Er fasste sich noch einmal beherzt in den Schritt und wusste, dass er reagieren musste. Seine Hose war leer. So gut wie leer, er sah das ganz nüchtern, da gab es nichts zu verharmlosen. Er hatte Angst. Wahrhaftige Angst. Pit Eberhard von Stromberg brauchte Rat. Und er brauchte einen Freund. Eine gute Stunde später suchte er Dr. Nick Laufkötter auf.
"Er schrumpft, Nick. Der verfluchte Kerl schrumpft. Ich übertreibe nicht, und ich bin auch nicht hysterisch oder will Dich verscheißern, alter Freund, dafür ist die Lage viel zu ernst. Aber ich habe gefühlt, ich habe nach ihm gegriffen, Nick, wieder und wieder. Es ist, als hätte er sich zurückgezogen. Wie eine Schnecke, Nick." Er wiederholte es flüsternd. "Eine ... dumme, kleine Schnecke."
Dr. Nick Laufkötter taxierte Pit stirnrunzelnd. "Was meinst Du denn mit Schnecke? Sprichst Du von Deinem Schwanz?"
Wie er da so stand vor seinem Schreibtisch, so steif und rot, erinnerte er Nick an ein gewaltiges Zündholz.
"Jetzt setz Dich erstmal hin. Komm schon, Pit, entspann Dich, Junge."
Pit machte keine Anstalten, es sich gemütlich zu machen. Stattdessen fuhr er sich mit allen zehn Fingern durchs Haupthaar, um es gekonnt wirr abstehen zu lassen. Die neue Frisur passte zu seinem flackernden Blick. Dann deutete er auf seinen Hosenschlitz und wimmerte "Er."
"Ja, ja, hab' kapiert, Pit." Dr. Nick Laufkötter nickte verständnisvoll. Wie sonst sollte er nicken, wenn nicht auf die sehr viel Verständnis bekundende Art.
Pit freilich deutete es als heuchlerisch. Er wurde augenblicklich sauer.
"Hab kapiert, Pit", äffte er böse nach. "Du denkst wohl, ich hab sie nicht mehr alle?! Oder was?!"
Nick schob sich einen Kugelschreiber zwischen die Lippen und saugte nachdenklich an ihm. Zumindest sollte es nachdenklich wirken und bedeutete doch nicht mehr als "Halts Maul, ich überlege." Pit, grundsätzlich ein kluger Kopf, hatte demzufolge auch keine Lust, diese Geste auch nur ansatzweise intellektuell zu interpretieren. Dafür bedeutete ihm sein Problem auch viel zuviel. Für ihn stand alles auf dem Spiel. Alles. Er starrte angewidert auf den Kugelschreiber in Nicks Mund. "Hör' auf, dieses Ding da zu fressen, und sieh' ihn dir gefälligst an. Wofür bist du Arzt, verdammt? Glaubst Du, ich mach mich hier aus Spaß zum Deppen für Dich?" Bellte er und machte Anstalten, seinen Reißverschluss zu öffnen.
Nick, der schon von Berufs wegen nackte Tatsachen so nüchtern betrachtete wie ein Bauer seine Eier, ließ Pit stumm gewähren. Der Reißverschluss ratschte allerdings zweimal. Runter und wieder rauf. Zu sehen gab's ergo nichts. "Was denn nun?" Nick kam nicht umhin, zu grinsen.
Pit schnappte gequält nach Luft, hievte sich dann doch auf den ihm angebotenen Stuhl und schüttelte traurig den Kopf: "Nick, Nick, oh Shit, großer gütiger Shit, was mach ich bloß? Ich mein, verflucht noch mal, kann das sein? Ich frage Dich, wer kriegt denn so was? Warum krieg ich so was? Ausgerechnet?" Er heulte auf. "Was habe ich denn verbrochen, Nick, was?" Kurze Pause. Er schniefte kurz und räusperte sich, um seine Stimme wieder fester klingen zu lassen. "Kennst du noch andere Männer, mit, mit, äh, so was?!"
