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Karl und die Zeit

© Via Vow


Als Karl zum Fenster hinausschaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Als Karl sich daran machte, sich den Schlaf aus seinen Gliedern zu schütteln, fuhr ihm ein Schmerz durch Mark und Bein. Er musste wieder zurück und das schnell. Er arbeitete fieberhaft an seiner Rückreise. Bis in die frühen Morgenstunden hatte er sich gestern über seinen Schreibtisch gebeugt und komplizierte Berechnungen angestellt, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen die letzte Hürde zu nehmen. Mürrisch, immer noch verschlafen und vom Schmerz benommen sprach er in die Stille seines Zimmers: "Was soll's, schließlich habe ich alle Zeit der Welt"
Doch im selben Moment ermahnte er sich zur Vorsicht. Sein Zeitfenster war klein, ziemlich klein. Eigentlich zu klein, um den Auftrag erfolgreich ausführen zu können, aber er war der Einzige, der es schaffen konnte. Karl nahm ein technisches Gerät vom Schreibtisch und hielt es zwischen sich und dem entfernten Turm. Ein kaum hörbares Summen erwachte aus dem kleinen silbernen Kasten und informierte Karl mittels eines Displays, dass er noch ca. 4 Stunden hatte, bevor der "point of no return" gekommen war.
Karl fluchte. Er schnappte sich seine Tasche und verließ eilig das Zimmer.
Sollte er es nicht schaffen, den Auftrag erfolgreich zu beenden, würden schreckliche Dinge geschehen. Dinge, die den Lauf der Welt unwiderruflich verändern würden.
Sheryll war eben dabei, nochmals ihre Unterlagen auf ihre Vollständigkeit zu prüfen, als ein Ruck durch den Zug ging und ein Flackern durch die Wagonlichter fuhr. Ein für Sherylls Geschmack zu energisches Bremsmanöver folgte gleich darauf. "Wieso halten wir hier an? Wir sind mitten im Nirgendwo!", fragte einer der Passagiere. Alle Leute waren in heller Aufregung, als die Durchsage des Zugführers durch die Lautsprecher hallte: Meine Damen und Herren, soeben hat sich ein Unfall ereignet. Jemand ist vor den Zug gesprungen. Die Sicherheitsanlagen unseres Fahrzeugs sind deshalb ausgefallen. Wir bitten Sie, auf Ihren Plätzen zu bleiben, bis eine sichere Weiterfahrt gewährleistet ist. Rettungskräfte sind auf dem Weg. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit."
Das konnte nicht wahr sein! Das durfte nicht wahr sein! Sheryll lief es heiß und kalt den Rück hinab. Ihre Zeit war eh schon knapp bemessen gewesen und dann das! Sie musste handeln oder ihr Termin würde platzen und damit eine Menge Geld ins Klo gespült werden. Sheryll spähte aus ihrem Fenster. Ganz in der Nähe waren durch die Bäume Hausdächer und ein die Dächer überragender Turm zu erkennen. Sie musste handeln. Sie kramte ihre Sache zurück in die Tasche, zog sich ihre Jacke an und ging zu einer der Zugtüren. Wie durch ein Wunder konnte Sheryll die Zugtüre ohne Probleme öffnen und sie stieg auf das Schotterbett, das die Schienen einfasste. Nach ein paar weit ausholenden Schritten, bei deen ihr ein Absatz ihre Schuhs zu Bruch ging, war sie auf einer kleinen Wiese angekommen. Sie brach kurzerhand, jedoch nicht ohne einige derbe Flüche zum Besten gebend, den anderen Absatz ab und lief eine kleine Böschung hinauf zu den Häusern. Auf halber Strecke raschelte das Laub vor ihr. Sie sah auf und sah aus den Augenwinkeln nur noch eine schattenhafte Gestalt, die ihr wild gestikulierend entgegenlief und schon stieß sie mit ihr zusammen. Ein dumpfer Schlag und ein unsanfter Aufprall waren die Folgen.
