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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Ein Zeichen der Vergangenheit

© Janina Spangenberg


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Er überlegte, wie lange es wohl her war, dass er dieses schlichte Gebäude, das für ihn eine ganz besondere Bedeutung hatte, gesehen hatte. Es musste wohl Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende her sein, dachte er mit einem Lächeln. Na ja, vielleicht hatte er da etwas übertrieben. So alt waren er und der Turm nun auch wieder nicht. Einige Sekunden später verlor Karl seinen alten Freund aus dem Blickfeld.
Sheryll fühlte sich gewissermaßen schlecht. Ihr ganzes Leben bestand nur darin, zu arbeiten. Schon seit Ewigkeiten hatte sie keinen freien Tag mehr verbracht. Wozu auch?, fragte sie sich. Ihr Leben hatte so keinen Sinn, also gab sie ihm selbst einen - sie setzte sich dafür ein, dass die Menschen sich mehr für Geschichte interessierten, ja, sie wollte, dass jeder dieses Kribbeln verspürte, wenn er an Vergangenes dachte, nicht nur sie.
Leider war dies nicht so. Schon allein der Gedanke an die vielen Kinder, die im Geschichtsunterricht in der Schule saßen und sich langweilten, zerbrach ihr das Herz. Wieso konnte niemand ihnen die wunderbare Vergangenheit nahe bringen? Jedoch waren nicht nur Kinder von diesem großen Gefühl der Eintönigkeit ergriffen, wenn sie an das Geschehen von Früher dachten. Viele Erwachsene waren genauso, denn niemand hatte ihnen beigebracht, den Hauch des Vergangenen zu spüren, ja, Geschichte zu leben.
Eine große Müdigkeit ergriff von ihr Besitz. Nur eine kleine Pause, eine klitzekleine Pause, die konnte sie sich doch gönnen, oder? Sie döste einige Minuten vor sich hin, als auf einmal eine freundlich erscheinende, jedoch ohrenbetäubende Stimme sagte: "Nächster Halt, Westerwald. Ausstieg in Fahrtrichtung links."
Das hatte Sheryll gerade noch gefehlt. Da hatte sie gedacht, endlich einmal ausspannen zu können, jedoch: Fehlanzeige. Gerade, als sie beginnen wollte, sich und die Welt und ihr Schicksal zu verfluchen, sah sie durch ihr Fenster hindurch einen alten Turm. Er glitzerte im Sonnenlicht und verlieh ihr die schon so lange verloren geglaubte Ruhe. Das war der Ort, an dem sie die nächsten Tage verbringen wollte, da gab es keinen Zweifel. Kurz entschlossen packte sie ihre Sachen, um genau an dieser Haltestelle auszusteigen. Von diesem Augenblick an war ihre Tante, die in Frankfurt freudig ihren Besuch erwartete, vergessen. Warum auch sollte sie Ferien nehmen? Die Geschichte wartete auf sie. Hautnah wollt sie erfahren, wie die Leute in dieser Ruine gelebt hatten. Noch konnte sie nicht ahnen, wie hautnah sie das 14. Jahrhundert kennen lernen würde.
Karl konnte einfach nicht anders, als an der nächsten Station auszusteigen und mit dem frühesten Zug zurückzufahren. Er musste einfach sein altes Zuhause wieder sehen. Eine halbe Stunde später war er nun endlich an der richtigen Haltestelle: Westerwald.
Von dort aus musste er wohl oder übel zu Fuß weiter. In den letzten Jahren war er um einiges gemütlicher geworden - kein Wunder, wenn er nach einem harten Leben endlich das langsam heran schreitende Ende erwarten konnte und bis dahin die Welt genießen konnte. Hätte er dies jemals anderen Menschen erzählt, hätten sie ihn bestenfalls ausgelacht und schlimmstenfalls schon einmal nach der Nummer vom nächsten Psychiater gesucht. Er war gerade einmal Mitte 20, da dachte man noch nicht über den Tod nach! Wenn man wie er jedoch erst seit sechs Jahren ein Mensch war, erschien einem eine Lebenserwartung von siebzig oder achtzig Jahren sehr gering. Vorher hatte Karl Jahrhunderte gelebt! Jahrhunderte! Diese aber waren immer langweiliger geworden und später hatte er sich gewünscht zu sterben. Durch einen glücklichen Zufall hatte er dann die Chance bekommen, wieder ein Mensch zu werden, was ihm die Möglichkeit auf einen schnellen Tod brachte. Umbringen wollte er sich dabei dennoch keinesfalls, schließlich würde das ganze Desaster so nur von vorne anfangen.