"So was", sagte Nick therapeutisch sanft, "so was gibt es oder auch nicht. Ich persönlich kenne keinen Zweiten mit einem urplötzlich und vor allem grundlos, ich betone, grundlos geschrumpften Penis. Verbleibt die Frage, ob ich überhaupt einen kenne. Denn ob Du einen hast, alter Junge, kann ich nicht beurteilen. Ich sehe nichts."
"Du wirst auch nichts sehen", flüsterte Pit. "Da ist nichts mehr."
"Na, na", mahnte Nick und stöhnte als Mensch auf. Unmerklich. Als Mediziner dachte er nach. Interessant. War das jetzt ganz konkret die Krönung der Verarschung oder der Wissenschaft? Pit, so wusste er, wurde sehr ungehalten, sozusagen gefährlich wild, wenn er suchte und nicht fand: Autoschlüssel, Korkenzieher, einen zweiten Socken, seine aktuelle Frau ... Wenn Pit ergo momentan auf der Suche nach dem verschollenen Verursacher der obligatorischen Beulen in maskulinen Hosen war, also auf der Suche nach einem der wesentlichsten Objekte seines persönlichen Hab und Gutes, könnte das durchaus eskalieren. Dachte Nick und stöhnte erneut. Diesmal hörbar. Pit reagierte fassungslos. "Was hechelst ausgerechnet Du denn hier so abgenervt herum? Ich bin der Patient, nicht du, vergiss das nicht."
Patient! Als einen solchen hatte Nick seinen alten Kollegen aus Studientagen bis dato grundsätzlich nicht betrachtet. Er lechzte jetzt, nachdem die Praxis offiziell geschlossen war, nach einem kühlen frisch gezapften Bier in einem gemütlichen Gartenlokal, gern auch gemeinsam mit Pit, der generell sehr gesellig war. Heute wohl nicht. Heute war er krank. Sehr krank. Sozusagen zum Brüllen krank. Nick überlegte kurz. Er war Arzt. Als solcher hatte er Pit ernst zu nehmen. Er war aber auch Pits Freund. Und als solcher hatte er ihm jetzt die verdiente Kopfnuss zu verpassen, weil er ihn offensichtlich derb zu verschaukeln versuchte. Oder nicht!?
Pit sah durchaus reell leidend aus. Tatsache, er quälte sich. Also: Frontalangriff. "Jetzt red' nicht lange drum herum, das bringt uns hier nicht weiter." Er lächelte gütig, so gütig, wie er es sich so grad noch erlauben wollte. "Pit, mein Lieber. Her mit deinem Problem."
Pit schüttelte nur stumm den Kopf.
Nick aber blieb beharrlich. Jetzt erst Recht . "Hey, Pit, zeig ihn mir, los jetzt. Ich zähl bis, na, was glaubst Du? Sind wir denn im Kindergarten oder was?"
In Pits Augen stand das nackte Grauen. Seine Stimme schien im Augenblick gänzlich verschwunden zu sein. Er bedeckte seinen Hosenschlitz mit beiden Händen und schluchzte laut auf.
"Na, na", sagte Nick erneut, sehr einfallslos, aber treffsicher genug, um Zeit für bessere Worte zu schinden. Die fielen ihm aber ums Verrecken nicht ein. Deshalb sagte er: "Welche Schlampe hat dir das eingeredet?" Und dann: "Hör bloß auf mit der Flennerei, zeig ihn mir endlich, Du Weichei."
Das war wenig sensibel und kam bei Pit auch nicht sonderlich gut an. Der erstarrte, kramte nach einem Taschentuch und hauchte halbtot: "Wen, Nick? Wen soll ich dir zeigen? Wen denn, verdammt noch mal, ich möchte dich mal sehn, blödes Arschloch."
