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Als Karl zum Fenster hinaus schaute oder Die etwas andere Auswärtsfahrt

© Christian Schmidt


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Karl war schnell unterwegs und so konnte er auch nicht lange bei den Sehenswürdigkeiten rechts und links der Strecke verweilen, aber diesmal musste er wenigstens nicht selber fahren. Diesmal konnte auch er sich ein paar Flaschen Bier genehmigen auf dem Weg zum Auswärtsspiel in Nürnberg. Er war mit seinen 3 besten Fußball-Freunden auf der A3 unterwegs und hatte gerade Montabaur passiert. Obwohl sie noch nicht lange unterwegs waren, lagen schon etliche leere Flaschen Bier in den eigens dafür vorgesehenen Tüten. Es konnte sich also nur noch um Minuten handeln, bis der erste nach einer Pinkelpause verlangte. "Pinkelpause", ertönte es von hinten, Jürgen war also der Erste. "Jetzt noch nicht, wir sind doch gerade erst losgefahren", konterte Achim, der diesmal, ganz zu seinem Unwillen fahren musste. "Pinkelpause, Pinkelpause", Dirk stimmte jetzt mit ein und auch Karl verspürte einen ersten Drang. "Komm, lass uns gleich mal irgendwo halten", bat Karl nun Achim, der widerwillig zusagte: "Aber eine halbe Stunde müsst ihr noch aushalten, sonst kommen wir doch nie an!"
Sheryll war auch schnell unterwegs, noch schneller als Karl "flog" sie mit 277 km/h Richtung Frankfurt. Die meisten Fahrgäste waren gebannt von der Anzeige der Geschwindigkeit, aber Sheryll hatte dafür nichts übrig, schließlich war sie dies gewohnt als Zugbegleiterin der DB. Sie war schon froh, auf der neuen Strecke eingesetzt zu werden, aber ihre Arbeit war eigentlich immer gleich, nur noch schneller musste sie sein, so wie der Zug.
Sheryll lebte in Köln und dies war für den neuen Job ideal, denn der Kölner Hbf war schließlich ein großes Drehkreuz in Europa. Sie wartete gerade auf frischen Kaffee für die Zuggäste, als der Zug unerwartet langsam wurde und schließlich ganz stoppte. "Nicht schon wieder Probleme mit den Bremsen", dachte sich Sheryll, aber genau so war es, wie der Zugführer kurz darauf mitteilte. Der Zugführer forderte nach einigen Minuten die Gäste auf den Zug zu verlassen und zum nahe gelegenen Rastplatz an der A3 zu gehen. Dort müsste man leider warten, bis mehrere Busse kämen um die Gäste nach Frankfurt zu bringen, da der Schaden wohl gravierender sei als anfangs angenommen.
Sheryll verließ missmutig den Zug und leitete die Gäste hoch zum nahe gelegenen Parkplatz direkt an der A3 Richtung Frankfurt. Der Parkplatz befand sich bei Wiesbaden, also kurz vor dem eigentlichen Ziel. Sheryll ging gerade die Böschung hoch und drehte sich zu den Fahrgästen um, als etwas auf sie zustolperte, sie mitriss und wieder die Böschung hinunter beförderte.
Nach einer schier endlosen Zeit im Auto und beinahe erdrückendem Harndrang, fuhr Achim endlich auf einen Parkplatz. Er hatte nur Cola getrunken und davon auch nicht allzu viel. Alle anderen im Auto hatten indes schon einige Flaschen Kölsch getrunken und ihnen drohte subjektiv die Blase zu platzen. "Halt an, halt endlich an, ich kann nicht mehr!", rief Jürgen zum wiederholten Male. Als der Wagen endlich stoppte, fiel Dirk beinahe aus dem fahrenden Auto. Er rappelte sich allerdings schnell hoch, öffnete in Windeseile seine Hose und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Jürgen stolperte, Fußballlieder singend, ins nächste Gebüsch und entleerte sein Blase mit einem lauten Seufzen. Karl ging nach links und etwas nach unten. Die Hose hatte er schon geöffnet und auch sein bestes Stück schon rausgeholt. So ging er also noch etwas weiter nach vorne um freien Blick zur Bahnstrecke zu haben, vielleicht kam ja gerade der neue ICE 3 vorbei, den wollte er doch mal mit 300 km/h vorbeibrausen sehen.
Der ICE 3 war tatsächlich da, nur fuhr er nicht sondern stand direkt unten vor dem Parkplatz. Aber nicht nur ein stehender Zug auf einer Hochgeschwindigkeitsstrecke war erstaunlich, auch die Tatsache dass ca. 100 Menschen direkt auf ihn zukamen war überraschend. Allen voran ging eine hübsche Zugbegleiterin, aber dafür hatte Karl jetzt keine Augen, denn er hatte in der Hektik gerade seinen Penis im Reißverschluss der Jeanshose eingeklemmt. Voll Panik und dazu noch betrunken versuchte er ihn zu befreien, er wollte schließlich nicht mit offener Hose eine ganze Reisegesellschaft begrüßen. Die Zugbegleiterin war schon fast direkt vor ihm, hatte ihn aber noch nicht gesehen, als es geschah. Karl stolperte, die Hose immer noch offen und voller Pinkelflecken, der Zugbegleiterin entgegen, verlor vollends den Halt und fiel auf sie. Auch sie konnte sich nicht auf den Beinen halten und beide kullerten die Böschung hinunter.
Sheryll und Karl fanden tatsächlich eine Schneise durch die Zuggäste und kamen erst kurz vor den Gleisen zum Halten. Sheryll rappelte sich als erste auf und sah nun auch erstmals den jämmerlich wirkenden Mann, der schmerzverzehrt und mit offener Hose vor ihr lag. Während Sheryll unzählige Beschimpfungen und Fragen in Rekordzeit los wurde, rief Karl einfach nur: "Ich wollte nur pinkeln, nur pinkeln. Sorry, sorry, sorry." Achim und die anderen Fahrgäste waren nun auch bei den beiden und kümmerten sich um sie. Die Worte Lüstling, Spanner waren noch harmlos, aber letztlich wurde die Situation auch mit Hilfe von Karls Freunden aufgeklärt. Niemand war verletzt worden, nur die Kleidung von Sheryll war ziemlich lädiert. Sie tauschten Adressen aus und Karl versicherte - er hatte inzwischen alles wieder gut verpackt - für den Schaden aufkommen zu wollen.
Die Fahrt ging schließlich weiter und Nürnberg wurde pünktlich erreicht. Karls peinliches Abenteuer war natürlich das Gesprächsthema im Fanblock. Der Tag ging mit einem 1:0 Sieg der Gäste gut zu Ende und die Heimfahrt wurde wieder feucht fröhlich. Achim hielt diesmal früher und der Parkplatz bei Wiesbaden links, besser rechts, liegen gelassen.
Sheryll erzählte natürlich auch allen Freunden von ihrer Begegnung der lächerlichen Art und so hatten beide wenigstens eine tolle Geschichte mehr im Fundus ihrer Lebenserinnerungen. Als sie 3 Monate später, pünktlich zum Saisonstart der Bundesliga ihren Briefkasten öffnete, fand sie darin zwei Eintrittskarten für ein Fußballspiel. Auf dem beigefügten Zettel stand:
"Liebe Sheryll, ich hoffe, du nimmst die Einladung an und kommst. Diesmal ist es ein Heimspiel, das ist sicherer! Viele Grüße. Karl"



Eingereicht am 28. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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