Lebenswille
© Christine Kühnel
Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Das Projekt.
So hatte sie die dritte Ausstellung genannt, in der sie ihre Ölgemälde präsentieren würde. Diesmal wollte sie alles offen legen, ihr ganzes Selbst.
Das Projekt bedeutete einen gewaltigen Kraftakt, eine immense Überwindung. Und nun, inmitten all dieser Vorbereitungen, hatte eines Tages das Telefon geklingelt und sie hatte gedankenverloren den Hörer abgenommen.
"77 Minuten Kind, länger dauert die Fahrt jetzt nicht mehr."
Sheryll presste die Lippen aufeinander, als sie an den Anruf ihrer Mutter dachte.
"Mhm", hatte sie nur gemacht.
Dann, als sie sich über ihre Staffelei beugte und den Kopf schräg legte, hatte das Licht so wunderschön auf ihr ''Selbstbildnis in Maria Magdalena'' geschienen, dass sie zum ersten Mal ein wenig Vertrauen in das Projekt gewann. Und einfach so, ohne auf der Hut zu sein, schlicht und einfach aus dem Glücksgefühl heraus hatte sie unbedacht gesagt:
"Das ist ja eigentlich ganz erträglich Mutti, da kann ich dich ja mal besuchen kommen."
Noch bevor sie wusste, wie ihr geschah, sass sie schon im Zug, voll mit Schuldgefühlen, dass sie ihre arme Mutter nicht öfter besuchte und ärgerlich über sich selbst, dass sie ihr arglos wie ein Wurm in die Schnellstraßen-Falle gegangen war. Weniger denn je war sie nach dem Gespräch davon überzeugt, dass sie dem Projekt gewachsen war. Sie glaubte nicht daran, glaubte nicht an sich. Denn wenn sie es täte, wäre sie jetzt in ihren Atelier und würde in Farben baden, anstatt im Zug zu sitzen, mit zwei Herren in einem Abteil, die sich hinter grauen Zeitungen verbargen. Sie hätte gegen das 77 Minuten Argument das einzige vorbringen können, was es entwaffnet hätte.
Das Argument ihrer Zukunft.
Sie entschloss sich nach ihrer Rückkehr das Telefon abzuschaffen.
77 Minuten kamen Sheryll nach nur 20 vergangenen wie eine Ewigkeit vor. Sie schloss die Augen um unterdrückte den Impuls mit dem Hinterkopf immer und immer wieder gegen die Kopfstütze zu schlagen. Das hatte sie zwischen der 13 und 15 Minute gemacht und einen Fahrgast aus ihrem Abteil damit vertrieben. Sie stellte fest, dass eine raschelnde Zeitung immer noch absolut ausreichte, um sich ausgestoßen zu fühlen.
Und wieder dachte sie an das Projekt.
Sie hatte das Gespür, dass ihre Gemälde einzigartig waren. Die beiden Ausstellungen, an denen sie bisher teilgenommen hatte, hatten es ihr bestätigt. Sie waren ein voller Erfolg gewesen. Ihr selbst war es gelungen sich aus dem Rampenlicht zurückzuziehen. Wegen der anderen Künstler war das nicht aufgefallen.
Ein lautes Räuspern riss sie aus ihren Überlegungen. Ohne es zu merken hatte sie doch wieder angefangen, die Kopfstütze zu bearbeiten. Verlegen fühlte sie nach oben und strich sich die Haare am Hinterkopf glatt. Ihr Gesicht begann zu glühen.
Sie musste aussehen wie der brennende Dornbusch.
Die erhobene Augenbraue ihres Mitfahrers senkte sich wieder in die Zeitung und sie erlaubte es sich eine Grimasse zu schneiden. Ihre Anspannung fiel dadurch tatsächlich ein wenig von ihr ab und sie fühlte sich nicht mehr völlig untergeben. Dann fiel ihr Blick auf etwas, dass fast unter den Sitz vor ihr gerutscht war.