Nick wurde leicht ungeduldig. Irgendwie aggressiv zudem, aber er blieb optisch gelassen, er war ja Arzt. Und verfluchte seinen Eid zum Millionsten Mal. "Pit, mein Junge, Du bist doch ein vernünftiger Kerl", fing er an, was pädagogisch wertvoll klingen sollte, "also, mein lieber Pit. Fakt ist: Ein Penis verschwindet nicht so mir nichts dir nichts. Grundlos, wohlgemerkt, grundlos verschwindet er nicht. Abgebissen hat ihn wohl niemand, davon gehe ich ganz positiv betrachtet mal aus. Gut, und außerdem…" - jetzt kam die schöpferische Gedankenpause, vom klugen Putzen einer unnötigen Brille unterstrichen -, "außerdem hast du was von Schrumpfen gefaselt. Jetzt ist er angeblich weg. Also ganz futsch. Nicht mehr zu sehen. Was denn nun?!"
Pit winkte müde ab. "Wo ist der Unterschied? Ich bin tot."
"Red keinen Schwachsinn." Nick schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte. "Hose runter, aber zackig."
Pit stand zögernd auf. Er atmete tief durch. "Also gut. Sieh selbst, Nick, sieh und lache. Lache über Deinen toten Freund." Und wild entschlossen zog er am Reißverschluss, bereit zum allem. Nein, nicht ganz.
Als seine Jeans in den Kniekehlen hing und Pits Hände, zu allem entschlossen, am Bündchen seiner Unterhose festgekrallt waren, um sie in einem verwegenen Rutsch hinunterzuziehen, fiel Pit noch eine kleine, der Situation angemessene Drohung ein: "Wenn du es wagst, tatsächlich zu lachen, erschieß ich dich."
"Ja, ja." Nick breitete theatralisch seine Arme aus. "Du erschießt mich. Wird's jetzt bald mal? Ich warte."
Wusch.
Nick starrte. Nick glotzte. Nick guckte und blinzelte und guckte wieder.
"Und?"
Trotz seines offensichtlich durchlebten Elends konnte Pit den bebenden Triumph in seiner Stimme nicht verbergen. "Was hab ich dir gesagt? Es stimmt. Das verfluchte Ding, Himmelherrgott, Nick, ich bin kein Mann mehr. Wahrscheinlich ist er noch kleiner geworden, ich sehe mir das gar nicht erst an. Wahrscheinlich kann ich noch nicht mal mehr vernünftig pinkeln mit diesem, diesem…." Ein um Mitleid heischender Heulton unterbrach seinen angestrengten Versuch, einen Namen zu finden für den Unaussprechlichen.
"Also, ich sehe nichts Besonderes." Das war Nick.
"Mein Reden." Pits Stimme überschlug sich fast.
Nick überlegte kurz. Konzentriert. Für einen Mann ausgesprochen kurz konzentriert. Für Pit war das überfordernd. "Und?!" Pause. Leise, raunend, flüsternd: "Was siehst du tatsächlich? Was sieht der Arzt? Was sieht der…." Er schluckte, seine Lippen zitterten, er brachte es nur schwer heraus. "…der Mann?"
Nick, prinzipiell Rationalist, hätte seinen Freund jetzt gern in eine hübsche weiße Jacke gesteckt, Ärmel hinten optimal zugeknöpft. Ihm für eine derartige Nichtigkeit die Zeit zu klauen war fast schon Folter wert. Aber er blieb ruhig. Gelangweilt zuckte er mit den Schultern. "Pit, Du alter Spinner, glaub' mir, Deiner sieht nicht anders aus meiner." Er blinzelte, korrigierte sich dann. "Gut, Du könntest mehr aus ihm machen. Aber das ist Geschmackssache."
