Reich und Arm
© Alper Aribal
Das Jahr 1876. Es war eine kalte und äußerst stürmische Winternacht in Sunny Hill. Die reichen saßen wohlbehütet in ihren großen Häusern und ihren prunkvollen Villen. Sorgenfrei fieberten sie der fröhlichen Weihnachtszeit entgegen. Es fehlte ihnen an nichts.
Diese Stadt hatte aber auch eine dunkle und von Grund auf verkommene Seite. Die eine Seite wurde von den Reichen und Eleganten bewohnt, die andere Seite, die Shadow Hills, diese wurden den ärmeren Bürgern der Stadt zu teil. In Shadow Hill war es sehr düster und die zwielichtigen Personen, die sich dort aufhielten, waren gar keine. Die Menschen, die in jenem vermeintlichen Ursprung des Bösen kümmerlich dahinlebten, wurden von den reichen Bewohnern von Sunny Hill verstoßen, da sie angeblich nichts als Gaunereien
und die Pestkrankheit zu bieten hätten. Seit Jahrzehnten teilte sich nun die Stadt in zwei Hälften.
Sunny Hill war die vermeintlich gute Seite und Shadow Hill die vermeintlich böse Seite.
Die Leute beider Stadtteile sollten bald jedoch zu spüren bekommen, dass Gut und Böse mehr Gemeinsamkeit haben und oft miteinander verschmelzen, so dass man sie nicht zu unterscheiden vermag, sei es in den eigenen Reihen oder auch in der Fremde.
Obwohl diese zwei Stadtteile sich durch ihren gesellschaftlichen Stand sehr von einander zu unterscheiden schienen, freuten sie sich gleichermaßen auf das wunderbare Weihnachtsfest.
Die Sunny Hiller konnten sich jedoch mehr erlauben als die Shadow Hiller. So kauften sie sich reichlich Geschenke und bereiteten üppige Festmähler vor. Eine Allee von Weihnachtsbäumen zog sich durch die Straßen von Sunny Hill und weicher Schnee bedeckte die Straßen. Erwachsene und Ehepaare machten sich daran, die Festlichkeiten des Sunny Hill Straßenfestes zu erforschen. Viele Kinder trieben ihr fröhliches Unwesen auf den Spielplätzen und freuten sich schon auf ihre schönen Geschenke unter ihren Weihnachtsbäumen,
die sie mit ihren Eltern bei sich Daheim aufgestellt hatten. Alle waren in einem Freudentaumel und wie von Sinnen als sie die Straßenmusik der Gaukler zu hören bekamen. Alles war wunderschön. Der Schnee fiel in Mengen den Himmel herunter. Die fröhliche Musik und die gesungenen Weihnachtslieder drangen bis nach Shadow Hill hindurch. Alsbald machte sich eine Gruppe von fünf kleinen Jungs auf den Weg zu den Grenzen von Sunny Hill, von wo sie eine gute Sicht auf das festliche Treiben der Sunny Hiller hatten. Jedes
Jahr zur Weihnachtszeit ging das so. Die fünf Jungens versteckten sich hinter den Gebüschen und trauerten darüber, dass sie nicht am Weihnachtsfest teilnehmen konnten. Daheim hatten sie nichts, was sie als etwas Weihnachtliches bezeichnen konnten. Am Spieß gebratene Ratten und weggeworfene Essensreste der Sunny Hiller waren wahrlich kein Festmahl. Geschweige denn, das Trinken von Regen, welche sie in kleinen Eimern zu Hunderten in Schränken aufbewahrten.
