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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Alltagsbegegnungen

© Klara Alkin


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Karl betrachtete die bauschigen Schneeflocken, die sich so still und sanft auf das Dach des Turms legten. Ihm graute davor, sich in die Kälte hinaus zu wagen, trotz des idyllischen Anblicks, der sich ihm bot. Zu angenehm erschien ihm das prasselnde Kaminfeuer hinter seinem Rücken und die Wärme, die davon ausging und die Tasse mit heißem Kamillentee, die er in der Hand hielt.
Sheryll befasste sich immer noch mit dem Projekt. Es belastet mich nur selbst, wenn ich an meinen freien Tagen immer nur an die Arbeit denke, dachte sie schließlich zum unzähligsten Mal. Um sich abzulenken, wendete sie ihren Blick auf die verschneite Winterlandschaft, die an ihr vorbeiraste.
Nadelbäume, die bis zum Wipfel mit Schnee bedeckt waren, Vögel, die nach Körnern pickten, Kinder, die einen Schneemann bauten und zahlreiche Häuser, die weihnachtlich geschmückt waren und in festlichem Glanz erstrahlten.
Widerwillig stellte Karl die Tasse auf den Tisch und hüllte sich in seinen gefütterten Wintermantel, den er sich für besonders frostige Tage zugelegt hatte. Er zog den Reißverschluss bis zum Hals hinauf zu und wickelte sich anschließend noch einen mehrere Meter langen Schal um. Als er aus dem Haus trat, wehte ihm beißend eisiger Wind ins Gesicht. Seine Augen tränten und jeder Atemzug verwandelte sich in seiner Nase zu einem brennenden, stechenden Schmerz.
Sheryll nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und zupfte einen Fussel von ihrem Chanel-Kostüm aus der letzten Saison. Die dicke und ungepflegt aussehende Frau ihr gegenüber war eingeschlafen und gab nun regelmäßige Schnarchtöne von sich. Sheryll schaltete ihr Notebook ein um eventuell wichtige E-Mails abzurufen. Während des Ladevorgangs tätigte sie schnell einen Anruf bei einem sehr einflussreichen Geschäftspartner. Nach einer Ewigkeit, wie es ihr schien, war das Programm endlich hochgeladen. "Keine neuen Nachrichten" - zeigte der Bildschirm an. Erleichtert klappte Sheryll das Notebook zu.
Karl zog seinen Schal mit jeder vergehenden Minute noch enger und starrte genervt auf seine Armbanduhr. Das Taxi sollte schon längst da sein.
Erleichtert atmete er auf, als endlich ein Wagen in die Straße einbog und vor seinem Haus hielt. "Zum Flughafen", murrte er den sympathisch aussehenden, bebrillten Fahrer etwas unhöflich an und schlug die Tür zu. Der Fahrer rümpfte kurz die Nase, nickte und fuhr los. Gedankenversunken betrachtete Karl den Himmel, der jetzt immer dunklere Farbtöne annahm und den Schnee dadurch noch strahlender weiß leuchten ließ, während der Fahrer amüsiert "Jingle Bells" trällerte und in gelegentlichen kurzen Pausen, Karl dazu zu bewegen versuchte, mit einzustimmen.
Die Abteiltür öffnete sich und eine etwas mollige Frau schob einen kleinen Wagen mit Snacks und Getränken herein. "Darf ich Ihnen vielleicht etwas zu Trinken oder zu Essen anbieten?", fragte sie höflich und deutete auf ihre mickrige Auswahl. "Nein, danke", antwortete Sheryll, woraufhin die Frau leicht enttäuscht ihren Wagen zum nächsten Abteil schob. Sheryll kramte in ihrem Koffer nach einem Modemagazin, als sich die Frau ihr gegenüber mit einem besonders lauten Schnarchton, der sich mehr wie das Grunzen eines Schweins anhörte, offensichtlich selbst aufweckte und verwirrt um sich blickte. Als sie die Orientierung wie es schien wieder gewonnen hatte, wandte sie sich begierig einer dick belegten Wurstsemmel zu.
Der Fahrer sang sein viertes "Jingle Bells" mit von Strophe zu Strophe höherer und lauterer Stimmlage und Karl wünschte sich immer mehr, nie in dieses Taxi gestiegen zu sein. Obwohl er den Fahrer mehrmals gebeten hatte, seine Singerei auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, in dem er sich nicht mehr im Taxi befindet, ließ sich dieser nicht von seiner Laune abbringen, im Gegenteil. Mit Karls zunehmender Missmutigkeit steigerte sich seine Fröhlichkeit. Keine hundert Meter entfernt schaltete die Ampel auf Rot, doch der Fahrer schien keine Anstalten zu machen, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, sondern stimmte "Stille Nacht" in opernverdächtig hoher Tonlage an und bewegte seine Hand impulsiv im Takt.