Pit glaubte, sich verhört zu haben. Für einen Moment vergaß er völlig, warum er hier mit heruntergelassenen Hosen stand und sich völlig lächerlich hätte vorkommen müssen. Er fühlte sich keineswegs lächerlich. Er war völlig verwirrt. Er fühlte sich, ja, wie fühlte er sich jetzt eigentlich?! Wie von einer versteckten Kamera in flagranti ertappt. So vielleicht. Auf jeden Fall hätte er sich jetzt als leichenblass beschrieben, hätte er sich beschreiben müssen. Vermutlich hatte er den wahnsinnigen Blick, von dem man hört und den man vor dem Spiegel nicht ausprobieren kann, ohne unfreiwillig schwachsinnig auszusehen. Er wusste, dass er jetzt irgendwie verbal aktiv werden musste, um nicht weiterhin Idiot für sich selbst spielen zu müssen, aber vorläufig kam da nichts Sinnvolles aus ihm heraus. Selbst ein bedeutungsschwangeres Krächzen wollte ihm nicht gelingen. Kein Keuchen, kein Japsen, kein noch so banaler Urlaut schaffte es, sich aus seiner Kehle in die Atmosphäre zu befreien. Er starrte in das fast teilnahmslos wirkende Gesicht von Dr. Nick Laufkötter und versuchte, dort in diesen grün gesprenkelten Augen verräterisch funkelnde Ironie zu entdecken, eine winzige Prise des hintergründigen Humors, den er an seinem guten alten Freund so grundsätzlich so überaus schätzte.
Nichts.
Stattdessen sah er wie durch einen Schleier aus dem vermeintlichen Nirwana auftauchend eine Zigarette, die völlig selbstverständlich in diesem vertrauten Gesicht eines absurd daher faselnden Fremden klebte und von einem Feuerzeug wach geküsst wurde. Verklärt lauschte Nick dem Klicken. Ein Zippo. Herrlich. Dachte er flüchtig und dachte dann: Du musst irrsinnig geworden sein. Nick, Shit, gütiger, geliebter Shit, das war hier doch alles nicht ganz echt. Hatte er Geschmackssache gesagt? Er könnte mehr daraus machen? Pit bohrte in seinem Hirn nach etwas Nützlichem. Lediglich ein abstruses, viel zu hohes Kichern meldete sich. Besser als nichts.
Dr. Nick Laufkötter sah das anders. Leicht verärgert entließ er den Qualm aus seiner Nase. Die Flügel bebten. Zweifellos Zeichen des Unmuts. "Was soll die Albernheit, Pit? Da gibt's nichts zu Lachen. Wenn ich sage, dass es einfach etwas langweilig aussieht, dann mein' ich das auch so. Ich will Dich natürlich nicht kränken, mein Guter, aber die Persönlichkeit macht's nun mal. Das ist grundsätzlich des Pudels Kern. Ganz einfach. Zigarette?!"
Pit schüttelte mechanisch den Kopf. Dabei erinnerte er sich an seine prinzipiell guten Fertigkeiten im Umgang mit der Sprache. Er konnte reden. Natürlich. "Abgewöhnt, Danke. Letzte Woche." Was war letzte Woche passiert? Er hatte seine letzte Zigarette geraucht. Er hatte, jetzt kam es ihm wieder, erstmalig gefühlt und entsetzt registriert, dass es dort, wo er fühlte, nicht mehr viel zu fühlen gab. Konnte es da einen Zusammenhang geben? Lächerlich. Völlig absurd. Oder nicht?! Dort saß sein Arzt. Sein Freund. Auch nur ein Mann. Wusste der mehr oder wusste der gar nichts mehr? Hörte der überhaupt noch zu? Sah der überhaupt noch hin. Doch. Er glotzte aus dem Augenwinkel heraus zwischen Pits Beine. Irrte Pit sich, oder verkniff Nick sich ein süffisantes Lächeln, herablassend, arrogant, wie man es an ihm kannte und weniger schätzte denn fürchtete?! Furcht. Das war's. Pit hatte Angst vor Nick. Seine Worte erschreckten ihn, er konnte sie in kein Schema einordnen. Und sein Verhalten, nun, es verblüffte, hätte wohl jeden verblüffen müssen, der mit Nichts in der heruntergezogenen Hose von mangelnder Persönlichkeit erfahren musste. Pit fühlte sich unwohl. Er verlegte sich auf einen barschen Ton, um seine Nervosität zu überspielen. "Ich zieh' das Ding jetzt wieder hoch. Dämlicher Quacksalber, Du kannst mich mal. Werde Dich wärmstens weiterempfehlen." Wütend nestelte er an seiner Unterhose und quetschte seine Pobacken hinein, strampelte sich wieder in seine Jeans zurück und zog den Reißverschluss zu. Augenblicklich ging es ihm besser. Unsicherheit, dieser peinliche Ansatz von Demut waren verschwunden. Erfreulicherweise war er nur noch höchstgradig sauer. Das erleichterte ihn.
