Wünsche
© Linda Fischer
Die Pappeln am Rande des Stadtparks glänzen schwarz-gold gegen das Licht der untergehenden Sonne. Ich sitze auf dem Dachfirst meines Hauses. Dies ist in Anbetracht der Umstände nichts Ungewöhnliches, meine Familie wundert sich nicht, und sucht mich auch schon lange nicht mehr. Sie alle wissen, an welchem Ort sie mich finden können, falls sie meine Anwesenheit wünschen.
Meistens überhöre ich auch die seltenen Aufrufe meiner Mutter, ins Haus zu kommen. Es muss mir in einem freien Land wie diesem schließlich gestattet sein, den allabendlichen Sonnenuntergang auf dem Dach genießen zu können.
Hier sitze ich also und hänge meinen Gedanken nach, Gedanken an früher. Sehr genau erinnere ich mich an diese Zeit, ich war durchschnittlich groß, durchschnittlich schlank und durchschnittlich hübsch, brachte durchschnittliche Noten nach Hause und hatte mich an den Gedanken zu gewöhnen, ein durchschnittliches Leben führen zu werden, mit Kindern, Mann und Haus, welche sich allesamt mit eben diesem Prädikat beschreiben ließen.
Es gab eine Zeit, in der stattete ich unserer Nachbarin zweimal in der Woche einen Besuch ab, da das Leben der 75-Jährigen eine verschlissene Hüfte beschert hatte. Sie benötigte folglich Hilfe. Meine Mutter vertrat die Ansicht, es sei höchst anständig, der alten Frau Gesellschaft zu leisten. Überhaupt zählte für sie Anstand zu den wichtigsten Werten des Lebens, eine Weltsicht, die ich niemals habe verstehen können.
Den einzigen Anreiz, meine Nachbarin weiterhin zu besuchen, stellte ihre Katze dar, ihre schöne, ruhige, elegante Katze, deren gelassene Stärke mich faszinierte.
Während meiner Anwesenheit fixierte das Tier mich mit goldglänzendem Blick, in welchem der nicht zu brechende Wille einer jeden Katze deutlich sichtbar wurde.
Ich wurde besessen. Ich wollte die Kraft und Geschmeidigkeit dieser Tiere besitzen, wollte frei sein, nächtelang herumstromern und die Tage verschlafen. Ich wollte mir keine Gedanken mehr machen müssen über Frisur oder Kleidung, Berufswahl, Auftreten, Anstand und Verhütung.
Freiheit.
Keine Angst mehr, keine Orientierungslosigkeit - Ruhe.
Ich schaue auf den Horizont. Die Erde hat sich ein Stück weiter in ihren Schatten gedreht. Am Himmel kreist ein Vogel. Ich stelle mir vor, es sei ein Adler. Hoch oben schwebt er, über dem rosa-orange leuchtenden westlichen Himmel. Sehnsüchtig blicke ich ihm nach, als er in Richtung Abendgold davonfliegt.
Eine lange Zeit ist seit "früher" verstrichen.
Nach einem Autounfall hing mein Leben tagelang am seidenen Faden.
Seitdem ist mein Wunsch, eine Katze zu sein, verflogen. Katzen, so unabhängig sie sind, müssen sich dennoch dem Gesetz der Schwerkraft unterordnen.
Vögel hingegen - Vögel schweben weit über dem Chaos der Welt, sie sind wirklich frei.
Also träume ich seit einiger Zeit davon, ein Adler zu sein. Oder doch wenigstens eine Lerche, des hübschen Gesanges wegen.
Ich weiß, in welchem Baum des Parks die Lerchen nisten. Vielleicht muss ich nur eine ausreichende Anzahl von ihnen verspeisen, um selbst zur Lerche zu werden? ... - denke ich, strecke meine Hinterbeine, fahre meine Krallen aus und setze zum Sprung an.
Eingereicht am 29. Juli 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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