Der Weisheitszahn
© Ihepih
Soll ich wirklich alle Leiden meiner Patienten erzählen? Also, wenn es nach mir ginge? Verrückt. Na, mal sehen, die Instrumente sind da, Schwester Anna auch. Kaffee. Warum habe ich noch keinen Kaffee bekommen. Na gut. Dann wollen wir mal. Was haben wir denn da heute? Ach, sieh an, einen Weisheitszahn.
"Schwester Anna? Den Tupfer, bitte."
Ob der reicht? Ich dringe tief mit einem Langenbeck-Haken in die Umschlagfalte. Ich weite den Mundwinkel so stark, bis das Ohrläppchen erschreckt zurück weicht. Ja, wie soll ich denn sonst etwas sehen? Mit meinem Miniatur-Samurai-Schwert eröffne ich mit einem einzigen, gezielten Schnitt die Schleimhaut, unter der sich schnell ein oberer linker Weisheitszahn zu erkennen gibt. Ich dränge die Schleimhautlappen massiv zur Seite. Frau Schmitz-Grabowski zuckt leicht mit dem Kopf.
"Würden Sie das BITTE unterlassen, Frau Schmitz-Grabowski, oder möchten Sie lieber, dass wir Ihre Lachlinie etwas nach oben verlege ... also wirklich!"
Meine einfühlsam, aufmerksame Obhut gibt dem Patienten wieder tiefstes Vertrauen.
"Na, also, Frau Schmitz-Grabowski, geht doch!"
Ich arbeite mich mit dem Dentaldremel, auf dem eine leicht flugrostige, chirurgische Kugelfräse sitzt, bis zu dem Weisheitszahn vor.
"Da bist du ja, du kleiner Schweinehund. Hattest wohl gedacht, du könntest dich vor mir verstecken ... hä, hä, hä. Damit habe ich SIE nicht gemeint, Frau Schmitz-Grabowski, nein, ehrlich nicht." Ich setzte den Hebel in den eingefrästen Spalt und rücke dem 'Hund' rücksichtslos zu Leibe.
Die Zeit drängt, denn ich muss schleunigst zum Laptop, um einen Text zu schreiben. Da kann man sich mit so einem Querkopf nicht lange aufhalten. Jetzt. Bewegt er sich? Na komm. Noch ein bisschen. Komm schon und dann einen Klapps auf den Po ... oh, Entschuldigung, das war ja bei der Patientin vorhin. Doch. Das Kind lebt. Eh? Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, dieser Saukerl von einem blöden Weisheitszahn. Musste diese Frau Schmitz-Grabowski mir ausgerechnet heute Morgen in die Quere kommen? Und dann auch noch
mit einem Weisheitszahn.
Und er bewegt sich doch ... hab' ich das nicht schon mal woanders gehört? "Wann gibt es endlich Kaffee? Muss man denn hier alles selber machen? Entschuldigung, Frau Schmitz-Grabowski" Das Telefon klingelt. Nervtötend. Immer klingelt dieses Telefon. Ich kann diesen blöden Klingelton schon nicht mehr hören. "Nein, Schwester Anna, jetzt nicht! Sie sehen doch, dass es gerade JETZT nicht geht! Also ehrlich." Da kann man aber auch mal. Also, wenn die gleich den Kaffee nicht fertig haben, dann ...
Wo war ich stehen geblieben? Ach, ja. Diese Weiber, schaffen es aber auch immer, mich abzulenken. Egal, der Mistkerl muss jetzt raus.
- Einem Schmatzen folgt der Zahn. - Da ist er ja. Ein Prachtkerl von einem Weisheitszahn. Ha, ha, wusste es doch, dass ich dich kriege. Und wie krumm diese Wurzeln sind. Erstaunlich. Nanu?
"Eh, Schwester Anna? Was ist denn diese graue Masse, die da mit raus gekommen ist?"
"Weiß nicht, Herr Doktor ... eh, vielleicht Hirn?"
"Ach du Scheiße ... Frau Schmitz-Grabowski? Geht es Ihnen gut?"
"Harun'?"
"Ach nichts. Schwester Anna, schieben Sie das Zeugs da sofort wieder rein! Ich will das nicht gesehen haben."
"Ja, Herr Doktor, sofort:"
"Frau Schmitz-Grabowski, wie viel Finger sind das, die ich Ihnen zeige?"
"Finger, Herr Doktor, wieso Finger?"
"Ach, schon gut, ich dachte es wäre etwas Schlimmes. Nichts von Bedeutung. Die Fäden entferne ich in 10 Tagen. Auf Wiedersehen"
Ahhhhh, der Kaffee! Hmmm, lecker.
Eingereicht am 03. August 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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