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Als Karl zum Fenster hinaus schaute

© Rainer Wüst


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Beide kannten sich noch nicht, aber dennoch würde sich ihr Leben auf eine Weise verändern, die sie sich nicht hätten erträumen können. Sheryll, eine 30-jährige, sehr erfolgreiche Architektin hatte dieses neue Projekt bekommen. Sie sollte ein Bauwerk aus dem frühen 14. Jahrhundert besichtigen, um dieses genau so in Köln bei einem exzentrischen, alten Herren, einem Großindustriellen nachzubauen. Natürlich mit allen Annehmlichkeiten des 21 Jahrhunderts. Sie hatte sich für die Innenausstattung schon so ihre Gedanken gemacht. Sie saß in der ersten Klasse, im Großraumwagen hatte ihren Laptop auf dem Schoß und bearbeitete die dreidimensionale Darstellung von großen Räumen und Hallen mit Einrichtungsgegenständen und allem Schnickschnack den man sich vorstellen konnte. Dieses Gebäude sollte Maßstäbe setzen, das war für sie so sicher wie das Amen in der Kirche. Deshalb wollte sie sich auch vor Ort von dem burgähnlichen Gebäude inspirieren lassen und die genauen Daten, die sie mittlerweile im Laptop hatte, durch die optischen Eindrücke ergänzen. Sie schaute nun auch auf die vorne im Zug aufleuchtende Anzeigentafel und las: "Wir erreichen in Kürze Frankfurt/Flughafen". Das hieß, dass sie in ca. 15 Minuten in Frankfurt am Hauptbahnhof wären. Somit packte sie den Laptop wieder in eine dafür vorgesehene Tasche ein, richtete ihre Kleidung und stellte ihr Gepäck sorgfältig in Reichweite, so dass sie alles griffbereit hatte sobald sie ankommen würde. Kurz darauf fuhr der ICE in Frankfurt/Hauptbahnhof ein. Sie griff sich ihr Gepäck, stieg aus und ging in Richtung Ausgang um sich ein Taxi zu nehmen. Direkt vor dem Bahnhof hat sie sich in ein Taxi begeben und dem Fahrer die genaue Adresse angegeben. Dieser stellte das Taxameter ein und fuhr los. Es lag etwas außerhalb von Frankfurt, daher dauerte es auch etwa 30 Minuten bis sie dort ankamen. Sheryll bezahlte den Fahrer, stieg mit ihrem Gepäck aus dem Taxi und stand nun vor "der kleinen Burg" wie sie es selbst nannte.
Karl konnte gerade sehen wie diese "feine" Lady, wie er sie wohl nennen würde, ausstieg und mit Begeisterung auf die kleine Burg zuging. Begeisterung deshalb, weil sie wohl die kleine Burg zu umarmen schien, das Gepäck stehen ließ und auf den Eingang der kleinen Burg zustob um dann die Eingangstür abzuknutschen. Da Karl das Fenster geöffnet hatte und sich ein lautes Lachen nicht verkneifen konnte, drehte sich Sheryll verdutzt um und funkelte ihn mit teuflischen Augen an. Karl zuckte förmlich, und trat einen Schritt zurück. Sie ging schnurstracks auf ihn zu. Da er im gegenüberliegenden Haus, im Erdgeschoss wohnte, konnte sie ihn schnell erreichen. Es lagen wohl nicht mehr als 20 Meter zwischen Ihnen. "Hallo Sie," rief sie ihm laufenderweise entgegen, "wissen sie wo ich hier für die nächsten 5 Tage ein Hotelzimmer finde?" "Hier im Ort gibt es kein Hotel und auch keine Pension, aber sie können hier bei mir in einem kleinen Anbau ein kleines Zimmer haben.", gab er zurück. Sie nickte dankend, schnappte sich ihr Gepäck und bewegte sich mit schnellen Schritten auf Karl zu. "Sie müssen schon durch die Eingangstür kommen, das Fenster ist ein wenig zu hoch um dort einzusteigen.", sprach er und grinste sie dabei ein wenig verschmitzt an. An ihrem Hals zeigte sich eine pochende Ader, es war wohl eine sogenannte Wutader, aber sie antwortete darauf nicht, sondern ging auf den Eingang zu. Karl war dort schon angekommen und ließ sie herein, führte sie in den Anbau und zeigte ihr das Zimmer. Klein, aber fein, dachte sie bei sich und stellte ihr Gepäck