sich nicht wehren konnte. Ein Brüllen, wie das eines verwundeten Tigers, brach aus seiner Brust.
Trotz des dämmrigen Lichtes, das die einzige kleine Kerze warf, glaubte Karl Isoldes lüsternen Blick auf seinem nackten Körper spüren zu können. Im Schein der Kerze sah er ihre teuflisch glänzenden Augen, als sie sich mit ihrer feuchten Zunge über die dünnen Lippen leckte.
Mein Gott, hundertfach hatte er sich mit Vergewaltigungsopfern, meist Frauen, hingesetzt, mit ihnen stundenlang geduldig geredet, immer wieder ähnlich lautende schreckliche Berichte gehört. Immer mit einer gewissen professionellen Distanz. Es brachte nichts, sich mit Opfern zu identifizieren. Es machte kaputt. Und er wäre nie in der Lage gewesen, zu helfen. Nun war er derjenige, der als Opfer dienen sollte. Eine für ihn ungewohnte Situation. Eiseskälte kroch in ihm hoch, die gewiss nicht nur von den unterkühlten Temperaturen im Keller stammte.
"Und was nun?", fragte die Mutter.
Peng! Ein Tropfen klatschte ihn auf die Stirn. Verwundert schaute er auf und sah ein verrostetes Rohr, an dem sich schon ein neuer Tropfen eiskalten Wassers bildete. Als ob seine Lage nicht schon schlimm genug wäre!
"Wir lassen ihn erst einmal hier. Was schaust du mich so an?", fragte Paul. "Das Ganze war nicht geplant. Alles wäre glatt gelaufen. Aber erst kam dieser dämliche Förster daher, so dass ich verschwinden musste und dann dieser Kerl. Wir können ihn nicht laufen lassen. Er würde alles ausplaudern und ich wäre geliefert!"
"Aber es war doch Notwehr. Du hast doch nur ein klein wenig zu fest zugedrückt!", mischte sich Isolde ein.
"Schwesterherz! Du bist die dämlichste Kuh, die es gibt. Glaubst du wirklich, mir würde das jemand abkaufen?"
Das war Karls Stichwort. Jetzt war der Diplompsychologe in ihm gefragt. Jetzt würde sich zeigen, ob die Auszeichnungen an seiner Wand zu Recht da hingen!
"He, Paul.", sprach er ihn an. Es schien, als hätten die Drei seine Anwesenheit völlig vergessen. Peng, wieder ein Tropfen. Verdammt. "Warum sollte ich oder die Polizei ihnen nicht glauben? Ich bin sicher, dass sie kein Krimineller sind. Ihr Vater war ein schlimmer Mann, der den Tot verdient hatte. Aber sie haben all die Jahre nichts dergleichen getan. Warum jetzt? Was ist passiert?"
"Halten sie den Mund da hinten! Sie scheinen völlig ihre Lage zu vergessen. Nur ein Zucken von mir und sie sind ein toter Mann!" Er schnipste vor Karls Augen mit den Fingern.
"Es interessiert mich wirklich, Paul. Was ist passiert? Hat er sie oder ihre Mutter oder ihre Schwester wieder angefasst? Hat er sie geschlagen? Warum? Wie ist es dazu gekommen?"
"Hören Sie auf! Sie wissen gar nichts von meinem Vater! Nicht das Geringste."
"Paul, hör auf, was machen wir jetzt?", mischte sich die Mutter ein. Verdammt, Karl musste das Gespräch in seine Richtung bringen. Nur ein völliger Zusammenbruch dieser Familie konnte ihn retten.
Peng! Wieder ein Tropfen. Mist, das tat weh! Und diese unerträglichen Krämpfe in den Beinen. Lange würde er das nicht aushalten!
"Keine Ahnung, ich habe auch nicht mehr Erfahrung als du damit."
"Komm, gehen wir hoch.", hörte er Isolde teilnahmslos sagen. "Mir ist kalt."
"Ja, wir können auch oben weiter beraten. Aber stopft ihn irgendwas ins Maul, damit er nicht schreit. Wer weiß, wer hier noch in der Gegend rumlungert.
"Nein, gehen sie nicht.", hörte Karl sich schreien. Panik stieg in ihm auf! "Wir können doch über alles reden. Ich bin sicher, wir finden eine Lösung!"
"Ach ja? Mister Kriminaloberkommissar oder was auch immer sie sind? Ihre Spürnase hat wohl kläglich versagt, was?" Pauls ekliger Atem streifte Karls Wange und er musste sich abwenden.