Nick freilich hatte das Interesse keineswegs verloren, ganz im Gegenteil, er wurde zusehends munterer, wohl auch offener für Pits Problem. Dessen Wurzeln er einwandfrei entdeckt zu haben schien. "Pit, alter Freund, beruhige Dich. Und glaub' mir, die Lösung liegt ganz nah. Du musst Dich erst einmal damit arrangieren, besser wohl, freunde Dich an mit dem, was da ist oder eben nicht ist. Du stehst nicht allein damit. Ich sagte anfangs bereits, dass kein Schwanz grundlos schrumpft. Sich wie ein dummes kleines Schnecklein zurückzieht. Deine Worte, mein Bester." Er lächelte milde und bat Pit mit einladender Handbewegung, sich wieder zu setzen. Pit gehorchte brav, viel zu perplex, um seine Logik herauszubrüllen. Er befand sich ganz offensichtlich nicht mehr auf Mutter Erde, die Schwerkraft war hinüber, seine Gehirnzellen waren ein unordentlicher Haufen Orientierungsloser ohne kompetente Führungskraft. Pit öffnete angestrengt den Mund, klappte ihn erfolglos wieder zu und dann wieder auf. Ruhig, Junge, mahnte er sich, ganz ruhig. Noch mal von vorn. Er ließ dieses "Grundlos" Revue passieren. Tatsächlich hatte Nick das Wort mehrmals gebraucht, jetzt fiel es ihm ein. Grundlos. Was für ein Grund denn? Nichtrauchen? Schwachsinn. Krankheit? Natürlich.
"Also bin ich krank. Was hab ich?" Pit schien jetzt auf alles gefasst zu sein. Er atmete schwer. Er wollte tapfer sein. "Sag' mir jetzt endlich, verdammt noch mal, was mit mir los ist."
Nick drückte umständlich seine Zigarette aus. Dann fischte er in seiner Schreibtischschublade nach einer sehr hübschen silbernen Flasche mit Drehverschluss und schraubte sie auf. "Feines Gesöff." Er nahm einen kräftigen Schluck, schüttelte sich behaglich, um alles gut in sich zu verteilen und grinste. "Hier." Mechanisch griff Pit zu, trank, setzte kurz ab, trank noch einmal. Es wirkte gut, aber nicht gut genug. Pit entkrampfte sich nicht. Er sah sich tot. Morgen schon. Er musste würgen.
"So schlecht ist der Wodka auch wieder nicht." Dr. Nick Laufkötter lachte. Dann befahl er seinen Gesichtszügen Disziplin. Das gehörte sich, um seiner Erklärung die notwendige Wichtigkeit nicht zu klauen. "Pit. Es ist ein Virus. Ein süßer kleiner Virus eben. Der sogenannte Phalleliminieruspsychopathicusfeminus. Oder so ähnlich. War nie gut in Latein." Er lachte erneut. Er war ein richtiger Witzbold.
Pit teilte seine Art von Humor nicht. "Phallwas?"
Nick stöhnte auf. "Zwing mich nicht, das zu wiederholen. Ist auch nicht relevant, wie dieser winzige Mistkerl heißt. Tatsache ist, dass er einen mächtig gesunden Appetit hat. Ein richtiger Fresssack." Er nickte eifrig, um jeglichen Widerspruch schon vorweg im Keim ersticken zu können, gleichzeitig, um die Krönung seiner Aussage in gebührendem Rahmen folgen zu lassen: "Er ernährt sich von Männlichkeit."
