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Schicksal?

© Sarah Kluge


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden …
Missmutig lege ich das Buch zur Seite. Das klingt mir zu sehr nach Schicksal mit einer gehörigen Portion Romantik und dazu bin ich heute absolut nicht in der Stimmung. Mit gerunzelter Stirn starre ich den dicken blauen Band vorwurfsvoll an, als ob diese Ansammlung von Papier und Druckerschwärze etwas für meine schlechte Gemütsverfassung könnte. Die Hoffnung, dass eine Tasse Tee meine Laune vielleicht heben würde, wird bereits nach kurzer Zeit zerschlagen. Es ist nämlich gar keiner mehr da. Ein schneller Blick aus dem Fenster sagt mir, dass das Wetter sich seit heute morgen nicht zum Besseren verändert hat. Es sieht aus als könnte jeden Moment ein kräftiger Regenguss aus den bleigrauen Wolken hervorbrechen. Soll ich trotzdem gehen und neuen Tee besorgen? Eigentlich mag ich die angenehme Wärme meiner Wohnung zwar nicht verlassen, aber irgendwann muss ich ja ohnehin los. Wieso also nicht gleich?
Mit einem ergebenen Seufzer pelle ich mich aus dem weichen Sessel, schnappe mir meine Regenjacke, man will schließlich auf alles vorbereitet sein und trete vor die Tür. Im Treppenhaus ist es dämmrig. Weil die Lampe schon seit Wochen nicht mehr funktioniert, kenne ich den Weg durch das, über Jahre hinweg langsam angehäufte Gerümpel im Hausflur inzwischen schon fast im Schlaf. Es ist seltsam still heute, als ob alle Bewohner noch im Winterurlaub oder vielleicht auch im eigenen, ganz persönlichen Winterschlaf wären. Das Einzige was ich hören kann ist das dumpfe, hallende Geräusch meiner eigenen Schritte.
Selbst draußen auf der Straße ist es ungewöhnlich leer und still. Ich achte jedoch nicht so sehr darauf, stopfe Kopfhörer in die jetzt schon kalten Ohren und schalte die Musik ein. So abgelenkt werde ich hoffentlich den Weg zum Teeladen als weniger anstrengend empfinden. Ein letzter misstrauischer Blick zum Himmel lässt mich froh darüber sein dass ich die Regenjacke anhabe, denn lange kann es jetzt nicht mehr dauern bis sich da oben die Schranken öffnen.
Als ich an der schon leicht baufälligen Kirche vorbei komme, muss ich unwillkürlich wieder an das Buch denken, das nun zu Hause auf meinem Beistelltischchen liegt. War da nicht auch die Rede von einem alten Bauwerk? Ein Turm war es glaube ich. Der Turm dieser Kirche sieht schon ein wenig windschief aus, aber das scheint niemanden zu kümmern. Wer geht auch heute noch zur Andacht?
Jetzt fehlt nur noch die schicksalhafte Begegnung, denke ich mit leicht ironischem Lächeln auf den Lippen, während ich schon die ersten eisigen Regentropfen in mein Gesicht platschen fühle und dabei unwillkürlich die Schultern hochziehe. Dann würde ich hier den Mann meiner Träume treffen und ihn schließlich nach einigen unterhaltsamen Verwirrspielchen genau in dieser Kirche heiraten. Ich würde mich sogar gut mit meiner Schwiegermutter verstehen und irgendwann drei niedliche und absolut goldige Kinder zur Welt bringen, die ich abgöttisch liebe. Es wären wahre Engel die, trotz meiner liebenswürdig tollpatschigen Unfähigkeit in der Erziehung, Fremden gegenüber eine ausgesuchte Höflichkeit an den Tag legen. Abgesehen von einigen nebensächlichen Problemen, die wir natürlich mit Bravour meistern würden, wäre unser Leben voller Harmonie und Freude bis wir dann zusammen in unserem hart erarbeiteten kleinen Ferienhaus in der Provence unseren geruhsamen Lebensabend verbringen könnten.
Allein die Vorstellung lässt mir heute einen kalten Schauet den Rücken hinunter laufen. Hastig gehe ich weiter um meinen eigenen unerträglich zuckersüßen Gedanken zu entfliehen.



Eingereicht am 25. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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