Der Auftrag
© Hans-Peter Anton
Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Zum ersten Mal seit drei Jahren war Karl auf dem Weg nach Frankfurt. Damals hatte er seine Abteilungsleiterstelle in der Deutschen Bank verloren, einfach so, von heute auf morgen, und es war ihm seit dem nicht möglich, ins Arbeitsleben zurück zu finden. Er wusste nicht, was schlimmer für ihn gewesen war. Der Arbeitsplatzverlust oder der Verlust seiner Frau, die ihn erst einen "Versager" geschimpft hatte und dann ein paar Tage später aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war. Beides hatte wehgetan, sehr weh. Der totale Absturz. Keine Arbeit mehr, keine Liebe, keine Aufgabe. Das war zum Glück Vergangenheit.
Sheryll fuhr regelmäßig in die Bankenstadt, wo sie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universtität an einem sozialwissenschaftlichen Projekt mitarbeitete. Es ging dabei um die Ursachen für unterschiedlich hohe Suizidraten in verschiedenen Ländern. Als Diplom-Psychologin war sie eine unentbehrliche Mitarbeiterin. Zurzeit wertete sie eine internationale Befragung von geretteten Selbstmördern aus, was ihr einen tiefen Einblick in ein Elend bot, das sich so deutlich nirgendwo darstellte.
Der ICE war gut geheizt. Bei zweistelligen Minusgraden draußen, war es drinnen mollig warm. Fast zu warm. Trotzdem zog Karl seinen Mantel nicht aus, denn das hätte durchaus seinen Auftrag gefährden können. Das Schwitzen nahm er gerne in Kauf. Bald würde sowieso alles ganz anders sein. Der Zug würde gegen 7 Uhr dreißig im Hauptbahnhof eintreffen, einer Zeit, zu der dort Hochbetrieb herrschen würde. Montags morgens reisten sie alle wieder an, Banker, Verkäufer, Broker etc., um eine weitere Woche dem schnöden Mammon nachzujagen. Diejenigen, die bei dieser Jagd auf der Strecke blieben, waren schnell vergessen und abgehakt. Sehr selten nur gelang jemandem ein Comeback. Er würde zu jenen Glücklichen gehören. Er hatte einen Auftrag und den wollte er erfüllen, so gut wie irgend möglich. Sein Lohn würde immens sein.
Es lagen noch gut 10 Minuten Fahrtzeit vor Sheryll, aber sie begann schon mal ihre Unterlagen, die sie auf dem kleinen Bahntischchen ausgebreitet hatte, zusammenzuräumen. Professor Rossbach, unter dessen Regie sie arbeitete, wollte an der Infotafel auf sie warten. Vermutlich würde er ihr wieder vorschlagen zur Uni zu laufen, statt mit der stets vollen Straßenbahn zu fahren. Und sie würde gerne annehmen, denn in seiner Gegenwart spürte sie die Kälte nicht. Noch wusste sie nicht, ob er für sie das Gleiche empfand, wie sie für ihn, aber das Projekt war noch lange nicht abgeschlossen. Es blieb genügend Zeit zu überprüfen, ob er mehr als Sympathie für sie empfand. Rossbach war ein erfahrener Soziologe, der nie eine Antwort schuldig blieb. Welches Problem auch immer auftauchte. Er wusste immer eine Lösung. Die Probleme allerdings, mit denen er sich beschäftigte waren oftmals rein hypothetischer Natur - wie seine Lösungen. Sheryll hätte nur zu gerne gewusst, wie er mit Alltagsproblemen umging. Vielleicht sollte sie ihn einfach mal um einen Rat bitten. Ihr würde bestimmt noch was passendes einfallen.
Alkohol hatte gerade angefangen ein Problem für ihn zu sein, als er Khaled kennen lernte, einen höflichen jungen Mann, mit dem er in "seiner" Kneipe ins Gespräch kam. Khaled war ein guter Zuhörer, der viel Verständnis für Karls Probleme hatte. Es tat gut, mal jemandem sein Leid klagen zu können, ohne sich gleich dämliche Ratschläge anhören zu müssen. Khaled stimmte unumwunden zu, dass Karl tatsächlich in einer schlimmen Situation war, dass Karl zu bedauern sei und dass er nicht mit ihm tauschen möchte. Das war zwar keine Hilfe, aber doch ein Trost. Es gab jemanden, der ihn bedauerte. Aus dem ersten Abend wurden viele Treffen, in denen sie angeregt über Karls Misere redeten, Freunde von Khaled, die sich anscheinend in ähnlicher Situation befanden, gesellten sich dazu und diskutierten mit. Ohne das bewusst entschieden zu haben begann Karl weniger zu trinken. Seine neuen Freunde strahlten eine ansteckende Fröhlichkeit und Zuversicht aus. Sie hatten großes Talent mit einfachen Mitteln die Probleme der Welt und des Einzelnen zu erklären und Trost zu spenden. Karl fühlte sich wohl bei ihnen. Nach vielen Wochen war er einer der ihren und erklärte sich bereit, mitzuhelfen das Böse in der Welt zu bekämpfen.
Sanft kam der ICE im Hauptbahnhof Frankfurt zum Stehen. Es war Montagmorgen, 7 Uhr dreißig. Karl stand auf und schritt langsam zum Ausgang. Sein Herz pochte bis zum Hals. Noch ein paar Minuten, dann würde sich sein Leben entscheidend ändern. Es würde ihm gut gehen, wie noch nie. Angst hatte er schon. Würde er alles richtig machen? Würde alles so sein, wie er es sich vorstellte? Schritt für Schritt näherte er sich dem Ende des Bahnsteigs. Was wäre, wenn die Technik versagt? Was wäre, wenn alles nur Aberglaube war? Für solche Überlegungen war jetzt keine Zeit mehr. Karl beschleunigte sein Tempo und erreichte das Ende des Bahnsteigs. Am Abgang zur S-Bahn kletterte er auf die kleine Mauer, die diesen u-förmig umrahmte. Er zog seinen Mantel aus und warf ihn auf die Erde. Zuversichtlich blickte er auf einen Punkt, irgendwo an der Wand des Südausgangs. Die Schreie der Umstehenden hörte er nicht.
Sheryll hatte wie so oft einen Sitzplatz in einem der hinteren Waggons bekommen und musste daher fast an dem kompletten ICE entlang gehen. Sie hatte eine leichte Gänsehaut, denn der Übergang von der molligen Wärme im Zug auf den eiskalten Bahnhof war sehr unangenehm. Sie lief recht schnell, um die Kälte zu vertreiben, wurde aber urplötzlich wieder langsamer. Was war da vorne los? Eine Menschentraube hatte sich gebildet und sie hörte undeutliche Schreie. Auf der linken Seite der Traube rannten Menschen davon, auf der rechten gesellten sich neue dazu. Je näher sie kam, um so deutlicher wurden die Schreie. Als sie die Menschenmenge erreichte wurde sie leichenblass. Ein Mann stand auf einem Mauerchen und schrie unverständliche Worte in die Halle. Er hatte einen Sprengstoffgürtel umgeschnallt und seine rechte Hand lag offensichtlich auf dem Auslöser.
"Nein!", schrie Sheryll, "tun Sie das nicht!"
Karl lächelte und begann zu zählen: "Eins, zwei, drei ..."
Eingereicht am 07. Dezember 2005.
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