Als er den ihm so bekannten Weg entlang spazierte, bemerkte er auf einmal eine junge Frau. Sie hatte blonde Haare, die in sanften Wellen über ihre Schultern fielen. Er beschleunigte seine Schritte, so dass er nun neben ihr ging. Dabei erhaschte er einen Blick in ihr Gesicht. Sie war sehr hübsch und schien sich über etwas ungemein zu freuen.
"Guten Tag, gnädige Frau, wohin des Weges?", fragte er, wie er es schon oft getan hatte. Die meisten Leute hatten ihn nur merkwürdig angesehen oder ausgelacht. Sie hatten gesagt: "Was ist das denn für einer? Der spinnt doch!", oder etwas ähnliches.
Sie jedoch erwiderte lachend: "Mein holder Ritter, dorthin, wohin meine Füße mich tragen."
Er sah sie verdutzt an. Noch nie hatte jemand so reagiert.
"Und was ist der Ort Ihres Begehrens?", fuhr sie fort.
Er antwortete erfreut, da er schon so lange keine normale Unterhaltung mehr geführt hatte: "Mich zieht es zu meiner Burg… äh, zu meinem Turm, meine ich natürlich."
"Ah, ich verstehe, was Sie meinen. Als ich vor einiger Zeit in diesem neuzeitigen, metallenen Gebilde saß, da sah ich ihn in seiner vollen Pracht. Um der Wahrheit eine Ehre zu erweisen muss ich sagen, das war auch das Ziel meiner Reise", sprach sie.
"Und wie, wenn ich fragen darf, ist Ihr Name, edles Fräulein?", meinte nun wieder Karl. Lange hatte er keinen solchen Spaß gehabt.
Sie lächelte und sagte: "In der neuen Zeit nennen sie mich Sheryll, aber Sie dürfen auch Josephine zu mir sagen, das ist mir um einiges lieber."
"Ja, Josephine, holde Meid! Erlaubt Ihr, dass ich mich vorstelle? Ich bin Ritter Ganot, aber im täglichen Leben nennen sie mich alle Karl", erzählte er.
"Ritter Garnot, es ist mir eine Ehre, Sie kennen gelernt zu haben. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie zu Ihrem Turm begleite und mich dort ein wenig umsehe?", spielte Sheryll sein Spiel mit. Sie hatte keine Ahnung, dass Karl das ganze nicht als einen Scherz wertete. Genauso wenig wusste sie, dass alles, was er sagte, der Wahrheit entsprach. Schließlich war er, auch wenn es Ewigkeiten zurücklag, ein wahrer Ehrenmann gewesen und hatte hunderte schöne Mädchen gerettet. Er war so beliebt gewesen wie ein heutiger Popstar, bevor sein Schicksal sich durch eine Heldentat gewendet hatte.
"Natürlich nicht, oh teure Josephine. Ihr seid, so lange Ihr wollt, mein Gast."
Sie gingen immer weiter, unterhielten sich über das Wetter und ihre Anreise, über die merkwürdigen neumodischen Dinge, die es alle gab, darüber, wie schwierig es für Karl gewesen war, das erste Mal einen Föhn zu benutzen und dann waren da natürlich auch noch seine Heldengeschichten. Wie er als Ritter Ganot gekämpft und gesiegt hatte, Drachen niedergemacht und jeden Tag eine andere Jungfrau gerettet hatte. Ein wenig flunkerte er natürlich dabei - vor allem, was den Drachen anbelangte.
Einige Zeit später erreichten die beiden den Turm. Besonders Sheryll merkte erst jetzt, wie erschöpft sie war, obwohl Karl ihr auf halber Strecke ihr Gepäck abgenommen hatte und sich entschuldigt hatte, dass er es nicht schon eher getan hatte.
"Puh, bin ich geschafft. Jetzt könnte ich ein kleines Schläfchen gebrauchen", seufzte sie und wollte sich an Ort und Stelle hinlegen.
"Aber nicht doch, Josephine, das gehört sich doch nicht für eine so hübsche Dame. Pass auf, ich bringe dich an einen angemessenen Platz." Noch ehe sie widersprechen konnte, hatte er sie geschnappt und trug sie auf eine Böschung zu.
"Ah, nicht! Da sind doch bestimmt Käfer drin, da will ich nicht schlafen!", schrie Sheryll verzweifelt.
