Die Burg
© Claudia Sobiegalla
Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnellstraße beträgt die Fahrzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden ...
In Gedanken ging sie immer wieder das Gespräch mit ihrem Chef, dem Kulturdezernent, durch. "Du musst sie dazu kriegen, das alte Gemäuer zu kaufen. Nur so können wir es vor dem Verfall retten. Zeig ihr den Alten Turm aus dem 14. Jahrhundert. Frauen sind doch so romantisch oder etwa nicht?"
Ja, ja, Frauen sind romantisch, aber auch so romantisch, dass sie eine baufällige alte Burg kaufen würden, um sie zu restaurieren?
Frau von Stein von der Stein & Company, schwamm zwar im Geld, aber gerade deshalb wurde sie von allen möglichen Leuten dazu angehalten, irgendetwas zu kaufen, zu restaurieren oder etwas zu spenden. Und jedes Anliegen war natürlich immens wichtig. Sheryll musste sich also etwas ganz Besonderes einfallen lassen, um Frau von Stein zu beeindrucken.
Jäh wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als der Zug in den Bahnhof einfuhr und mit einem Ruck zum Stehen kam. "Das ging aber auch schon mal besser", murmelte sie verärgert, während sie den Inhalt ihrer heruntergefallenen Tasche vom Boden aufsammelte.
Keine Zeit, sich zu ärgern, sie musste sich beeilen. Das war ihre Haltestelle, sie hatte sie beinahe verpasst. Nun aber schnell, bevor der Zug sich erneut in Bewegung setzte.
Mit einem Satz sprang sie aus dem Zug, Ihre Reisetasche hatte sie zuvor mit Schwung auf den Bahnsteig geschmissen.
"So, das wäre also erst einmal geschafft!" Sheryll warf einen Blick auf ihr kleines Notitzbüchlein, das sie immer bei sich trug. "Zur Krone". Kein sehr origineller Name für einen Gasthof! Sei es drum. Die Hauptsache war, sie konnte endlich aus diesen Kleidern raus. Sheryll hatte das Gefühl, die Sachen bereits drei Wochen zu tragen! Was freute sie sich auf eine heiße Dusche und eine frische Bluse.
Ein Blick auf Ihre Armbanduhr sagte ihr, dass sie sich besser beeilen sollte, sonst würde es nichts mehr werden mit der heißen Dusche. In zwei Stunden war sie bereits mit Frau von Stein an der Burg verabredet.
Der Leihwagen holperte den unebenen Weg zur Burg hinauf. "Ich werde zu spät kommen, verdammter Mist!" Sheryll ärgerte sich über sich selbst. "Dass ich es auch niemals schaffe, pünktlich zu sein!" Obwohl sie nun wirklich nichts dafür konnte, dass ihr die Schafe den Weg versperrt hatten. Ausgerechnet jetzt und mitten in Frankfurt - das gab es doch eigentlich gar nicht. Wer rechnete schon mit Schafen in einer Großstadt?
Sie jedenfalls nicht.
Endlich! Der Parkplatz war in Sicht. Schnell setzte sie den Kleinwagen in die Parklücke und stieg aus. Jetzt warf sie noch schnell einen Blick auf die Wagenscheibe, in der sie sich spiegelte, ihre widerspenstige blonde Locke wurde hinter das Ohr gesteckt und los ging es. Frau von Stein wartete bestimmt schon.
Als Sheryll in dem kleinen Burgcafé ankam, konnte sie die Dame nirgends entdecken. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie war gerade mal sieben Minuten über der verabredeten Zeit! Frau von Stein war doch hoffentlich noch nicht wieder gegangen? Das wäre ja eine Katastrophe! Was sollte Sheryll denn ihrem Chef erzählen? "Tut mir leid Chef, eine Schafherde hat uns das Geschäft vermasselt?"
Nach einiger, vergeblicher Wartezeit ging sie enttäuscht wieder nach draußen und beschloss, sich dieses alte Gemäuer einmal genauer anzusehen, wenn sie nun schon mal da war. Ihr Zug ging sowieso erst übermorgen. Sie hatte also genug Zeit.
Sheryll kaufte sich eine Eintrittskarte und schritt über die Zugbrücke, direkt auf das große Eingangstor zu.
Schon als sie in den Burghof trat, hatte sie das Gefühl, in eine andere Zeit einzutauchen. Sie ging weiter, fasziniert von der Atmosphäre, die diese Burg verströmte. Fast hatte Sheryll den Eindruck, das Gemäuer wollte ihr Geschichten aus einer längst vergangenen Zeit erzählen. Sie ging weiter und gelangte in einen Garten, der sehr verwildert schien. Aber zwischen dem Unkraut konnte sie auch die Schönheit erkennen, die dieses Stückchen Grün einmal gewesen war. Sie setzte sich auf eine Bank und genoss den Anblick der Blumen und die Ruhe.
