Die Elster
© Manfred Schröder
Ich hatte einen Freund besucht und war, na ja, doch schon ziemlich angeheitert. Jetzt stand ich auf dem windigen Bahnsteig und wartete auf den Zug. Und hoffte, was natürlich sehr selten vorkommt, ein leeres Abteil zu ergattern, wo ich ein kleines Nickerchen machen könnte. Als der Zug eintraf und ich das Abteil betrat, glaubte ich schon das Glückslos gezogen zu haben. Doch dann gewahrte ich die Elster, die am Fenster saß, mir nur einen kurzen Blick zuwarf und dann wieder nach draußen blickte, wo der Zug mit dem
hereinbrechenden Abend um die Wette eilte. Wie von selbst verlängerte sich der Ärmel meiner Jäcke, sodass er die goldene Uhr an meinem Handgelenk verdeckte. Aus Höflichkeit fragte ich, ob es noch Platz gäbe. Die Elster drehte wieder ihren Kopf, schaute mich mit ihren runden Augen an und gab einige krächzende Laute von sich. Da ich ihrer Sprache nicht mächtig bin, hoffte ich nur, dass es keine abschlägige Antwort war.
Nach einigem Zögern setzte ich mich ihr gegenüber, wobei ich versuchte, den Ärmel meiner Jacke nicht höher rutschen zu lassen. Vielleicht bin ich nur voreingenommen. Doch es kursieren so manche Geschichten über Elstern und ihre Diebereien. Alle können ja nicht falsch oder bösartig sein. Zumal gewisse Ähnlichkeiten mit Zigeunern ja nicht von der Hand zu weisen sind. Und ihre Sprache mir ebenso unverständlich ist. Doch sie schien mich nicht weiter zu beachten und blickte weiterhin interessiert zum Fenster hinaus.
Allmählich verlor ich meinen Argwohn und der Ärmel meiner Jacke wanderte wieder vertrauensselig nach oben, sodass meine Uhr, goldglänzend nicht zu übersehen war. Auf die Elster schien sie keinen Eindruck zu machen. Und als sie, weil sie sich wohl durchs Fenster satt gesehen hatte, ein Buch mit dem Titel "Ehrlich währt am längsten", hervorholte, verschwand mein Misstrauen vollends. Man soll nicht alle Elstern mit dem Blick einer vorgefassten Meinung betrachten. So ließ ich denn, weil Schläfrigkeit sich
meiner annahm, den Kopf sanft auf der Brust ruhen. Ich weiß nicht, wie lange ich mich in diesem wohligen Dämmerzustand befunden hatte. Doch als sich meine Augenlider langsam öffneten, sah ich vor mir nur einen leeren Platz. Die Elster war verschwunden und das Fenster offen, sodass der frische Abendwind meine Gedanken schnell munter machte. Mein Blick schoss zum Handgelenk. Auch die Uhr war verschwunden. Ich sprang auf und blickte zum Fenster hinaus. War da nicht ein glänzender Gegenstand zu sehen, der durch die
Luft zu schweben schien? Als ich den Kopf wieder einzog, bemerkte ich wieder das Buch. Wie absichtlich liegengelassen. "Ehrlich währt am längsten", höhnte mir der Titel entgegen. Was machen?
Schreien: "Haltet den Dieb!" Das wäre lächerlich gewesen. Ich tat also das Vernünftigste und holte erstmal tief Luft. Allmählich kehrte wieder Ruhe in mir ein, und der Zorn verflog. Ich schloss das Fenster und setzte mich wieder. Dachte nach und begann zu lächeln.
´Nicht schlecht gemacht, Elster. Und der Trick mit dem Buch; meine Hochachtung.`
Als meine Frau, sie war noch auf, als ich nach Hause kam, fragte, wo die Armbanduhr sei, erzählte ich ihr das Erlebnis mit der Elster. Sie blickte mich schräg von der Seite an und sagte: "Ich habe schon bessere Geschichten von dir gehört!"
Eingereicht am 19. Oktober 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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