Lachend meinte er: "Für wen hältst du mich, Josephine? Hier, schau!"
Er war durch das Gestrüpp gedrungen und nun waren beide an dem schönsten Ort, den sie je gesehen hatte. Ein kleiner Bach durchzog die blühende Wiese, auf der Ritter Ganot jetzt seine Josephine bettete.
"Schlafe ruhig, ich halte Wache", waren die letzten Worte, die sie hörte, ehe sie in einen tiefen Schlaf verfiel.
Am nächsten Morgen kitzelte die Sonne Sheryll und Karl wach, die eng umschlungen auf der noch taunassen Wiese lagen.
"Wie spät ist es?", fragte sie verschlafen.
"Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, holde Josephine, ich besitze keines dieser neumodischen Geräte…", erfolgte prompt die Antwort.
"Ach du heilige Sch…", setzte sie an, sprach ihren Satz jedoch nicht zu Ende. Ein wunderbarer Tag sollte beginnen und kein solcher, der durch einen Fluch eingeleitet wurde.
"Ich habe uns Frühstück gemacht. Zwar nichts, was dir gerecht wäre, aber leider habe ich nichts anderes dabei", erklärte er. Sheryll konnte ihren Augen nicht trauen. Vor ihr erstreckte sich ein Berg von Essen. Es gab zwei Laibe Brot, Milch, Käse, Wurst, einfach alles, was das Herz begehrte. Sofort schlug sie zu und begann - nicht ganz so sehr damenhaft - zu speisen.
Als die beiden fertig waren, fragte sie: "Würden Sie mir jetzt bitte den Turm zeigen?"
"Wenn Ihr das wünscht…", und schon begaben sie sich zu dem zerfallenen Gebäude.
Schweigend traten sie durch den schmalen Durchgang, der ihnen den Eintritt in den Turm ermöglichte.
"Wow!", staunte Sheryll, als sie das Innere des Bauwerks sah, "das hätte ich mir nicht zu träumen gewagt. Hier sieht ja alles noch genauso aus wie früher!"
Karl schluckte nur. Nach einer Weile des Schweigens sagte er: "Es sieht beängstigend aus. Alles ist exakt wie an dem Tag, an dem ich… an dem ich hingerichtet wurde."
"Was? Der Tag, an dem Sie hingerichtet wurden? Was hat das zu bedeuten?", Sheryll begann am ganzen Leibe zu zittern.
"Na, Sie wissen schon, Josephine, ich habe Ihnen doch bereits erzählt, dass ich Ritter Ganot war. Sie haben doch nicht etwa gedacht, ich würde lügen?", meinte er entsetzt.
"Um ehrlich zu sein, habe ich das alles nur für ein Spiel gehalten. Wir versetzen uns ins Mittelalter, tun einmal so, als wären wir ein Ritter und ein Burgfräulein…", Sherylls Stimme versagte. Gerade hatte sie aus dem kleinen zugigen Fenster gesehen, "sag mir, dass das nicht wahr ist."
Karl trat neben sie. Entsetzt zog er die Luft ein: "Nein, das ist doch unmöglich, wir sind tatsächlich hier… Josephine, heute ist der 28. April, der Tag meiner Hinrichtung." "Denken Sie nach, Ganot. Was haben Sie an diesem Tag gemacht?", Sheryll schrie schon fast.
"Heute habe ich… ja, genau. Am Vortag hatte das ganze Pack mich gefragt, was mein letzter Wunsch sei und da sagte ich, ich wünsche, meine teure Josephine sei hier", entsetzt sah sie ihn an, doch er fuhr fort, "so wie es aussieht, müssen wir den Tag wohl noch einmal erleben, nicht wahr? Und du schlüpfst in die Rolle meiner geliebten Josephine, die einzige, die ich je wirklich geliebt habe."
Fassungsloses Schweigen trat zwischen sie. Die einzigen Laute, die zu hören waren, war das Geschrei der Leute auf dem Hof. Sheryll drehte sich um. Dort, wo kurz zuvor der Durchgang gewesen war, war nun ein schweres Holztor angebracht.
"Wir sind eingesperrt", meinte sie bebend.
"Natürlich sind wir das. Denken Sie etwa, es wäre einem Ketzer erlaubt, zusammen mit seiner Geliebten am Tage seiner Hinrichtung frei herumzuspazieren?", fragte er mit einem Hauch von Sarkasmus.
