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Höhere Gewalt

© Helga Schittek


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnellstraße beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Seit Antritt der Fahrt wanderten ihre Blicke zwischen den Zeilen und Spalten von rechts nach links als gelte es, mit den Zahlenkolonnen auf dem Bildschirm eins zu werden. Nur gelegentliches Zischen und die Bewegungen ihrer Brauen ließen die Mitreisenden erahnen, dass es sich bei der jungen Frau um ein lebendiges Wesen handelte.
Erst als eine Coladose durch das Abteil rollte, knallte die 26-Jährige ihren Laptop zu. Sie gähnte, schüttelte ihre schulterlangen, schwarzen Haare in den Nacken, kramte einen Spiegel aus ihrer Handtasche und musterte den schnarchenden Inder in der gegenüber liegenden Sitzreihe.
Sheryll Walter hüstelte, verzog die Mundwinkel. - Fahrten in der 2. Klasse waren ihr zuwider!
Sie gehörte in die Welt der Reichen und Schönen. Ihre Aufgabe war es, Sozialwohnungen in Luxusherbergen zu verwandeln.
Es war Ende Februar, und ein Temperatursturz ließ den Regen, der während der letzten fünfzehn Minuten eingesetzt hatte, zu Eis gefrieren: auch die Oberleitungen. Der ICE verlangsamte seine Fahrtgeschwindigkeit. Dann stand er still.
"Das nicht auch noch!", schimpfte Sheryll.
Der Zugbegleiter, der auf dem Weg zum Dienstabteil den Waggon durchquerte, fuhr herum.
"Höhere Gewalt!", erklärte er mit einem Achselzucken.
"Das machen Sie bitte meinen Geschäftspartnern plausibel. Im Gegensatz zu Ihrem Arbeitgeber muss ich meine Termine einhalten. Wenn Sie mir bitte die Tür öffnen würden: Um ein Taxi kümmere ich mich selbst!", keifte die 26-Jährige. Ihre Nasenflügel bebten. Sie ignorierte die Einwände der Mitreisenden und deutete auf den Alten Turm. "Das Kaff hier wird hat ja wohl einen Namen haben, oder?"
Sozialpädagoge Karl Emmerich, ein sanfter Riese mit Nickelbrille, faltete die Tageszeitung und nippte an seiner Teetasse. Er hatte die Wetterkapriolen von seinem Fensterplatz im Gastraum der kleinen Pension aus verfolgt.
Willi, ein dreißigjähriger, rothaariger Mann mit Down-Syndrom, trat zu ihm heran und beugte sich über den Tisch.
"Weshalb fahren denn da draußen keine Autos?"
"Blitz-Eis", erklärte Karl, kraulte seinen schwarzen Vollbart und erhob sich.
"Da geht keiner freiwillig für die Tür."
Vor fünfzehn Jahren hatte er den verwaisten Gutshof neben der Kirche erstanden und in ein Wohnprojekt für psychisch und geistig behinderte Erwachsene mit Pension- Gaststättenbetrieb verwandelt, in dem Behinderte und Nichtbehinderte zusammen arbeiteten. - Dieses Projekt war Karls persönliche Herzenssache: sein Baby!
Doch Chefallüren waren dem 51-Jährigen ein Gräuel. Er empfand es als Gnade, zwanzig Menschen Heim und Broterwerb bieten zu dürfen. - Eine Gnade, die ihn jeden Tag aufs Neue mit Dankbarkeit und Demut erfüllte!
Willi stellte den Servierwagen vor dem Küchenschalter ab und drehte sich um.
"Da!", murmelte Willi und zeigte mit seinem fleischigen Zeigefinger auf eine junge Frau mit Koffer und Reisetasche, die den Gehsteig entlang schlitterte.
Ohne einen Gruß, und ohne eine Miene zu verziehen, stolzierte Sheryll in den Gastraum und ließ sich an einen Zweiertisch neben der Theke nieder.
Karl verspürte ein undefinierbares Gefühl in der Magengegend. Ein eiserner Ring drohte, seinen Brustkorb zusammen zu pressen.
Sheryll bestellte einen Toast Hawaii und erkundigte sich nach einer Übernachtungsmöglichkeit.
"Alle Zimmer sind mit Dusche, WC und TV mit Satellitenempfang ausgestattet", erklärte Karl und sah an ihr vorbei.
"Mein Name ist Sheryll Walter, Walter-Immo Köln", flötete sie.
Dich hätte ich unter Millionen erkannt, dachte Karl.
"Entschuldigen Sie meine Neugierde", lächelte er. "Alle Welt kennt Sie und Ihre Mutter. Ihr Vater arbeitet ...?"
Die junge Frau machte eine kreisende Handbewegung und seufzte: "Den habe ich mit fünf verloren. Er war als Leiter einer Drogenberatungsstelle in die falschen Kreise geraten. Eines Tages ist er abgetaucht. - Wir vermuten, dass er an einer Überdosis gestorben ist."
Sheryll kaute auf ihrer Oberlippe und starrte auf die Tischdecke. Ihre Offenheit erschreckte sie.
"Das ist ja entsetzlich", murmelte Karl und verschwand in der Küche.
Das Atmen wurde ihm zur Qual. Er öffnete die oberen Knöpfe seines Hemdes und griff zu seinem Asthma-Spray. - In einem früheren Leben war er verheiratet und Vater einer Tochter. Er raufte sich die Haare, versuchte die Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen.
"Das hier ist wohl keine gewöhnliche Gaststätte?", meinte Sheryll, nachdem Willi sich zurückgezogen hatte.
"Ich bin Sozialpädagoge, und vor meinem Personal brauchen Sie wirklich keine Angst zu haben", erwiderte der 51-Jährige. Er beschrieb sein Projekt und führte Sheryll zu den Zimmern in der ersten Etage.
Die 26-Jährige grinste, während sie die Stufen empor stiegen. Sie erinnerte sich an die Prophezeiung der Wahrsagerin, die sie vor Wochen konsultiert hatte: "Noch in diesem Winter werden Sie einem Mann begegnen, der Ihr Leben auf den Kopf stellen wird."
"Tach! Die Koffer habe ich ins Zimmer getragen", nuschelte Monika und trat aus dem Abstellraum.
Sheryll öffnete die Zimmertür einen Spalt und stieß im selben Augenblick einen Schrei aus: "Die dumme Kuh hat den Laptop hochkant vor den Schrank gestellt!"
"Ich bin nicht dumm", knurrte Monika und stapfte auf.
Sheryll legte den Kopf in den Nacken und wandte sich ab.
Karl zuckte zusammen. Dann packte er Sheryll am Oberarm.
"Wie wär's mit einer Entschuldigung?", zischte er.
"Loslassen!", tobte sie.
Karl schüttelte den Kopf: "Wir warten!"
"Das ist der Gipfel, Sie Fle...!", schimpfte sie, bevor seine Hand auf ihre Wange klatschte. "Das hat noch niemand gewagt!", schnaufte sie und legte eine Hand auf ihre Bronchien.
"Hier, nimm mein Spray, Celina!", rief Karl.
Sherylls Stimme erstickte in Tränen.
"Celina? ... Das ist mein zweiter Vorname. Nur mein Vater hat mich Celina genannt", stammelte sie und schlang beide Arme um seinen Hals. "Du hast mir so gefehlt!"
"Deiner Mutter war jedes Mittel recht, uns von einander fern zu halten."
"Ich fass es nicht!", rief Sheryll. "Oh, mein Gott!"
Karl lachte: "Du darfst ruhig weiter Papa zu mir sagen!"



Eingereicht am 18. Mai 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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