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Dez
01
Kaninchen für Otti
© Karin Reddemann

Die Kaninchen waren verantwortlich für Oma Karlas Tod. Harmlose putzige Tierchen, die Omas tragisches Ableben vermutlich nicht gewollt hätten. Warum auch? Es wäre ihnen an ihrem entzückenden Arsch vorbeigegangen. Otti sah das anders. Ottmar Reinhold Pottmann war sieben, und diese Kaninchen hatte sein Großvater ihm geschenkt. Später sollte sich herausstellen, dass alles ein heuchlerisches Spiel gewesen war. Großvater Berti, Opa Oben, dachte gar nicht daran, seinem Enkelsohn einen Streichelzoo zu schenken. Er baute unten im hinteren Bereich der großen Garage neben dem Lager, was geschäftsmäßig so genannt wurde, weil Onkel Herbert dort einen Biervertrieb hatte, einen Kaninchenstall. Tatsächlich war dieser Stall eine Todesfalle. Opa Oben, der als Treiber mit Großonkel Konrad, einem echten Jäger, auf die Jagd ging, durfte nur das Kleinzeug schießen. Die Rehböcke auf der Schulter trug Raddel, der große Bruder, heim. Aber Raddels Hund, der Beste, wie Opa Oben sagte, war ihm, dem Kleinen, treu ergeben. Deutsch Drahthaar. Greif, wie der mystische Vogel, der Stärkste, Kühnste, Größte unter der Sonne. Der Beste. Eben. Greif liebte Opa Oben.

Wenn Berti Pottmann, Franzosenkäppi schief auf dem Kopf, Zigarrenstummel exakt platziert mittig zwischen den Lippen, mit Greif spazieren ging, amüsierte er sich köstlich. Greif, aufs Wort parierend, war ein schöner Kerl, der Respekt einflößte. Mein Opa rief ihn beim Namen, und alle erstarrten. Greif, das klang wie: Fass ihn!"

Natürlich war Greif ein treuer Gefährte. Ein Killer war er auch. Wenn er seinen Namen hörte, blieb er stehen, witterte, was nicht unbedingt da war, erinnerte sich an dieses kurze Wort, das ihm zugerufen worden war. Er setzte sich und wartete. Auf den Befehl seines Herrchens. Auf den von Großonkel Konrad. Lieber noch auf den von Opa Oben.

Die winzigen plüschigen Kaninchen, die Otti geschenkt bekommen hatte und die im perfekt konstruierten Stall hinten in der großen Garage mümmelten, in der Onkel Herberts Biertransporter stand, waren für Greif bestimmt. Fünf waren es. Noch ganz winzig. Otti fütterte sie mit dem schäbigen Teil von Oma Karlas Salatköpfen, er stupste mit dem Zeigefinger vorsichtig an ihre empfindlichen Näschen, kraulte ihre flaumigen Öhrchen und wünschte sich den Sommer herbei. Da würde er sie herauslassen dürfen, vielleicht würde Opa ein kleines Freigehege bauen, der konnte so was.

Anfang Mai in aller Frühe lag eins, mittlerweile kugelrund gefressen, tot auf dem Hof. Greif stand daneben, seine Schnauze blutverschmiert. Opa Oben kraulte seine Kehle, das mochte er, seufzte zufrieden auf, blieb regungslos hocken, als Opa das Bündel Fleisch wegtrug. Otti sah es, völlig erstarrt, seine Mama nahm ihn in den Arm: "Ein Versehen, Otti, Greif ist ein Jagdhund."

Eine Woche später, zwei Wochen später, drei Wochen später wiederholte sich alles. Greif tötete Ottis Kaninchen, und Otti, der es geliebt hatte, wenn Großvater Berti ihn mit dem großen, klugen Hund an der Leine vom Kindergarten und später auch von der Schule abgeholt hatte, hasste Greif. Wie stolz war er immer gewesen, wenn er dann diese abgegriffene braune Leine nehmen durfte, an der dieser großartige Hund hing, auf den er sich hatte setzen dürfen, als er noch kleiner gewesen war, schmächtig und leicht, er auf dem Rücken des tapferen riesigen Hundes, und Großvater Berti aufmerksam dabei.

In der Kammer roch es seit einiger Zeit komisch, am Sonntag gab es zartes Fleisch, das Oma Karla zubereitet hatte. Als nur noch ein Kaninchen übrig war, ertappte Otti sie dabei, wie sie eins seiner Verlorengegangenen häutete und ausbluten ließ, kopfüber, mit merkwürdig zurückhängendem Genick, durchgebissen von Greif, einem Verräter, der nicht mehr Freund war. Sie sprach mit Großvater Berti: "Morgen hetz den Hund auf das Letzte. Konrad und Mechthild brauchen den Braten." Opa Oben nickte, stand dort schon in seinen verdreckten grünen Gummistiefeln, trug seinen dunkelgrauen Regenmantel, natürlich Käppi, natürlich Zigarre. Er wollte wohl los, raus mit Greif, Jagd war nicht, vermutlich zum Wacholderhäuschen, wo die alten Männer sich trafen, um das zu trinken, was das Häuschen versprach. Er ging. Otti blieb. Oma Karla legte das blutige Messer auf die Zeitung, ausgebreitet auf der wurmstichigen Kommode, zerknittert und verschmiert mit Blut und Ölfarben, die Opa Oben wohl für eins seiner Bilder benutzt hatte. Otti stand dort in seiner kurzen Lederhose, die er hasste, aber anziehe musste, weil sie ein Geschenk von Tante Mechthild war, mit einem Enzian auf der Brust. Er hatte Marmeladespuren am Mund, ihm fehlten zwei Vorderzähne, und sein Knie war verkrustet. Die Socken hingen über den Sandalen, lausiger Fehler seiner Mutter, das Haar war verstrubbelt, und er hatte sein erstes Buch geschenkt bekommen, das er noch nicht lesen konnte. Egal. Er war ein Mann. Er wollte rächen. "Was machst Du da, Oma?" Seine Großmutter sah ihn lächelnd an: "Kaninchenbraten, Spatz." Otti blieb stumm. Starrte auf das tote Kaninchen, auf das Messer, erkannte die komplette Verschwörungstheorie schlagartig, starrte auf das Messer. Sah im Geiste, wie er zustach, hinein in die Kittelschürze, immer wieder, hörte sich rufen: "Für Greif. Für die Kaninchen. Für mich."

Und tat es doch nicht. Ließ seine Großmutter gut und gern nach einer ungewollten Überdosis Schlaftabletten acht Jahre später anders sterben, als abgeschlachtet zu werden. Späte Strafe. Natürlich. Opa Oben erstickte später an seinem Asthma. Gewollt. Wer weiß. Greif starb früher. Otti warf selbst gepflückte Gänseblümchen in sein Grab mitten im Wald, wo er gelernt hatte, auf Kommando den Tod zu bringen. Mit ihm hatte er seinen Frieden gefunden.

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