"Kindchen, Sie sehen ausgehungert aus! Wollen Sie vielleicht einen Bissen?", fragte die dicke Frau mütterlich und musterte Sheryll von Kopf bis Fuß, während sie ihr die Semmel entgegen hielt. "Nein, ich bin Vegetarierin", fuhr Sheryll sie an "Vielleicht sollten Sie sich lieber mit Ihrem eigenen Erscheinungsbild befassen, da hätten Sie nämlich eine Menge zu tun!", fügte sie gelassen hinzu, wobei ihr Blick an den fettigen Haaren der Frau heftete.
Die Frau funkelte Sheryll eine Weile zornig an, riss dann ihren Koffer aus dem Gepäcksfach und stürmte aus dem Abteil. Auf nimmer Wiedersehen, dachte Sheryll genervt und wandte sich ihrem Magazin zu.
"Die Ampel ist Rot!!!", brüllte Karl den Fahrer an. Doch zu spät, er raste mit 70 km/h über die Kreuzung und ein Reisebus konnte gerade noch rechtzeitig bremsen, bevor er sie gerammt hätte. Von allen Seiten ertönten laute Huptöne. "Was habt ihr für ein Problem?", keifte der Fahrer genervt und drückte ebenfalls auf die Hupe. Karl lief vor Wut kaminrot an. "Sie fragen, was die für ein Problem haben? Ich werde Ihnen sagen, was genau das Problem ist: Sie sind gerade bei Rot über eine Kreuzung gedonnert, ohne es überhaupt bemerkt zu haben! Wenn es genehm ist, würde ich gerne lebend am Flughafen ankommen, also konzentrieren Sie sich jetzt verdammt noch mal auf Ihre Arbeit und nicht auf irgendwelche Weihnachtslieder!", brüllte Karl den verdattert blickenden Fahrer an.
Sheryll war gerade in einen Artikel über Beziehungsprobleme und wie man sie löst vertieft, als die Abteiltür erneut aufglitt. "Ihre Fahrkarte bitte", sagte er der Schaffner. Sheryll durchstöberte ihre Handtasche, zog ihre Fahrkarte heraus und hielt sie ihm entgegen. Er nickte und schloss die Tür hinter sich.
Karl war endlich am Flughafen angekommen. Der Taxifahrer hatte die restliche Fahrt keinen Mucks mehr von sich gegeben und starr geradeaus gesehen. Er drehte nicht einmal das Radio lauter als "Merry Christmas" gespielt wurde und verrechnete Karl nichts für die Fahrt. Mittlerweile war es dunkel geworden und unzählige Sterne funkelten am klaren Himmel. Der Schneesturm hatte sich jedoch verschlimmert, also beschleunigte Karl seine Schritte, um so schnell wie möglich ins Warme zu kommen.
"Sehr geehrte Damen und Herren, wir erreichen in Kürze Frankfurt. Ladies and Gentlemen, in a few minutes we will arrive Frankfurt", ertönte die Durchsage im Zug. Sheryll zerrte ihren Koffer vom Gepäcksfach und verstaute das Magazin und das Notebook in ihrer Tasche. Es gingen bereits zahlreiche Abteiltüren auf und die Reisenden schleppten ihre Koffer und Taschen durch den Gang in Richtung Ausgangstür. Sheryll warf noch einen kurzen Blick in den Spiegel und zog ihren Lippenstift nach, bevor sie ebenfalls ihr Gepäck packte und es den Gang entlang schleppte.
Karl betrat die große Eingangshalle des Flughafens und versuchte, sich an den Informationstafeln zu orientieren, auf welchem Bahnsteig er musste.
Aufmerksam überflog er die Zeilen. Ganz unten las er endlich - ICE von Köln nach Frankfurt - Gleis neun. Er machte kehrt und folgte den Beschilderungen.
Hunderte Leute drängten sich durch die Halle und erschwerten ihm jedes Vorankommen. Ein Riese von Mann überrannte ihn fast, als er nach dem Duty Free Shop um die Ecke bog.
Der Zug rollte am Bahnsteig ein und kam mit einem Ruck zum Stehen. Sheryll kämpfte sich an zwei, sich um ein Stück Schokolade zankenden Kleinkindern vorbei und hievte ihren schweren Koffer aus dem Zug. Erschöpft rollte sie ihn am Bahnsteig entlang. Sie konnte die dicke Frau einige Meter entfernt erkennen, die von einem ebenso dicken Mann und einem kleinen Kurzhaardackel mit flacher Schnauze empfangen wurde. Der Dackel bellte und wimmerte vor Freude und sprang an ihren Beinen hoch, während sie den Mann umarmte. Die drei gaben ein derart komisches Bild ab, dass beinahe alle Vorbeigehenden sie anstarrten.
Direkt vor Sheryll stritten sich die beiden Kinder immer noch um das Stück Schokolade, während der Lautsprecher die Anschlussmöglichkeiten für die Reisenden erläuterte.
Sheryll kämpfte sich durch die Menge und als sie gerade die beiden Kleinkinder überholen wollte, stieß sie mit einem attraktiven braunhaarigen Mann zusammen. "Oh! Entschuldigung!", rief sie dem Mann im Weitergehen zu.
"Kein Problem!", schrie ihr Karl und hielt weiter nach seiner Mutter Ausschau ...



Eingereicht am 05. November 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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