"Es ist schön hier, nicht wahr?" Sheryll wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen. Den Mann, der jetzt neben ihr saß, hatte sie gar nicht kommen hören. "Oh, entschuldigen Sie vielmals, ich wollte sie nicht erschrecken. Mein Name ist Karl. Nennen Sie mich einfach Karl."
"Ja in der Tat, ich habe Sie wirklich nicht gehört, mein Name ist Sheryll Winter."
"Sehr erfreut Frau Winter. Sie sind zum ersten Mal hier, nicht wahr?"
"Sieht man mir das an?"
"Ja allerdings", schmunzelte ihr Nachbar. "So wie Sie diesen Garten und die Umgebung betrachten…", er lachte.
Sheryll hatte noch niemals in ihrem Leben so eisblaue Augen gesehen wie die ihres Gegenübers. Als ihr bewusst wurde, dass sie ihn anstarrte, senkte sie schnell den Blick.
Um von der Situation abzulenken, fragte sie: "Und Sie scheinen die Burg gut zu kennen?"
"Das könnte man so sagen", erwiderte er. Auf ihren fragenden Blick hin antwortete er: "Meine Großmutter war früher oft hier Gast. Sie war mit den Eigentümern befreundet. Im Sommer war es herrlich hier. Für meinen Bruder und mich war es der reinste Abenteuerspielplatz. Leider sind die Eigentümer im vergangenen Jahr verstorben und ihr Besitz fiel an die Stadt. Nun ist wohl kein Geld mehr da, diese Anlage hier in Schuss zu halten, es verkommt zusehends." Traurig schaute Karl auf die vor sich hin kümmernden Rosenstöcke.
"Ja, sie haben Recht", erwiderte Sheryll, "es ist eine Schande. Aber die Stadt will dieses Anwesen verkaufen. Eigentlich sollte ich heute hier die potentielle Käuferin treffen, aber ich habe sie wohl verpasst. Wissen Sie, eigentlich wäre ich ja pünktlich gewesen, aber mir mussten ja diese blöden Schafe über den Weg laufen! Schafe! Mitten in einer Großstadt! Und ich stehe mit meinem Auto mittendrin! Ja und dann bin ich natürlich zu spät gekommen und die Käuferin war schon weg. Dabei hätte diese wunderschöne Burg es wirklich verdient, restauriert zu werden! Als Kind habe ich mir immer gewünscht, auf einer Burg zu leben. Ganz so, wie in meinem Lieblingsmärchen, dem Froschkönig. Oh, ich könnte mich über mich selber ärgern - warum bin ich nur nicht eher losgefahren?"
Sheryll fragte sich, warum sie das einem wildfremden Menschen erzählte, eigentlich ging es ihn ja gar nichts an, aber irgendwie hatte sie bei Karl das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen.
Ihm erging es wohl ebenso, denn während ihres Redeschwalls konnte er den Blick nicht von ihr lassen. Ihm gefiel, wie sie redete und wenn sie in Rage kam, blitzten ihre grünen Augen und es bildeten sich kleine rote Flecken auf ihrer Nasenspitze.
Diese Frau musste er unbedingt wieder sehen! "Was halten Sie davon, wenn ich Sie morgen gegen 19.30 Uhr abhole und zu dem besten Italiener in ganz Frankfurt ausführe?"
Verdutzt blickte Sheryll ihn an. "Also ich … ja, warum eigentlich nicht? Ich wohne im Gasthof Zur Krone", erwiderte sie eine Spur zu schnell.
Plötzlich war ihr ganz warm. Lag es daran, dass die Sonne inzwischen vom Himmel brannte oder doch vielleicht an den umwerfend weißen Zähnen und den blauen Augen, die ihr entgegenstrahlen?
"Also gut, dann morgen" Karl grinste. "Ich muss jetzt leider los. Hier ist meine Karte, damit sie auch wissen, wer Sie morgen entführen wird."
Er reichte ihr eine weiße, seidenbezogene Visitenkarte, verbeugte sich und wandte sich zum Gehen.
Sheryll starrte ihm nach. Sie hatte tatsächlich morgen ein Date mit dem bestaussehendsten Mann, der ihr seit langem begegnet war. Ihre Freundin würde platzen vor Neid!
Endlich, nachdem Karl um die Ecke verschwunden war, fasste sie sich wieder und warf einen Blick auf die edle Visitenkarte.
Dort stand in geschwungenen Buchstaben Karl von Stein - Stein & Company.
Eingereicht am 28. April 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.
Wenn Sie einen Kommentar abgeben möchten,
benutzen Sie bitte unser
Diskussionsforum.
Unser Autor / unsere Autorin ist sicherlich
genau so gespannt auf Ihre Meinung wie wir und all die anderen Leser.