"Ich bin kein Kommissar, Paul. Ich bin Psychologe. Und ich kann ihnen helfen. Ich weiß es. Reden sie mit mir. Sagen sie mir, was vorgefallen ist!"
Wieder dieses abstoßend grässlich höhnische Lachen, bevor Paul ihm einen alten Lappen in den Mund stopfte.
"Ein Seelenklempner! Nicht zu fassen! Was die heutzutage alles bei den Bullen nehmen. Ein Seelenklempner, ha, ha, ha!"
Sein Lachen entfernte sich und Karl würde übel. Er bekam keine Luft und war der Verzweiflung nahe.
Mit Paul und den Rest der Sippe hatte sich auch jedes Licht entfernt. Nur schwarze Dunkelheit umgab ihn. Er hörte das Patschen der Tropfen in seinem Gesicht und spürte die kalte Brühe über seine Wangen und über die Nase laufen. Er erwartete den nächsten Tropfen, der sich wie tausend kleine Nadeln in seine Kopfhaut vergrub.
War es nicht nur das Wasser aus der Leitung, das unaufhörlich über sein Gesicht lief? Verwundert spürte er Tränen auf seinen Wangen brennen. Salzige Tränen. Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal geweint hatte. Vergebens. Es war zu lange her.
Karl konnte sich nicht rühren. Sein unnatürlich verkrampfter Körper war zu keiner Regung fähig. Verzweifelt versuchte er mit der Zunge, den Lappen aus dem Mund zu stoßen. Aussichtslos. Durch die Nase atmen, Karl, befahl er sich. Atme durch die Nase! Warum reagierten seine Organe nur nicht auf seine Befehle? Das war's, dachte Karl. Du stirbst und das bei deinem letzten Einsatz. Sei froh, wenn du gleich erstickst. Mit einer Heidenangst erinnerte er sich an die abstoßende Leidenschaft in den Augen der Tochter!
Peng! Weder ein Tropfen! Er wurde wahnsinnig. So fühlte es sich also an!
Karl wurde kalt. Immer kälter. Das Blut schien in seinen Adern zu gefrieren. Jegliches Zeitgefühl entglitt ihm, aber seine Sinne waren eigenartigerweise noch immer auf Äußerste geschärft.
Er hörte das Klatschen der Tropfen auf seinem Gesicht, das Scharren und das leise Piepsen der Mäuse, die ihm zeigten, dass er doch nicht ganz allein war. Dann das schrecklich laute quietschende Geräusch, das Ratten verursachten, wenn sie sich um Nahrung stritten. Sie schienen näher zu kommen. Ob sie sich ihn, den Menschen, schon als potentielle Nahrungsquelle aussuchten?
Karl fühlte die kalte Suppe im Gesicht, die sich langsam über seinen Hals, dann über seinen Bauch bis hin in den Schoß ergoss. Er spürte das Brennen der Tränen, die er nicht zurückhalten konnte. Er fühlte den kalten Boden unter seinen Füßen und spürte das splittrige Holz des alten Stuhls unter seinem Körper, dessen kleine Späne sich unter seine Haut bohrten, juckten und brannten.
Stockfinstere Nacht. Kein Licht. Und auch keine Hoffnung mehr. Könnte er sich bewegen, nicht einmal die Hand vor Augen hätte er gesehen. Ob man ihn je finden würde?
Er schmeckte das alte Öl des Lappens in seinem Mund, sein Speichel wurde mehr und mehr, konnte sich nicht nach außen ergießen, wollte aber mit Öl versetzt, nicht wieder in seinen Magen. Ein Würgen erfasste ihn. Er kämpfte dagegen. Aber es half nichts. Erbrochenes spitzte Karl aus den Mundwinkeln, hinab über den Hals, aber der Lappen drückte unentwegt den Großteil wieder zurück in den Magen, was diesen nur zu neuerlichem Würgereiz veranlasste.
Wie lange saß er schon da? Minuten? Sunden? Tage? Nein, Tage sicher noch nicht. Regungsloses Abwarten. Warten auf den Tod. Wie lange noch? Ersticken war ein schlimmes Gefühl. Aber es musste zwangsläufig kommen. Irgendwann.
Eine willkommene Ohnmacht überkam ihn und er wehrte sich nicht dagegen. Alles war besser, als bei vollem Bewusstsein zu ersticken.
"He, He! Wach auf!" Was für ein schöner Traum von einer weiblichen Stimme. Träumte man, wenn man ohnmächtig war oder wenn man an der Schwelle zu einer anderen Dimension angelangt war? Wer weiß, vielleicht!
"Komm schon, tu mir das nicht an! Wach auf!"