Das war's. Jetzt war es raus. Wesentliches war gesagt. Für Nick. Für Pit natürlich nicht. Der hielt die Flasche noch immer fest umklammert, starrte Nick an, dann die Flasche, wieder Nick, wieder die Flasche, die er dann in einem eleganten Ruck zum Mund führte, um in ihn hineinzukippen, was sein Kopf bestellt hatte. Er stellte die Flasche zurück auf den Schreibtisch, Nick zog sie in seine sichere Reichweite und betrachtete liebevoll die Gravur: Nickis Schatz. "Von Katja. Reizend, nicht?!" Er erwartete keine Antwort. Pits Geist schien vorläufig auf Wanderschaft gegangen zu sein. Nick vertrieb sich die Zeit bis zur Rückkehr mit einem zweiten Schluck, zündete sich noch eine Zigarette an und seufzte befreit auf. "Ja. So ist das. Ein Virus. Kürzlich entdeckt worden. Siedelt sich auf Schwänzen an und vermehrt sich in einem Affentempo. Lässt unsere Lieblinge schrumpfen und knabbert dabei gemütlich an unserer Männlichkeit herum. So sieht's aus. Alter Freund." Vertraulich lehnte er sich vor und strahlte Pit augenzwinkernd an. "Ich war kürzlich auf einer Fachtagung. Sozusagen Sondereinsatz, streng geheim. Also, Fakt ist, dass schon etliche Tausende davon betroffen sind. Aber wenn Du mich fragst, ist die Dunkelziffer da bereits deutlich höher. Müssen Millionen sein. Na, was sage ich Dir, mit Statistiken kennst Du Dich ja besser aus, mein Junge. Aber eins kannst Du mir glauben, Pit, mein Bester, und ich bin da ganz ehrlich, lass die ruhig alle erzählen, dass sie schon an einem effektiven Gegenmittel arbeiten, mehr noch, dass sie schon dicht dran sind, glaub's mir, das sind Ammenmärchen. Sollen nur beruhigen. Wunschdenken. Utopie. Blödsinn. Außerdem: Wer will das denn, frage ich Dich? Doch nur die Wissenschaft, um sich so einen idiotischen Lorbeerkranz umhängen zu können. Wozu denn? Sollen doch uns mal fragen. Uns geht's doch einwandfrei besser jetzt. Du siehst das auch noch ein, glaub's mir." Prüfend sah er Pit direkt ins Gesicht. Pit war aschfahl. Seine Mundwinkel zuckten verdächtig. Zögernd überprüfte Nick nochmals Pit Mimik, dann hatte er seine Diagnose: "Bist noch Frischfleisch, Junge. Das wird noch."
"Was?" Pit konnte es nicht fassen. Was zum Teufel redete der da? "Was wird noch?" Er brüllte seine Frage heraus wie ein waidwundes Tier seinen Schmerz. Hier war nichts mehr harmlos, nichts mehr komisch. Hier war nichts mehr, wie es hätte sein sollen. Normal. So gottverflucht normal. Er sehnte sich nach braver Langeweile. Wie herrlich unkompliziert könnte es sein, wenn er hier nicht sitzen würde, konfrontiert mit einem Wahnsinnigen, der ihn Frischfleisch nannte.
