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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Als Karl zum Fenster hinaus schaute

Von Wolfgang Nöckler


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Wie von einem Blitz gestreift erwachte Karl plötzlich aus seinen Tagträumen und ermahnte sich, konzentriert zu bleiben. Wie oft hatte er den Turm nicht schon betrachtet, doch niemals war er dabei so beunruhigt gewesen. `Wenn nur alles gut geht´, dachte er bei sich und nahm den Telefonhörer. Er wählte und wartete.
Es läutete, einmal, zweimal, zu oft; Karl legte auf. Er hatte jetzt nicht die Muse zu telefonieren.
Sheryll hatte indessen einige Zeit damit verbracht, den ersten Satz ihrer Schlussrede im Kopf durchzugehen. Immer und immer wieder begann sie tonlos ihr "Meine hoch geschätzten Kollegen und Kolleginnen, es ist so weit: endlich", dann stockte sie und dachte an Variationen in Stimme, Mimik, Ausdruck - und begann von Neuem...
"Die Fahrkarte bitte!"
Der Schaffner hatte sich ihr zwar von vorn genähert, trotzdem war sie seiner nicht gewahr geworden, und so erschrak Sheryll erst einmal, als sie die Aufforderung des Bahnbediensteten vernahm. Doch rasch war sie wieder gefasst und begann, in ihren Taschen nach der Fahrkarte zu suchen.
Karl hatte auf seinem Tisch herumlümmelnde Unterlagen zur Hand genommen und versucht, den darauf abgedruckten Text zu einem Sinn zu bringen, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er - wieder einmal - auf denselben Satz stieß. Schließlich legte er die Blätter wieder auf seinem Schreibtisch ab und erhob sich aus seinem Sessel. `Was hat es für einen Sinn, hier zu sein?´ fragte er sich und ging im Raum auf und ab.
Die Landschaft zog vor Sherylls Augen dahin. Die Schlussrede zog vor Sherylls innerem Auge dahin. Sie fand keine Ablenkung, weder innen noch außen. Also trank sie einen Schluck Mineralwasser, um die beiden Welten zu vermischen, doch selbst das nützte nichts. Jetzt saß sie in ihrem bequemen ICE-Sessel, sie, ein Wrack, und nichts als das Projekt schien mehr in ihr zu existieren. `So weit´, dachte sie plötzlich, `hätte es nie kommen dürfen.´
...Hunderte Kilometer trennten die beiden, aber doch waren sie miteinander verbunden - im Sinne der Verzweiflung und voll und ganz ihrer Natur folgend spürten beide die selben Gefühle, ließen beide zu, dass diese größer und größer wurden und verloren sich darin...
Karl gab sich nun gänzlich seinen Erinnerungen hin, das Herumlaufen trug seinen Teil dazu bei, dass er einer gewissen Stimmung verfiel, welche sich zuerst leicht über ihn legte, dann aber allmählich immer drückender wurde und ihn schließlich gänzlich in ihren Bann brachte. Diese Stimmung war von tausenden Zweifeln getragen, Zweifel die keine Antwort zu akzeptieren bereit waren - existentielle Zweifel. Karl fühlte sich hilflos und ohnmächtig, glaubte sich einer übergroßen Gegenmacht ausgeliefert und sah keinen Ausweg mehr. Er versuchte, durch Erinnerungen an schöne Erlebnisse dagegen anzukämpfen, doch je mehr er es versuchte, um so mehr gewannen die Zweifel an Raum. Karl stellte die Richtigkeit jeglicher Entscheidungen, die er im Leben getroffen hatte, in Zweifel und fragte sich, welcher Mensch er wohl wäre, wenn er nur ein einziges mal anders gehandelt hätte. Dass er sich diese Frage nicht beantworten konnte brachte ihn gänzlich zu Fall. Er stürzte in sich zusammen wie ein Kartenhaus und kauerte weinend auf dem Boden.
Sheryll war unterdessen nicht von ihrem Platz gewichen, doch auch in ihr war ein Kampf entbrannt, und auch dieser stand Karls Kampf bezüglich der existentiellen Verzweiflung in nichts nach. Sie bezweifelte plötzlich stark, dass das Projekt, an welchem sie in den letzten sechs Monaten wie verrückt gearbeitet hatte in wirklich jenem Ausmaß wichtig war wie sie vermutet hatte.
