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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Zurückgeblieben und vergessen

© Agnes Ackerl


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Die Zeit wollte nicht vergehen. Er schaute auf seine Armbanduhr, verglich die Zeit auf der Kirchturmuhr mit seinem Handy, sah auf die kleine Digitaluhr oberhalb des Tresens. Sie hatte noch immer nicht angerufen. Nicht, dass sie gesagt hatte, sie würde es tun, schließlich waren es schon einige Wochen seit er das letzte Mal ihre Stimme gehört hatte. Seit er nach unzähligen Anrufen im Hotel den richtigen Portier erwischt hatte, der ihn durchstellte. Es war hoffnungslos, doch Karl hoffte weiter. Abfinden, dass nicht irgendwann eine Nachricht kam, würde sein Herz noch mehr erdrücken. Auf der Kirchturmuhr war es schon fast fünf.
Sherryl musste sich beeilen. Der Zug hatte zwar nicht Verspätung, aber sie hatte wenig Zeit, wenn sie noch rechtzeitig den Architekten in der Kirche wegen der Renovierung treffen, bei ihrer Schwester noch auf einen Sprung vorbeischauen und um 21 Uhr noch einmal zum Flughafen, den Flieger nach Paris erwischen wollte. Die Zeit war einfach zu knapp.
Karl zahlte seinen Kaffee, sah noch einmal auf sein Handy, machte sich auf den Weg in die Kirche. Die Sonne hatte die letzten Strahlen irgendwo hinter den Dächern zurückgezogen. Er würde eine Kerze anzünden. Ein wenig beten. Den Schmerz hinter ein paar Gebeten verstecken. In dem dunklen Gebäude würde es nicht auffallen wenn die Tränen seine Wangen hinunterflossen. Neben alten Frauen würde er wieder auf die Knie fallen und sie würden glauben er betrauere seine eben verstorbene Gattin. Eine Frau, die nicht tot war, nur weg.
"Hören Sie zu, wir zahlen ihnen keinen Schaden, wenn die Brandschutzmaßnahmen nicht ordnungsgemäß erfüllt werden." Sherryl klopfte gedankenverloren auf eine der Säulen. Pater Moritz öffnete den schmalen Eingang zum Turm. "Wir können nicht einfach darauf verzichten den Aussichtsturm zu benutzen. Er ist einer der wichtigsten Gründe, warum Besucher hier herkommen, aber ohne Versicherung können wir uns nicht leisten jemanden da raufzulassen. Für den Fall der Fälle kommt uns das zu teuer.".
"Natürlich kann man versuchen, " der Architekt räusperte sich, "die Holztreppen mit Stein zu ersetzen aber ich befürchte da spielt die Baubehörde nicht mit. Wenn der Turm denkmalgeschützt ist wie sie sagen, wird da keine Genehmigung durchgehen. "
Sherryl seufzte, blickte noch einmal in ihre Unterlagen, "Ich werde noch einmal mit meinem Chef sprechen, vielleicht kann ich ihn überreden doch einen Vertrag abzuschließen. Doch will ihnen da keine Hoffnungen machen.
Wenn überhaupt, werden wir vermutlich nicht herumkommen ihnen eine weitaus höhere Prämie zu verrechnen."
"Ich verstehe. Danke, dass sie sich darum bemüht haben sich persönlich die Sache anzusehen!" Der kleine dicke Pfarrer schüttelte Sherryl und dem Architekten die Hand. "Ich würde sie zwar gerne auf einen Tee in die Pfarrkanzlei einladen aber ich muss mich jetzt für meine Predigt herrichten. Wenn sie wollen, sind sie herzlich eingeladen ihr beizuwohnen. Er fängt in einer halben Stunde an."
Sherryl entschuldigte sich, sie würde ihren Flieger nicht mehr erwischen, wenn sie nicht unverzüglich aufbrach und auch der Architekt bedauerte, hatte er doch noch ein wichtiges Treffen in seiner Kanzlei, versprach aber das nächste Mal mit Sicherheit mehr zu Zeit haben. Sie verabschiedeten sich, Pater Moritz humpelte in den hinteren Teil der Kirche, der Architekt verschwand durch die Vordertür.
Sie nahm sich kurz Zeit um den Innenraum des Gebäudes noch einmal zu betrachten. Es war eine wunderschöne Kirche, leider aber war ihre Versicherung nicht auf Schönheit, sondern auf Gewinn bedacht. In der Ecke saß ein zusammengesunkener Mann. Er hatte ihr Gespräch verfolgt.