Die Ecke eines Heftes.
Sie räusperte sich nun ihrerseits und fragte leise:
"Verzeihen sie, da liegt ein Heft auf dem Boden, vermutlich ein Comic und ich wollte sie fragen, ob es ihnen vielleicht runter gefallen ist?"
"Ich lese Zeitung", sagte der Mann und sah sie an.
"Oh", machte sie und wartete.
Der Mann schüttelte schließlich den Kopf und faltete seine Zeitung zusammen. Wenig später fiel die Tür des Abteils krachend ins Schloss und sie war allein. Das Heft lag unberührt auf dem Boden. Sie blickte dem Mann hinterher und horchte in sich hinein.
Sie war nicht sonderlich verletzt.
Es war für sie zur Gewohnheit geworden, dass Menschen seltsam auf sie reagierten. Das hatte nichts mit Äußerlichkeiten zu tun. Es schien eine Art unheilvolle Aura zu sein, die ihre Mitmenschen in zwei Lager zu spalten pflegte: Man liebte sie oder mied sie. 'Der Gentlemen mit der Zeitung gehört zu Kategorie Nummer zwei', dachte sie mit ein wenig gespielter Unbekümmertheit und ließ sich auf die Knie sinken, um das Heft unter dem Sitz hervor zu holen.
Lebenswille
Mehr stand nicht darauf.
Es war ein Heftchen in der Art der Arztromane, die ihre Tanten früher ständig mit sich herum schleppten. Bunter Einband, graue, dünne Seiten innen. Sie richtete sich auf und ließ sich auf ihren Sitz zurück sinken. Ein seltsamer Titel und auf der Rückseite keine Inhaltsbeschreibung.
Ich bin Alice im Wunderland, dachte sie belustigt und schlug es auf.
Er war müde. Den ganzen Tag hatte er in der Sonne gesessen, die durch sein Fenster fiel und darauf gewartet, dass dieser eine Moment kam, in dem alles perfekt sein würde. Da der Moment nicht kam, beschloss er sich nie mehr von seinem Fenster zu trennen und verband es im Geiste mit dem, was er zu erwarten glaubte. Von da an hörte er nicht mehr auf, in einer Traumwelt zu leben.
Karl blinzelte zufrieden vor sich hin. Er schenkte sich noch eine Tasse Tee ein und blieb dann mit dem Blick auf einem kleinen Punkt auf der Fensterscheibe hängen. Pedantisch, sonst ganz und gar nicht seine Art, beugte er sich vor und kratzte ihn mit dem Fingernagel weg. Dann lehnte er sich wieder zurück und nahm einen Schluck von dem dampfenden Getränk. Ein Mädchen beugte sich lachend vor und klopfte ans Fenster.
"Darf ich?"
"Natürlich, natürlich."
Sie kam zu ihm herum und reichte ihm fünf Euro.
"Hier, der nächste Tee geht auf mich!"
Sie verschwand. Er steckte das Geld ein und blickte wieder zu dem Turm. Er hob die Hände und maß ihn vorsichtig ab. Vor seinem inneren Auge fügte er einige Details hinzu, andere wieder nahm er fort. Ein Seufzen entfuhr ihm. Dann lächelte Karl über seine eigene Ungeduld und nach einem Blick auf den Horizont blinzelte er wieder in die Sonne. Er wartete auf ein perfektes Abendrot.
Und dann kam der Tag, an dem sie nicht anders konnte, als mit der Geschichte ihres Lebens vor seinem Fenster zu stehen und sie vorzusingen, so laut sie es vermochte. Und er war beeindruckt. Er konnte noch so jede feine Nuance ihrer Qual hören und spürte den Kampf, den sie täglich mit dem Leben focht in jeder Faser seines Körpers. Aber gleichzeitig spürte er ihren unbändigen Lebenswillen und ihre Versuche etwas von dieser Kraft in die Welt hinaus zu schleudern. Es war das schönste Lied, dass er jemals gehört hatte. Es war schöner, als jeder Traum, den er je zu träumen gewagt hatte. Es war vollkommen und hauchte ihnen beiden neues Leben ein.