ab. "Wo bekommt man hier was zu essen?", fragte sie, doch er winkte ihr nur mit der Hand, dass sie ihm folgen sollte, was sie dann auch tat. Sie kamen in einer schönen großen Küche an, wo auf einem Tisch schon zwei Teller und eine dampfende heiße Suppe standen. Verblüfft schaute sie ihn an. "Woher wussten Sie, dass ich hierher kommen würde, eine Schlafgelegenheit brauchen würde und vor allem, woher wussten Sie wann ich kommen würde" Das Essen steht auf dem Tisch, ist noch heiß und s artet zu haben.", fragte sie ihn und schaute ihn sehr verdutzt an. "Ein Fax, wir sind doch nicht aus dem Mittelalter hier. Ihr Kompagnon hat mir ein Fax geschickt mit allen wichtigen Daten. Ich kenne ihn noch von früher.", erwiderte Karl. Daraufhin fiel ihr nichts mehr ein, sie prustete kurz aus, setzte sich dann an den Tisch ohne ein weiteres Wort zu verlieren und aß genüsslich die Suppe.
Karl schenkte ihr und auch sich noch einen guten Rotwein ein. Sie wurde langsam etwas lockerer und erzählte ihm dann auch weshalb sie hier war, was genau sie an der kleinen Burg so interessierte und wie sie das Gebäude nachbauen wollte. Dafür würde sie morgen dann auch das Innere der kleinen Burg besichtigen, um sich auch davon ein Bild machen zu können. Karl schüttelte nur den Kopf und meinte dann: "Das wird nichts, das mag es gar nicht." Sie schaute ihn nur völlig verstockt und verwundert an und meinte: "Was mag wer nicht?" "Na, die Burg, da war schon seit Jahrzehnten niemand mehr drin, kommt auch keiner rein, ist ja nicht immer da.", gab er ihr flachsig zur Antwort. Sheryll schaute jetzt total verwirrt drein, wollte auch sogleich weiterfragen, aber Karl winkte nur ab. "Warten Sie es ab Sheryll, morgen früh wird es nicht mehr da sein. Es kommt und geht wie es will, hat halt einen eigenen Willen.", krächzte er, da er sich an einem Schluck Rotwein verschluckt hatte. Sie lachte ihn jetzt nur aus, schüttelte ihrerseits den Kopf und stand, nun schon unter dem Einfluss des Rotweines, etwas schwankend auf und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer. Dort angekommen legte sie sich, so wie sie war aufs Bett und schlief auch sogleich ein. Mitten in der Nacht wurde sie wach, geweckt durch einen lauten Knall. Sie stand sofort auf, auch wenn sie noch etwas benommen und schlaftrunken war und ging zu ihrem Fenster, um herauszuschauen. Schräg gegenüber lag die kleine Burg, oder besser gesagt, hätte sie liegen sollen. Aber sie war verschwunden, stattdessen war dort nur ein unkrautüberwucherter Garten, den sie schemenhaft erkennen konnte. Jetzt war sie hellwach, zog sich ihre Schuhe an und kletterte durchs Fenster hinaus um sich alles genau anzusehen, obwohl da eher nichts zu sehen war. Sie stand wie gebannt vor dem "Nichts". Auch nachdem sie ihre Augen immer wieder mit den Händen gerieben hatte war keine Burg zu sehen. Sie war nun schon mitten im Unkrautgarten gelandet und suchte verzweifelt nach der Burg aber sie blieb verschwun it der Annahme, dass sie träumen würde ging sie wieder zum Fenster zurück, als ein weiterer Knall folgte. Sie drehte sich um und da war wieder die kleine Burg, die gerade noch verschollen war. Sie sah jetzt auch wie das Hauptportal sich öffnete. Sie ging darauf zu, durchschritt wie in Trance das geöffnete Portal und verschwand dahinter. Das Portal schloss sich knarrend hinter Sheryll und die Burg ließ ihren Neuankömmling, wie auch schon viele vor ihr, nicht mehr gehen.
Am nächsten Morgen saß Karl am Fenster, schaute auf die kleine Burg, lächelte und wartete auf den nächsten ungebetenen neugierigen Gast.



Eingereicht am 28. Februar 2006.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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