Unter den fünf Jungs war einer dabei, der nicht nur wegen dem Weihnachtsfest nach Sunny Hill kam, sondern wegen einem jungen Mädchen, an die er sein Herz verlor. Timmy, der arme Junge aus Shadow Hill, hatte sich in die reiche Tochter des Bürgermeisters, in Emily verliebt. Sie lernten sich durch ein Zufall vor zwei Jahren kennen und lieben. Emily riss von zu Hause aus, weil sie sich mit ihrem Vater gestritten hatte. Sie wollte einige ruhige Stunden verbringen und wieder zur Besinnung kommen. Sie ging dafür, wie
jedes Mal, in einen von Sunny Hill abgelegenen Friedhof, wo sie auf einen Wiesenhügel stieg und von dort aus dem Sonnenuntergang zuschaute. Sie konnte ja nicht erahnen, dass der Junge aus Shadow Hill, Timmy, auch eine Vorliebe für den Sonnenuntergang hegte. So sah sie ihn auf einer großen Eiche auf dem Hügel sitzen und verlor ihrerseits ihr Herz an dem hübschen Timmy. So kam es dazu, dass sie sich öfters dort trafen und über viele schöne Dinge redeten. Aber im zweiten Jahr saß Timmy allein auf dem Hügel und lehnte
sich an die Eiche. Er vergoss bittere Tränen und wusste nicht einmal, warum Emily nicht mehr erschien. Woher sollte der Ärmste denn auch wissen, dass Emilys Vater, der hundsgemeine Bürgermeister Casper, ihr verboten hatte, sich mit ihm einzulassen, da er nach einiger Zeit es für merkwürdig befunden hatte, dass seine Tochter regelmäßig, zu einer gewissen Stunde aus dem Hause ging und später wieder heimkehrte. Also ließ er sie durch einen anderen Jungen beobachten, der dem Bürgermeister sofort alles kund tat. Er
schmückte seine Berichterstattung natürlich mit recht üppiger Fantasie aus, da er selbst hoffnungslos in Emily verliebt war. So geschah es, dass Emily nie wieder Sunny Hills Grenzen überschreiten konnte, was sie in große Bestürzung versetzte. Tag und Nacht weinte das arme kleine Mädchen Sturzbäche. Sie wurde einfach nicht damit fertig, dass ihr herrschsüchtiger Vater ihr ihren Liebsten verweigerte. Timmy war seinerseits sehr untröstlich und verbrachte jede freie Stunde seines Lebens auf dem Hügel, wo er Emily
das erste Mal zu Gesicht bekam. So erhoffte er sich, dass er seine Trauer mit schönen Erinnerungen an Emily verdrängen könnte. Jedoch wurde ihm schmerzlich bewusst, dass die Erinnerung an Liebe, diese nur stärker und größer machte. Also, entschloss er sich dazu, dem Bürgermeister Casper eine Lektion zu erteilen, die er nie vergessen würde. An diesem besagten Weihnachtsfest war es dann soweit. Timmy und die anderen vier Jungs versteckten sich immer noch hinter den Gebüschen. Allmählich sahen sie, dass die Menschenmenge
sich recht schnell verdichtete. Die Bürger von Sunny Hill waren in heller Aufregung und voller Erwartung. Der Bürgermeister wollte eine feierliche Rede zu Ehren des heiligen Weihnachtsfestes und der Bürger halten. So stellte er sich auf seinen für ihn bereitgestellten Podest und sprach in die Menge hinein. Emily stand rechts von ihm und seine Frau zu seiner Linken. In dem Moment schienen sich alle Menschen in Sunny Hill auf dem Marktplatz versammelt zu haben und Timmy sah in dem Augenblick seine Chance gekommen
zuzuschlagen und seine angekündigte Rache an dem Bürgermeister in die Tat umzusetzen.
Zwei von den Jungs sollten sich in die Menge stürzen und für Unruhe sorgen, wobei Timmy und die anderen Zwei sich eiligst durch die Menschenmenge schlängeln und das Haus des Bürgermeisters aufsuchen wollten. Also stürzten sich die zwei Jungs in die Menge und schlugen wie wild aufeinander ein. Sie rollten sich im Schnee hin und her und lenkten alsbald die Aufmerksamkeit der Leute und die des Bürgermeisters auf sich. Die Menge beschäftigte sich mit der Keilerei der zwei Jungs, so dass sie kaum bemerkten, wie sich
Timmy mit den anderen zwei Jungs durch sie hindurchschlängelte.
Ein paar Häuserreihen weiter, fanden die drei Jungs das Haus des Bürgermeisters und brachen hinein. Da sie nicht wollten, dass sie überrascht werden, stiegen sie durch ein Fenster, welches sich im hinteren Teil des Hauses befand, ins Haus hinein.
Timmy und seine Freunde staunten nicht schlecht als sie sich in einem großen Wohnzimmer zurückfanden, wo es nur so von weihnachtlichen Gegenständen übersprudelte. Die Weihnachtsstrümpfe hingen an dem Kaminstein, die Geschenke wurden unter dem großen Weihnachtsbaum verstaut, welcher durch seine üppige Weihnachtsdekoration, im wahrsten Sinne des Wortes, die Jungs regelrecht anstrahlte. Trotz dieser warmen Atmosphäre jedoch, wollte Timmy sein Vorhaben nicht aus den Augen verlieren. So nahm er ein Stück brennendes
Holz aus dem Kamin und zündete damit den Weihnachtsbaum an. Die Gardinen folgten zugleich.
Die anderen beiden Jungs waren zwar entrüstet, trauten sich jedoch nicht, Timmy irgendwelche Gegenwehr zu leisten. Das Haus ging allmählich in Flammen auf und die Jungs machten, dass sie rechtzeitig aus dem Haus kamen.
Sie versteckten sich hinter kleinen Mülltonnen auf der anderen Straßenseite und wollten sich das Schauspiel ansehen.
Sollte aber so Timmys Rache aussehen? Er hatte das Haus des Mädchens angezündet, das er über alles liebte. Würde sie es ihm jemals verzeihen? Würde sie verstehen, dass er es nur ihretwegen gemacht hatte?
Mit diesen Gedanken quälte sich Timmy als er das Haus betrachtete, das sich gänzlich in ein Feuerinferno verwandelte.
Timmy hatte Tränen in den Augen. Er war kein besserer Mensch als der Bürgermeister, der seiner Tochter den Umgang mit Timmy, dem armen Jungen aus Shadow Hill, verwehrte.