Sheryll schlug das Heft zu und ließ sich zurück fallen. Sie spürte einen Kloß im Hals, so sehr hatte die kleine Geschichte, die mit vielen Zeichnungen umrahmt war, gerührt. Die Frau, die so sehr stotterte, dass sie kaum sprechen konnte berührte sie besonders. Sie hielt trotzdem so sehr am Leben fest, dass sie eines Tages beschloss zu singen stand zu sprechen. Sheryll las die letzten Zeilen noch einmal. Dann lächelte sie. Und sie fühlte einen kleinen Stich im Herzen darüber, dass es so etwas nur im Märchen gab. Sie hatte vergessen, dass sie sich selber wie eine Märchengestalt gefühlt hatte, als sie das Heft unter dem Sitz hervorgezogen hatte.
Ein Ruck riss sie aus ihren Überlegungen. Der Zug hielt.
Wenig später hastete sie über den Platz und blickte auf den Zettel, auf dem sie die Anschrift des Restaurants notiert hatte, wo ihre Mutter und ihre Tanten auf sie warten würden. Ein Windhauch kam und trug ihn davon.
Karl richtete sich auf. Er hatte sie sofort gesehen, als sie den Platz betreten hatte. Eine schlanke Gestalt in einem leichten roten Sommerkleid. Auf einmal blieb sie stehen und sprang dann leichtfüßig einige wenige Schritte über den Platz, fast auf ihn zu.
Sheryll hatte den Zettel schließlich mit ihrem Absatz festnageln können und hob ihn nun auf. Als sie hochblickte, bemerkte sie den jungen Mann, der mit einer Staffelei mitten auf dem Platz sass. Vor ihm hatte er ein großes, altmodisches Fenster auf einem Gestell befestigt, durch welches er sie nun anzustarren schien. Ein Mann, der das Leben durch ein Fenster erblickt. Sie blickte sich zu dem Alten Turm um und spürte, wie eine Ruhe von ihr Besitz ergriff. Kein Märchen.
Ebensowenig wie das Projekt.
Sie würde ihrer Mutter und der ganzen Welt von ihrem Projekt erzählen und die Menschen würden ihre Bilder lieben. Und auch die Hand, die sie gemalt hatte.
Karl erstarrte, als sie sich wieder zum gehen wandte und ihr langes, rotes Haar zurückwarf. Der Wind erfasste und wirbelte es gegen den Abendhimmel. Die Sonne tauchte hinein und brach sich in tausend funkelnden Strahlen darin, in gleißendem Rot. Das war das Bild, auf das er seit Wochen Abend für Abend hier gewartet hatte. Eine Offenbarung, ein brennender Dornbusch.
Seine Hand hatte schon zu malen begonnen.
Als Friedrich einige Tage später aus seinem neuen Fenster sah, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Der kleine Park, in dem er schon seit Jahren übernachtete, kam ihm durch das Fenster viel sicherer und ruhiger vor. So sicher hatte er sich noch nie gefühlt, seit er auf der Straße wohnte. Er konnte nicht verstehen, dass der junge Mann es so achtlos hatte stehen lassen. Vielleicht brachte es ihm ja ein wenig mehr Glück, als er bisher gehabt hatte.
Sirena war sehr reich und noch viel gelangweilter. Im Grunde dachte sie manchmal, dass das Leben eigentlich jetzt schon zu ende war. Sie achtete kaum noch auf das, was um sie herum geschah. Sie dachte nur an ihr Leben, dass sie als entsetzlich arm empfand. Auch sie ahnte konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Als sie sich in den Sitz fallen ließ, fiel ihr Blick auf ein Heft.
Lebenswille
Und auf einmal, ein ganz idiotischer Gedanke, fühlte sie sich wie diese Göre im Wunderland.
Eingereicht am 12. Februar 2006.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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