Aufwachen? Um nichts in der Welt wollte er geweckt werden! Zärtlich streichelten ihn zwei zarte Hände, hielten sein Gesicht liebevoll…. Ein warmer, weicher Mund streifte seine Stirn. Wenn dieser Traum Wirklichkeit würde! Dann würdest du, bezauberndes Wesen, mich los schneiden, dann könnte ich atmen!
Ein heller Lichtschein traf seine Augen und verschwand wieder. Nein, er konnte nicht ohnmächtig sein. So viele Eindrücke hatte man nicht in einer Ohnmacht! Langsam versuchte er die Augen zu öffnen.
"Gott sei Dank, du lebst! Was haben sie dir nur angetan?" Ein weibliches Wesen, für ihn einem Engel gleich, versuchte vorsichtig den nassen Klumpen aus seinem Mund zu entfernen. Schneller, du bezaubernde Fee, schneller, ich ersticke, wollte Karl schreien. Es kam nur ein Quietschen heraus. Er versuchte an seinen Fesseln zu zerren. Er musste raus! Sich bewegen können. Frei sein.
Wieder rannen Tränen über sein Gesicht. Tränen der Verzweiflung. Erneut spritzte Erbrochenes in alle Himmelsrichtungen. Warum schaffte es die Frau nicht, den Klumpen da rauszuholen und die Fesseln zu zerschneiden?
"Halt still, Junge. Es ist ja alles gut! Keiner wird dir was tun! Wenn du so zappelst, dauert es nur länger!"
Ja, da hatte sie natürlich recht. Karl zwang sich, ruhig zu bleiben und durch die Nase tief einzuatmen. `Junge` hatte ihn noch keiner genannt.
"So geschafft." Sie warf den Lappen, der nun nur noch ein Batzen aus altem Öl, Kotze und Speichel war, achtlos in eine Ecke. Schnell und gekonnt zerschnitt sie Karls Fesseln.
Nur weg hier! Er wollte losrennen, aber es glückte nicht. Seine Beine trugen ihn nicht. Ein jäher Schmerz ließ ihn auf den kalten Lehmboden fallen.
"Raus, raus hier!" Wieder Panik. Blankes Entsetzen.
Die junge Frau kam schnell zu ihm und legte fürsorglich ihre Jacke um ihn. "Mein Gott, schon gut. Alles ist gut. Wir haben die drei geschnappt. Die können dir nichts mehr tun. Nun beruhige dich!"
Aber Karl wollte sich nicht beruhigen. Es war sein gutes Recht beunruhigt zu sein.
"Beruhige dich, habe ich dir gesagt!" Des Engels Stimme war streng und brachte ihn zur Besinnung. Es stimmte. Es war vorbei. Er war in Sicherheit. Nackt, verletzt, aber in Sicherheit.
Die Frau versuchte mit einer Hand auf ihrem Handy eine Nummer einzugeben. "Verdammt." Sie warf es zu dem Lappen in die Ecke.
"Was ist?" Stammte diese krächzende Stimme wirklich von ihm?
"Keine Verbindung. Ich muss nach oben. Du brauchst einen Krankenwagen. Ich komme gleich wieder."
"Nein." Wieder stieg Panik in ihm auf. Er krallte sich in ihren Ärmel. "Bitte lass mich nicht allein." Oh Mann, er benahm sich wie ein verängstigtes Kind! Egal.
"Keine Sorge. Ich komme gleich wieder." Zärtlich streichelte sie ihn über das Gesicht und Karl schloss die Augen, um das Gefühl zu genießen und es nie wieder zu vergessen.
"Alles klar da unten?", fragte eine bekannte männliche Stimme von oben herab.
"Nicht ganz, hol einen Krankenwagen!"
"Geht klar, Boss."
Schritte entfernten sich eilig.
Sie nahm den noch immer auf dem Boden liegenden Karl in die Arme, zog ihre Jacke dichter um ihn. Er legte seinen Kopf an ihre Schulter und starrte vor sich hin. Jetzt weinte er nicht mehr. Alles war tot in ihm. Es war vorbei!
"Was für Schweine! Was glaubst du, bist du o.k.?"
"Ich denke ja." Karl entzog sich ihr. Er schloss die Jacke, die ihm viel zu klein war und robbte an die Treppe. Die Frau stand auf, lief im Schein der Taschenlampe im Keller umher und fand schließlich eine Decke, die sie ihm wortlos reichte.
"Danke! Wer sind Sie eigentlich?"
"Sheryll."
"Du bist gekommen?!"
"Natürlich."



Eingereicht am 13. März 2006.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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