Sie hatte bemerkt wie er den Kopf gehoben hatte, als sie erwähnte, dass sie in die Bretagne fuhr, dass er ab dem Zeitpunkt den Blick immer wieder den dreien zuwandte, ihre gesagten Sätze mit den Lippen nachformte. Sie war eine gute Beobachterin.
Doch der merkwürdige Mann wurde gleich darauf aus ihren Gedanken verbannt. Sie war schon spät dran. Die Diskussion hatte sie viel zu lange aufgehalten. Ihrer Schwester musste sie absagen, der Flieger würde sonst ohne sie starten. Der Wind auf dem Platz schlug ihr hart entgegen.
Sie hatte ihren Schal vergessen.
"Dinan sagten sie?" Sherryl drehte sich um. Der Mann aus der Kirche hielt den Seidenschal in seinen Händen. "Ja!", erwiderte sie verwundert und erfreut nicht noch einmal in das Gebäude zurückzumüssen, "Ich muss mich beeilen, dass ich mein Flugzeug noch rechtzeitig erwische, sonst verpasse ich noch den TGV und meine Fähre. Vielen Dank! Wenn …!"
"Meine Freundin, sie ist auch in Dinan!" "Ist ein gut besuchter Touristenort, ich bin sicher es…" "Kathrin, Kathrin Schönbauer"
Noch bevor er den Namen genannt hatte, wusste sie von wem er sprach. Die dünne Gestalt, das zerfurchte, hilflose Gesicht mit dem Spitzbart, eine große Narbe am Hals, die herausstechenden blauen Augen, darüber eine dicke Sorgenfalte und die kurzgeschorenen dunkelbraunen Haare, ein Bild, das sie schon einmal gesehen hatte. Das Bild, das ihr die Frau mit der goldenen Lockenpracht an der Bar gezeigt hatte.
"Vielleicht kennen Sie sie!"
Eine lange Nacht, viele Zigaretten und einige Cocktails später hatten sie sich versprochen, auch nach dem Seminar noch Kontakt zu halten.
"Dinan ist wie gesagt eine Touristenstadt, ich kann mich nicht erinnern eine solche Frau getroffen zu haben…" "Vielleicht werden Sie meine Kathrin treffen, sie arbeitet auch bei einer Versicherung! Wenn Sie sie irgendwo sehen, sagen Sie ihr bitte, dass …, dass ich sie vermisse!"
Die großen Augen hatten geleuchtet, als sie von dem Engländer geredet hatte, mit dem sie ihre Zukunft aufbauen wollte. Er war so anders, als die Männer, die sie bis jetzt kennengelernt hatte. So aufmerksam, so zuvorkommend, so rücksichtsvoll. Nicht aufdringlich.
"Sherryl, ich werde dich zu meiner Hochzeit einladen". Entsprang es ihr freudestrahlend, nachdem sie die Bilder von dem Haus in Jersey gezeigt hatte.
"Ich glaube nicht, dass ich sie dort treffen werde, der Zufall wäre zu groß!"
Sie wendete den Kopf ab. Sollte sie ihm die Wahrheit sagen? Ihn vor die bittere Tatsache stellen, dass Kathrin nicht einen Gedanken mehr an ihn verschwendet hatte, seit sie die Reste seines Photos im grauen Aschenbecher der Hotelbar versenkt hatte. Dass sein Name nur einmal noch gefallen war, einmal, als Kathrin einen Witz über ihn gemacht hatte?
"Es tut mir leid, ich kann mich nicht länger mit ihnen aufhalten ich versäume sonst wirklich noch meinen Flug".
Sie nahm ihren Schal. "Auf Wiedersehen!" Dann drehte sie ich um und hastete über den Platz zum Taxistand.
Er rief ihr nach: "Mein Name ist Karl S….." Der Nachname wurde vom Wind übertönt. Sie erinnerte sich trotzdem. Karl Steinfeld. Der Mann, der sich an einem heiteren Abend in Asche aufgelöst hatte. Verbrannt von der schönen Blondhaarigen, deren beste Freundin sie nun war.
Nachdem sie am Schalter eingecheckt hatte, blieb ihr noch eine ganze Stunde Zeit. Sie setzte sich in den Warteraum und beobachtete die gestarteten Flugzeuge, deren Umrisse im Himmel verschwanden bis nur mehr das fragmenthafte Blinken zu sehen war.
In ihrer Tasche klingelte das Telefon. Ein SMS: "Hoffe du vergisst nicht auf die Junggesellenfeier morgen Abend. Liebe Grüße Kathrin."
Sie hätte es ihm doch sagen sollen.



Eingereicht am 28. November 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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