Viel wichtiger waren ihr eigentlich - und das erkannte sie in eben diesem Augenblick / wie Schuppen fiel es ihr von den Augen - ganz andere Sachen. Ihre Freunde hatte sie derart vernachlässigt, dass ihr erst jetzt auffiel, dass sie seit über zwei Wochen keinen Anruf (ausgenommen die geschäftlichen) mehr bekommen hatte. Sie sah ein Bild vor sich, das ihr täuschend echt erschien: in ihrer Stammkneipe, von ihr seit Monaten nicht mehr besucht, sitzen alle ihre
(ehemaligen) Freunde um den gemeinsamen Stammtisch, der Platz, an dem sie immer gesessen hatte - menschenleer, statt Sheryll sitzt dort nun: das Projekt.
Sheryll schreckte hoch, `was hat es überhaupt für einen Sinn, jetzt hier zu sein?´ wiederholte sie, ohne es zu intendieren, Karls vor einigen Minuten an einem gänzlich anderen Ort gestellte Frage...
Wie Karl im wahrsten Sinne des Wortes am Boden zerstört seinen Tränen freien Lauf ließ, entflammte in aller Verzweiflung mit einem Mal ein kleines Licht in ihm, welches er als Ausweg erkannte. Er näherte sich diesem Licht und erkannte, dass es eine Idee war. Und je näher er der Idee kam, desto heller erstrahlte sie, legte ihr sanftes Licht über die dunklen Schatten, welche Karls Verzweiflung erzeugte und ließ ihn glauben, er sei frei von allen Problemen.
Die Idee gefiel Karl und er gab sich ihr hin - lange, sehr lange Minuten lang.
Die Sinnkrise, welcher sich im selben Moment Sheryll stellen musste war weniger gnädig. Zwar erlebte auch sie, dadurch von der Außenwelt abgeschirmt, dass sie ihre Augen fest geschlossen hielt, als wahr empfundene Traumbilder, doch ihr schien es, als stecke sie in einem Tunnel fest, welcher hinter ihr eingestürzt war. Die Massen aus Stein und Geröll näherten sich Sheryll von hinten, schoben sich unaufhaltsam in ihre Richtung. Verzweifelt versuchte sie einen Ausweg zu entdecken, doch alles was sie sah war ein schwarzes Loch vor sich - und die Tunnelwände liefen immer schmälerwerdend darauf zu. Sie wollte sich am liebsten von diesem Loch wegbewegen, doch die näherkommenden Gesteinsmassen raubten ihr die Alternative. Sie bekam Angst. Sie versuchte, die Augen zu öffnen um die Vision zu beenden, aber sie schaffte es nicht. Sie fühlte sich gefangen in einer anderen Realität und erkannte, dass sie sie selbst geschaffen hatte. Also stellte sie sich in einem Anfall von Mut ihrem Dämon und ging auf das schwarze Loch zu, zuerst langsam, dann immer schneller, schließlich rannte sie und bemerkte, dass sie zu fliegen begonnen hatte. Das schwarze Loch hatte sie erfasst und zog sie in sich hinein, sie beendete alle Körperbewegungen und ließ sich fallen -
Fast zeitgleich erwachten beide aus ihren Visionen und aus ihrer Phantasie entlassen hatten beide - vollkommen unabhängig voneinander - eine Entscheidung getroffen. Nun machten sie sich daran, sie durchzuführen.
Karl erhob sich vom Boden und verließ auf dem schnellsten Weg das Büro, ohne irgendwelche Türen hinter sich zu schließen, ohne sich umzusehen, ohne jegliches Wort. Er stieg in sein Auto und machte sich auf den Weg zum Millennium Tower. Dabei empfand er eine seltsame, nie gekannte Hochstimmung, die ihn für jegliches Außengeschehen beinahe blind und taub machte. Er erkannte gerade genug vom Verkehrsaufkommen wie er erkennen musste, um sicher vorwärts zu kommen, doch viel mehr Aufmerksamkeit widmete er dabei dem Genuss dieser köstlichen Stimmung. Am Gebäude seines Verlangens angekommen stieg er aus, ohne auf das Parkverbot zu achten und ließ seinen Wagen offen stehen.