"Ein Ketzer? Sie sind ein Ketzer? Ritter Ganot, wie kommt es nur dazu? Wurden Sie auch gefoltert? Und was ist mit mir, werde ich auch gequält werden? Ich habe immerhin ein Verhältnis mit Ihnen, wenn ich diese Josephine bin…", Sheryll war inzwischen unglaublich verzweifelt, doch was noch viel schlimmer war, sie hatte Angst. Angst, die ihr die klare Sicht nahm. Ihre Gedanken wurden durch einen herzzerreißenden Schrei durchdrungen, gerade, als sie drohten außer Kontrolle zu geraten.
"Was haben Sie denn, Ganot?", erkundigte sie sich nun mehr ruhig.
"Am 28. April fing das ganze Übel erst an. Wenn sie mich jetzt töten, dann wird alles noch einmal passieren. Ich werde Jahrhunderte der Einsamkeit verbringen…", er begann zu weinen.
"Hey, alles wird wieder gut, Sie sind doch schließlich ein tapferer Mann", tröstete Sheryll, "aber nun erklären Sie mir mal, was eigentlich so schlimm ist und wie das hier alles möglich ist."
"Sie haben ja Recht. Ich bin Ihnen einige Erklärungen schuldig. Also, es ist so: Ich wurde im 14. Jahrhundert geboren, um genau zu sein am 19. Januar 1346. Ich kam aus einer angesehenen Familie, oh ja, wir waren nahezu berühmt. Meine Karriere sollte so aussehen, dass ich ein treuer Ritter würde und eines Tages, wenn ich viele kleine weitere Ritterchen zur Welt gebracht hätte, in einer Schlacht starb. Leider kam es nicht so. Ich wurde ein angesehener Ritter, ja, ich war wirklich berühmt. Zu meinem Pech war ich aber ein wenig zu intelligent und freiheitsliebend. Das betraf nicht nur mich, nein, ich wollte, dass jeder frei war, vor allem die Frauen, die ich ja auch so zahlreich gerettet hatte. Ich wollte, dass alle Frauen ihre eigenen Herren sein konnten, und am 05. Dezember 1372 erschien eine Schrift, in der ich alle Bürger aufforderte, dafür zu kämpfen. Tja, meine Tat hat nicht einmal für einen Eintrag in eines der Geschichtsbücher eurer Zeit gereicht. Alle Schriften von mir wurden verbrannt, niemand konnte je eine Spur von ihnen finden. Am 28. April 1373 war es dann so weit. Der Ketzer Ganot sollte hingerichtet werden. Um deine Frage zu beantworten, merkwürdigerweise wurden wir nicht gefoltert, wahrscheinlich, weil ich aus einer angesehenen Familie stammte und außerdem meine Tat gestanden hatte. Meine letzten Stunden verbrachte ich mit Josephine, also mit Ihnen, und dann wurde ich vor die kreischende Menge geführt… es war schrecklich", Sheryll legte ihren Arm um Karl, unterbrach ihn jedoch nicht, "sie schrieen: Verbrennt diesen Ketzer, er ist es nicht wert unter den Lebenden zu sein! Soll er endlich zu seinem Teufel in die Hölle kommen! Mit dem scheint er ja sowieso unter einer Decke zu stecken! Und das taten sie die ganze Zeit, ohne Unterbrechung, ohne Gnade. Unter der ganzen Menge sah ich auch meine Eltern. Mein Vater stand in der ersten Reihe, er rief mit ihnen, schrie, ich sei nicht sein Sohn und entwürdigte mich. Ich war den Tränen nahe, ich, der starke Ritter Ganot, sollte meinen letzten Weg mit Tränen in den Augen gehen! Doch zu meinem Glück erkannte ich schließlich meine Mutter. Sie stand etwas abseits und lächelte mir zu. Ja, es war, als sage sie mir, alles wird gut, ich bin bei dir, du musst jetzt nur stark sein! Das hat mir geholfen. Ich ging die letzten Schritte mit erhobenem Haupt und ließ keinen einzigen Schrei über die Lippen kommen, als ich verbrannte. In meiner Erinnerung war nur das Lächeln meiner Mutter und meine Liebe zu… zu dir."
Er verstummte. Sheryll wurde rot. Hatte er gerade du zu ihr gesagt? Vorher war er noch nie so… so nahe bei ihr gewesen.
"Und warum… warum lebst du jetzt wieder?", stotterte sie.
