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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Als Karl zum Fenster hinaus schaute

© Harri Schneider


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Sie seufzte und dachte an den langen Weg, der hinter ihr lag. Das Ziel erreicht zu haben erfüllte sie mit großem Stolz, sie musste nur noch ihre Unterschrift abgeben, und schon würde alles veröffentlicht werden, was ihr Team über das neue Medikament herausgefunden hatte. Bahnbrechend! Aber sie hatte gleichzeitig schon Angst vor der plötzlichen Leere, die sie überfallen würde, wenn wirklich alles erledigt war. Sie fiel dann immer in ein tiefes Loch. Nach der Vollendung einer Aufgabe, die ihre volle Energie und Aufmerksamkeit gefordert hatte, kam oft eine große Sinnlosigkeit auf, die Frage "Und jetzt?". Sheryll kannte dieses Gefühl schon lange. Während der Schulzeit war noch alles irgendwie geregelt gewesen. Auf jede Prüfung folgte eine neue Prüfung, auf jedes Schuljahr ein weiteres Schuljahr. Das erste Mal hatte sie das Gefühl nach ihrem Abitur gehabt, sie wusste damals zwar schon genau, dass sie Pharmazie studieren wollte und hatte auch den entsprechenden Notendurchschnitt erreicht, aber das Gefühl war trotzdem da gewesen. Eine Art Beklommenheit oder Angst. Während des Studiums war es dann öfter aufgetreten, nach großen Prüfungen und besonders nach dem ersten Abschnitt der pharmazeutischen Prüfung und nach ihrer Promotion, immer dann, wenn nicht unmittelbar eine andere Aufgabe mit großem Zeitdruck auf sie wartete. Und heute hatte sie besondere Angst davor, da ihre zukünftige Stelle im Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie in Berlin erst in sechs Monaten frei würde. Sie hatte nach diesem Projekt für den größten europäischen Pharma-Konzern zwar noch einige Recherche-Aufträge, aber nichts, was sie wirklich vollständig beanspruchen würde. Sie brauchte Stress um glücklich zu sein.
Karl betrachtete den Turm und verlor sich in seiner melancholischen Stimmung. Wie wunderbar überschaubar musste das Leben zur Zeit der Erbauung dieses Turmes gewesen sein, keine Autos, Flugzeuge, Computer. Damals war die Erfindung des Wasserrades eine großartige Innovation gewesen. Und heute? Jeden Tag gab es irgendwelche neuen und unglaublich wichtigen Dinge, die man kaufen musste, weil das Leben ohne sie nicht lebenswert war. Das behauptete zumindest die Werbung. Fortschritt wohin das Auge reicht. Jeder kann machen, was er will, absolute Beliebigkeit. Die Gesellschaft hat keine festen Strukturen mehr, nichts, woran man sich festhalten kann. Karl drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich eine neue an. Er ging zum Kühlschrank seines 30-Quadrameter-Appartments, mixte sich einen Gin-Tonic und ließ sich auf der roten Ledercouch nieder, das letzte Erinnerungsstück an bessere Zeiten. Das war jetzt zehn Jahre her, damals hatte er sein Studium abgebrochen um sich mit einem Freund selbstständig zu machen. Sie hatten eifrig Kredite aufgenommen um ihre kleine Internetfirma groß zu machen. Die ersten beiden Jahre lief es hervorragend an, aber dann kamen keine neuen Aufträge, der Markt war übersättigt. Sie hatten die Krise nicht kommen sehen. "Prost Karl, du ganz Großer, du Denker…", dachte er und nahm einen großen Schluck.
Sherryl verließ in Frankfurt den Zug und stieg in ein Taxi. "Zur Aventis Pharma bitte!" Es war gleich sechs und sie freute sich auf das Treffen mit den Mitgliedern ihres Forschungsteams. Sie fühlte sich ein wenig einsam.
Jetzt war sie tatsächlich schon ein ganzes Jahr Single, länger als je zuvor, und die Arbeit hatte dadurch natürlich einen besonders hohen Stellenwert.
Die Männer waren ihr immer schnell langweilig geworden, und sie zweifelte daran, dass es den "Richtigen" für sie geben könnte. Die Typen waren alle so oberflächlich, irgendwie schien nie jemand ihre Gedanken und Ängste zu verstehen. Aber sie blieb nicht lange bei diesen Gedanken, sie sah aus dem Seitenfenster und beobachtete das hektische Treiben der Menschen, die schnell von ihrem Arbeitsplatz nach Hause oder in die nächste Kneipe wollten.
Karl trank den zweiten Gin-Tonic, er wollte später noch ausgehen. Um 10 traf er seine frankfurter Freunde in ihrer Stammkneipe. Sie waren alle jünger als er. Studenten, unter ihnen fiel es nicht auf, dass er abends oft in der Kneipe saß und auch mal zu viel trank.
Sherryl kam aus der Abschlussbesprechung, es hatte alles etwas länger gedauert, als sie erwartet hatte. Aber jetzt war alles abgehakt. Sie hatten den Auftrag erfolgreich beendet. Joachim und Maria wohnten hier in Frankfurt, mit ihnen hatte sie am engsten zusammen gearbeitet. Maria hatte ihr während der Besprechung ein Zimmer in einer Pension gebucht, damit sie noch gemeinsam anstoßen konnten und nicht auf die Uhr sehen mussten. Sie fuhren gemeinsam in die Innenstadt. Joachim schlug eine Kneipe vor, in der er schon als Student mit seinen Kommilitonen jede bestandene Prüfung gefeiert hatte. Es gebe dort auch ordentliche Hausmannskost. Während des Essens unterhielten sie sich über dies und das. Sherryls Gedanken drifteten aber immer wieder ab. Jetzt hatten sie das geschafft, ja und? Für den Moment war es ein toller Erfolg, aber was zählte das in 100 Jahren, oder in der Ewigkeit. Was war der Sinn des Lebens? Da betrat ein Mann das Lokal. Er sah etwas müde und niedergeschlagen aus, aber seine Augen hatten ein gewisses Feuer. "Wow!", dachte Sherryl, aber warum sah dieser Mann traurig aus?
Karl hatte noch einen Spaziergang gemacht und darüber nachgedacht neu anzufangen, vielleicht eine andere Stadt. Das Studium wieder aufnehmen … Solche Gedanken hatte er oft, aber umgesetzt hatte er sie noch nie. Als er seine Stammkneipe betrat fiel im eine junge Frau auf. Saß sie da mit einem Pärchen. Sie hatte ihm hinterhergesehen, da war er sich sicher. Vielleicht sollte er sie ansprechen.



Eingereicht am 04. September 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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