Sherylls Zug fuhr derweil in den Zielbahnhof ein, die siebenundsiebzigminütige Reise war beinahe vorbei, doch für Sheryll hatte eine ganz andere Reise begonnen - eine, die keine Zeit kannte. Als der ICE seine letzte Bremsung ausführte und ruckartig zum Stehen kam öffneten sich Sherylls Augen, sie erhob sich und verließ den Zug, ohne jedoch ihre Unterlagen und ihre Reisetasche mitzunehmen. Auch sie nahm ihre unmittelbare Umgebung nur rudimentär wahr, doch zur Genüge, um ihrem Ziel entgegenzusteuern: dem Millennium Tower. Sie wusste genau, welche Richtung sie einschlagen musste, denn sie kannte den Turm gut.
Ihr schien, als hätte sie tausende von Sitzungen darin abgesessen, tausend mal war es um das Projekt gegangen. `Und immer noch geht es darum´, dachte Sheryll, `doch nicht mehr lange…´. Mit solchen Gedanken beschäftigt bahnte sie sich weiter ihren Weg durch die gestresste Menge und wirkte dabei so, als hätte sie ihren Frieden bereits gemacht.
Karl wartete geduldig auf den Aufzug, welcher ihn in den achtundvierzigsten Stock befördern sollte. Dort lag eines der Büros, für die er zuständig war - und dort hatte er, wie ihm jetzt auffiel, praktisch sein halbes Leben zugebracht. Doch heute trieb ihn nicht die Arbeit nach oben, heute führte ihn ein sehr persönlicher Grund hier her. Als er aus dem Aufzug stieg wandte er sich ohne Zögern nach rechts und verschwand im sogenannten großen Sitzungssaal.
Dort, so sein Plan, sollte nun seine letzte große Sitzung stattfinden.
Wenig später betrat Sheryll das Gebäude und machte sich ebenfalls auf den Weg zum achtundvierzigsten Stock. Dort war für denselben Abend die Abschlusssitzung zum Projekt geplant, doch dieser Termin lag noch einige Stunden in der Zukunft und Sheryll glaubte, niemand würde um diese Zeit bereits in den Büros oder dem Sitzungssaal sein. Als sie die Türe des großen Saals öffnete erschrak sie daher sehr. Am geöffneten Fenster stand ein Mann.
Karl hatte mit einiger Mühe das Fenster aufgemacht, welches eigentlich nicht zum Öffnen bestimmt war - Sicherheitsbestimmung. Doch er hatte es geschafft und stand nun dort, gedankenversunken, entrückten Blickes. Er dachte an den Alten Turm, dachte, dass jener mehr Stil geboten hätte, aber weniger Sicherheit (war er doch bei weitem nicht so hoch wie der Millennium Tower) und mehr Störungen (war er doch bei weitem häufiger Opfer von sensationsgierigen Sehenswürdigkeitenjägern), dachte, dass er hier eigentlich doch besser aufgehoben sei und erschrak sehr, als er plötzlich die Anwesenheit einer anderen Person im Raum bemerkte.
Sheryll hatte sich ihm langsam genähert, und je näher sie ihm gekommen war, um so sicherer war sie in ihren Annahmen. Ja, das war doch Karl. Ihr Vorgesetzter und treibende Kraft hinter dem Projekt. Wollte er sich etwa bereits auf die Sitzung vorbereiten? War ihre Entscheidung, gerade hierher zu kommen, doch falsch gewesen? Was sollte sie jetzt tun? Als sie sich jedoch gegenüber standen erkannten beide im selben Moment, dass es hier nicht um das Projekt ging. Nicht mehr. Wortlos sahen sie sich in die Augen und verstanden sich. Nach langem Schweigen nickte zuerst Sheryll, dann Karl; in aller Ruhe stiegen sie auf das Fensterbrett, fassten sich an den Händen - und sprangen.



Eingereicht am 04. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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