"Nun ja, ich wurde ein Geist. Selbstmörder und Hingerichtete werden zu Geistern. Nur Ehrenmänner und Ehrenfrauen", fügte er mit einem Zwinkern hinzu, "werden erlöst. Und selbstverständlich diese, die eines natürlichen Todes sterben. Ich spukte also die ganzen Jahre eingesperrt in diesen kleinen Turm…"
Sie unterbrach ihn: "Das ist ja schrecklich!", aber er fuhr fort, als hätte er sie nicht bemerkt, "bis eines Tages eine junge Frau kam, die mir erklärte, sie liebe mich. Ich fragte sie natürlich, wie sie mich lieben konnte, wir kannten uns schließlich nicht. Sie erklärte mir, sie liebe alle Lebewesen und darum sei ich frei. Ich würde eine neue Chance bekommen und solle sie nicht vertun, und außerdem solle ich auf keinen Fall in meinem 27. Lebensjahr zu der Ruine zurückkehren…", er sah sie geschockt an.
Leichenblass bat sie: "Sag mir jetzt bitte nicht, dass du 26 bist!"
"Doch.", seine Antwort war nur ein Flüstern.
Sherylls Gedanken überschlugen sich. Wie konnte er nur den Rat missachtet haben, seine Chance auf einen natürlichen Tod riskiert haben?
Karls Gedanken kreisten um genau dasselbe. Warum hatte er das nur vergessen? Jedenfalls kannte er jetzt den Grund, aus dem er nicht hierher zurückkommen sollte.
Bevor die beiden zu einem Ergebnis kommen konnten, was zu tun war, wurde das schwere Tor durch eine gewaltige Kraft aufgeschmettert.
Zwei düster wirkende Gestalten griffen Ganot unter die Arme und zerrten ihn hinaus. Sheryll wurde gänzlich ignoriert. Heimlich folgte sie der kleinen Gruppe durch die Burg, die nun plötzlich, als wäre sie aus dem Boden gewachsen, da war.
Nach einer Weile hörte sie lautes Geschrei. Ob das wohl die Menge war, von der Karl ihr erzählt hatte? Ja, das war sie eindeutig. Sheryll vernahm die Rufe, Ganot solle nun zu seinem Teufel gelangen, mit dem er ja schon einen Packt geschlossen habe. Sheryll blieb am Eingang der Burg stehen.
Als die beiden Gestalten mit Karl aus dem riesigen Gebäude traten, wurde das Geschrei nur noch lauter. Sie sah, wie er einen Mann anblickte, der besonders heftig gestikulierte. Das musste anscheinend sein Vater sein. Und dort hinten, weit abseits, das war wohl seine Mutter. Sie lächelte Mut machend. Alles war genau so, wie er es beschrieben hatte. So, wie es aussah, musste sich sein Schicksal wiederholen.
Sie erkannte, wie Karl an einem Pfahl festgebunden wurde. Um ihn herum lag Stroh. Ein Mann hielt eine brennende Fackel in die Höhe.
Sheryll fühlte sich schlecht. Ihr Ritter Ganot würde erneut diesen gewaltsamen Tod erleiden, Jahrhunderte im Turm eingesperrt sein und wer wusste schon, ob dieses Mädchen noch einmal kommen würde? Hinter Sheryll glitzerte etwas. Was war das? Sie sah sich um und mit einem Mal erschien ein Lächeln in ihrer verzweifelten Miene. Nein, ihr Ganot würde nicht so sterben, ihr Ganot nicht. Denn sie war nicht Josephine. Sie war nicht diese Frau, die unfähig gewesen war, ihrem Geliebten zu helfen. Sie war Sheryll und sie würde das Schicksal wenden. Tod war eben nicht gleich Tod. Die Heldin dieses Tages, das würde sie sein.
Ganot erlebte alles noch einmal. Er fühlte sich wie in einem Déjà-vu, der einzige Unterschied jedoch war, dass er jetzt schon wusste, was danach passieren würde. Dort sah er seinen Vater, der erklärte, er sei nicht sein Sohn und da das Lächeln seiner Mutter. Alles war genauso wie beim letzten Mal. Auch seine Emotionen sahen ähnlich aus, nur kam eine unglaublich große Enttäuschung hinzu. Er hatte seine Chance verspielt. Nun musste er seinem Schicksal ins Auge sehen.
Da ertönte der Schrei, der für ihn alles veränderte.