Etwas benommen rappelte sich Sheryll wieder auf.
Vor ihr stand ein Mann, der sich Kopf und Schultern rieb. "Was um alles in der Welt macht..." Karl konnte seinen Satz nicht vollenden, denn Sheryll schlug ihm ihre Handtasche vor die Brust. "Das könnte ich Sie auch fragen!"
Sheryll unternahm den vergeblichen Versuch, ihre Frisur in eine angemessene Form zu richten. "Ich habe jetzt wirklich keine Zeit für solche Geschichten!", erwiderte Karl "Dito!" Sheryll klang wütend.
"Wo wollten Sie eigentlich hin?", fragte Karl.
"Dort hoch um mir ein Taxi zu rufen. Ich habe einen Termin in Frankfurt. Und Sie?"
"Die Welt retten."
Irgendetwas in Karls Tonfall sagte Sheryll, dass er nicht log und dennoch klang es sehr absonderlich. "Und das wollten Sie hier auf dieser Böschung tun?", fragte Sheryll und lächelte.
"Wenn Sie wüssten!", entgegnete Karl und lächelte nicht. "Da ich eh nicht viel Zeit habe und unsere Begegnung etwas Besonderes ist, kann ich Ihnen, denke ich, die Wahrheit sagen, wir werden uns ohnehin nie wieder sehen, nicht wenn ich es nicht will. Ich bin Zeitreisender. Ich habe den Auftrag, den Turm dort oben zu sprengen. Ich kann und will Sie mit Einzelheiten nicht belästigen. An Ihrer Stelle würde ich jetzt mit mir in Deckung gehen."
Karl bückte sich ins Gestrüpp und Sheryll tat es ihm gleich. Augenblicke später erschütterte eine gewaltige Detonation den Erdboden. Sheryll schrie auf. "Sie sind verrückt!"
Sheryll rannte davon.
Nachdem Sheryll rechtzeitig zu ihrem Termin kam und ihr Projekt mit Erfolg abschloss, lag sie nun völlig erschöpft auf dem Bett ihres Hotelzimmers. Sie sah die Nachrichten im Fernsehen. Der Bericht ging um ein Flugzeug, das in den Getreidefeldern vor Frankfurt notlanden musste, da es zu technischen Defekten während des Fluges kam. Der Pressesprecher der Frankfurter Polizei gab ein Interview: "...fragen Sie mich nicht, was dort vorher geschehen ist, aber soweit wir wissen, ist eine halbe Stunde bevor die Maschine hier über den Ort donnerte aus bisher unbekannten Gründen dieser Turm, den sie hier in seinen Trümmern liegen sehen, einem Anschlag zum Opfer gefallen. Fragen Sie mich nicht, was passiert wäre, wenn die Maschine gegen diesen Turm geflogen wäre und das wäre sie mit Sicherheit, denn der Pilot hätte den Kurs nicht ändern können. Komischerweise müssen wir dem Attentäter danken dafür, dass er den Turm gesprengt hatte. Es scheint fast so, als hätte er gewusst, dass kurz darauf die Flugbahn einer außer Kontrolle geratenen Maschine seinen Weg kreuzen würde. Der Präsident hätte nicht überlebt wenn ..."
Sheryll wurde blass. Wie zum Teufel konnte der Fremde das gewusst haben? War er wirklich Zeitreisender? Sheryll versank in ihren Gedanken, wurde aber alsbald aus ihnen gerissen, als es an der Tür klopfte. Sheryll stapfte zur Tür und öffnete sie. Sheryll wurde noch blasser. Vor der Tür stand ... der Fremde. Um Jahre gealtert. Doch Sheryll erkannte ihn sofort.
"Stell bitte keine Fragen, Sheryll. Ich bin gekommen um dich zu retten. Sie sind hinter dir her. Sie werden bald hier sein. Es ist jetzt sehr wichtig, dass du mir vertraust. Pack deine Sachen zusammen und komm mit mir."
Sheryll sagte nichts. Sie ging ins Hotelzimmer zurück und tat wie ihr geheißen.



Eingereicht am 25. August 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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