Er schämte sich zutiefst. Während Timmy sich grämte, standen auch schon viele Menschen vor dem niederbrennenden Haus des Bürgermeisters.
Timmy sah, wie Emily sich vor ihrem Haus niederkniete und in Tränen ausbrach. Ihr Vater, der Bürgermeister, kniete ebenfalls neben ihr und versuchte seine Tochter zu trösten. Dann brach er ebenfalls in Tränen aus. Zum ersten Mal sah Timmy, dass Bürgermeister Casper so was wie Menschlichkeit in sich trug und er auch an andere denken konnte als nur an sich selbst. Die Menschenmenge schwieg, so dass man nur das Heulen von Emily und dem Bürgermeister vernehmen konnte. Timmy hielt es nicht mehr länger aus. Er trat
hinter den Mülltonnen hervor und gab sich als der Brandstifter zu erkennen, der diesen beiden Menschen so großes Leid zugefügt hatte. Die Leute brachen in entsetzen aus und als eine Reihe wütender Männer sich auf Timmy stürzen wollte, schrie Bürgermeister Casper in die Menge, dass sie den Jungen doch unbehelligt lassen sollten, da er noch was erfragen wollte.
Die empörte Menge hielt sich zurück und der Bürgermeister stand wieder auf den Beinen. Er starrte Timmy an und Timmy konnte seinerseits nicht erahnen, was in erwartete. Der Bürgermeister stand vor Timmy und wollte wissen, warum er das Haus angezündet hatte. Timmy, der sichtlich sehr unglücklich über die Ausmaße seiner Rache war, stockte einige Sekunden lang, bevor er endlich den Mut fasste, um dem Bürgermeister seine Sicht der Dinge zu erläutern:
"Du, der Bürgermeister von Sunny Hill, du der Erhabene Herrscher über die Bürger dieses Ortes, du, der sich das Recht nimmt, andere zu ächten, die nur etwas anders sind als er. Du hast uns verachtet und aus Sunny Hill vertrieben, weil wir nicht eurem Ideal entsprachen. Seit Jahrzehnten müssen wir in Shadow Hill leben. Wenn man das als Leben betrachten kann. Ihr feiert eure Weihnachtsfeste von Jahr zu Jahr, euch fehlt es nichts an etwas Essbarem, ihr bekommt Geschenke, die Weihnachtsmusik und die Weihnachtsmärkte
erfüllen euer Herz mit Wärme und Freude. Ihr habt eure schönen Häuser, in die ihr euch zurückziehen könnt, wenn ihr euch vor Kälte schüttelt. Wir in Shadow Hill haben nicht einmal Fenster. Wir haben keine Weihnachten, keine Weihnachtsmärkte, nichts richtiges zu Essen und nichts richtiges zu Trinken. Wir leben elendig dahin und ihr habt uns vergessen, ihr biederen Leute von Sunny Hill. Ihr habt uns schon genug angetan und es hört einfach nicht auf. Sie, Bürgermeister Casper, sie sind der Schlimmste von allen.
Ihnen reicht es nicht, dass wir verwahrlosen, sie wollen auch, dass wir unser Glauben an die Liebe verlieren. Vor kurzem war ich der reichste Junge der Welt. Ich war zwar nicht reich an Hab und Gut, aber dass was ich an Reichtum besaß, das hätte mir ein ganzes Leben lang gereicht. Ihre Tochter Emily hatte mir gezeigt, was es heißt, zu lieben, sich über Gegensätze hinwegzusetzen. Sie hat mir das Gefühl gegeben, ein Mensch mit Herz und Seele zu sein. Dieses Gefühl hatte ich seit langem nicht mehr. Und sie wussten
nichts besseres als mir das Einzige wegzunehmen, was mich je glücklich gemacht hatte, nämlich ihre Tochter. Sehen sie sich ihr Haus an Bürgermeister. Es brennt lichterloh nicht wahr? Genau so hat mein kleines Herz vor Schmerzen gebrannt als sie mir ihre Tochter weggenommen haben. Es war nicht viel was ich hatte, jedoch ist nicht die Menge entscheidend, Bürgermeister, sondern der Wert. Ihre Tochter war in der Lage, mir all das zu geben, was ich nicht besaß, nämlich das Reichtum an Liebe. Was nützt ihnen ihr Haus,
wenn sie nicht wissen, wie es ist, andere Leute mit Respekt und Nächstenliebe zu behandeln? Ich weiss, dass Emily mich für meine Tat hassen wird, aber sie soll wissen, dass ich es nur aus Liebe getan habe und mir der Reichtum an Hab und Gut nicht wichtig ist. Sie ist diejenige, die ich brauche und mehr nicht!"
Nach diesen Worten des jungen Timmy, brach der Bürgermeister erneut in Tränen aus und bat um Verzeihung, dass er so ein blinder und egoistischer Mensch gewesen ist.
Eingereicht am 27. Februar 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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