"Neeeeeeeeeiiin!", er sah Josephine auf sich zukommen, in jeder Hand trug sie ein Schwert. Die düsteren Gestalten schienen auf ein Ereignis dieser Art nicht vorbereitet zu sein und standen nur verwundert da.
Mit dem Schwert in der rechten Hand durchschnitt sie den Strick, der ihn am Pfahl fest hielt und warf ihm dann das Schwert aus ihrer Linken zu. Mit einer Geste, die er schon tausendmal gemacht hatte, fing Ganot das Schwert auf.
"Was zum…", setzte er an, aber sie unterbrach ihn, "Sei ein Ehrenmann und kämpfe! Los, du bist doch kein Feigling!"
"Aber du bist eine Dame, ich kämpfe nicht gegen…", widersprach er.
"Du hast dafür dein Leben gelassen, dass Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer, und ich bin keine Dame, sondern eine Frau!", schrie sie und griff an. Automatisch parierte er den Hieb.
"Aber Josephine, ich liebe dich doch! Ich kann nicht gegen dich kämpfen!", versuchte er, sie aufzuhalten.
"Dann musst du es wohl lernen!", erneut stieß sie zu. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, sie zu töten, aber das einzige, was er tat, war, sich zu verteidigen. Sie bekämpften sich lange Zeit so, das Volk hielt den Atem an. So etwas war ihnen noch nicht untergekommen!
Plötzlich ertönte ein entsetzter, spitzer Schrei. Jeder drehte sich zu der Frau um, die ihn ausgestoßen hatte. Es war Ganots Mutter. Doch sie sagte nichts weiter, sondern deutete nur auf den Schauplatz des Geschehens.
Ganot musste wohl für einige Sekunden unaufmerksam gewesen sein, denn Sherylls Schwert hatte sich mitten in sein Herz gebohrt.
"Josephine, ich…", stöhnte er.
"Sag nichts…", flüsterte sie mit Tränen in den Augen, "ich liebe dich Ganot. Doch weil ich dich so sehr liebe, musste ich dich töten. Jetzt bist du frei. Jetzt kann nichts und niemand dich mehr festhalten. Du bist als Ehrenmann gestorben."
"Danke, Sheryll. Danke für alles", waren seine letzten Worte. Sanft küsste sie ihn auf den Mund, den einzigen Menschen, der jemals den Weg bis hin zu ihrem Herzen gefunden hatte und sich dabei nicht verlaufen hatte.
Weinend zog sie das Schwert aus seinem Körper, und er war tot.
Benommen erwachte Sheryll auf einer duftenden Wiese. War etwa alles nur ein Traum gewesen? Sie sah sich um. Das war genau der Ort, an den er sie zum Schlafen gebettet hatte. Derselbe Ort, an dem er gestorben war. Schaudernd sah sie sich um. Es war wunderschön hier… wenn er doch da wäre… Aber hatte es ihn überhaupt gegeben? Immerhin war sie gestern sehr erschöpft gewesen und hätte ihn sich auch einfach nur einbilden können. Am besten sie ging zum nächst besten Psychologen, dachte sie lächelnd. Diese Wahnvorstellung war nicht mehr normal.
Langsam sah sie auf ihre Hände hinab. Was war das denn? Sie waren voll von einer eingetrockneten, roten Flüssigkeit. Sheryll leckte daran. War das etwa… ja, das musste es sein.
Glücklich erhob sie sich und machte sich pfeifend auf den Weg zur Bahnstation. Ihre Tante wartete schließlich schon. In ihrem Übermut vergaß sie sogar, sich das Blut in dem Bächlein abzuwaschen. Aber wozu auch? Durch dieses Blut wusste sie, dass es den Menschen gegeben hatte, den sie von ganzem Herzen liebte. Ihren Ritter, ihren Ganot.
Und was konnte sie nur tun, um an ihn zu erinnern? An einer Wegegabelung blieb sie stehen und überlegte. Da gab es eigentlich nur eines, dachte sie. Ja, sie würde ihre Erlebnisse aufschreiben, um die Lust der Menschen an Geschichte zu entfachen. In Zukunft würde der Name Ganot eine ganz neue Bedeutung bekommen. Natürlich durfte auch Josephine nicht zu kurz kommen. Ganot und Josephine… ob die beiden wohl jemals Romeo und Julia das Wasser reichen konnten? Wenn sie es sich Recht überlegte, wollte sie eigentlich keinen Vergleich. Denn Ganot und Josephine… das war ihre Wahrheit.



Eingereicht am 03. Dezember 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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