Nick winkte verärgert ab. "Schrei nicht so herum. Das alles ist Vernunftsache, Pit, rein rationell betrachtet solltest Du Dich glücklich schätzen, dass es ist, wie es ist." Er fingerte erneut nach seiner silbernen Flasche. "Her mit dem Zeug." In wilder Verzweiflung fuchtelte Pit mit seinen Händen nach Nicks Zaubertrank, schnappte ihn sich und ließ den Inhalt wie einen Sturzbach durch seine Kehle fließen. Dann rülpste er, und tatsächlich klang dieser eine echte Rülpser wie der erste zivilisierte Laut in seinen Ohren nach dem ganzen verbalen Müll, den er ihnen in den vergangenen Minuten zugemutet hatte. "Leer." Er japste nach Luft. Nick grinste gequält. "Auch gut. Wer's braucht. Nun denn, Pit, mein Freund, hör' mir jetzt einfach nur zu. Hör' genau zu, Pit, damit ich mich und Dich nicht länger mit lästigen Wiederholungen nerven muss. Schaffst Du das, mein Alter?!" Seine letzten Worte trieften vor Ironie. Egal. Pit war alles egal. Dr. Nick Laufkötter wollte offensichtlich partout nichts auslassen, was bitterböser Situationskomik gerecht werden konnte. Was kam jetzt noch? Pit sah unruhig auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr. Wie lange dauerte dieses absurde Gespräch bereits? Warum saß er überhaupt hier?
Als hätte Nick just in diesem Moment seine Gedanken perfekt hatte lesen können, lehnte er sich gemächlich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. "Du fragst Dich jetzt, was zum Teufel hier eigentlich abgeht?! Ich sage es Dir. Dich, mein Bester, hat es erwischt. Es hat Dich erwischt. Er." Pause. "Tragisch ist das nicht." Er entschränkte sich wieder, verknotete seine Hände und entknotete sie wieder. Dann gähnte er kurz, leicht gelangweilt, aber eben auch müde. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Und jetzt noch Pit. Der gute Pit. Wenn der nur begreifen würde, wie angenehm, wie sympathisch leicht das Alles war.
Pit starrte ihn ungläubig an. "Willst Du völlig durchgeknallter Spinner mir hier ernsthaft erzählen, dass es völlig normal ist, diesen komischen Virus irgendwo da unten an mir kleben zu haben, der da jetzt also ist und bleibt und sich durchfrisst? Du bist ja nicht mehr ganz echt, Nick. Geh' mal zum Therapeuten, Dr. Frankenstein." Er tippte sich mit vorpubertärem Elan an die rechte Schläfe und machte seriöse Anstalten, sich halbwegs elegant zu erheben und zu entfernen von einem Ort, den er vorerst nicht konkret zu definieren vermochte. Spontan besann er sich eines Besseren. Ohne unfeine Szene würde er Nicks Sprechzimmer nicht verlassen. Ihm eine hübsch ordentliche Szene machen zu dürfen, wie es in den besten Ehen üblich ist, war Nick ihm, verdammt noch mal, schuldig. Das sollte das Mindeste sein. Also polterte er los.
"Ich weiß nicht, was in Dich gefahren ist, Du hirnverbranntes Oberarschloch, aber das hast Du nicht umsonst gemacht. Du bist für mich der allerletzte Flachwichser, Du kannst mich mal kreuzweise, Du blöder akademischer Penner. Ich komm' als Freund zu Dir mit einem Problem, das mir echt zu schaffen macht, und da kannst Du Dich von mir aus noch so drüber amüsieren, lach' Dich doch kaputt, aber für mich war das wirklich ein Problem, hörst Du?!" Er strich sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn, unterstrich seine Worte, indem er die Hand um hundertachtzig Grad in der Bewegung drehte und flach auf die Tischplatte klatschte, und korrigierte sich in leicht gedämpfterem Ton: "Nicht war. Ist ein Problem. Immer noch. Damit das mal klar ist, Du ignoranter Saftsack."
Nick erhob sich wortlos. Er blickte Pit direkt in die Augen. Mitleidig und herausfordernd zugleich. Stumm lockerte er seinen Gürtel, knöpfte seine Hose auf und ließ sie locker fallen. Er verharrte kurz, fast triumphierend zuckten seine Mundwinkel, und während er seinen Blick nicht von Pit ließ, zog er sich mit routinierter Grifftechnik den gerippten Slip hinunter. Pits Pupillen weiteten sich. Fassungslos sah er hin. Unvermeidbar war's, nicht hinzusehen. Grotesk war, was das baumelte. Der Verlust war unübersehbar, das, was ganz offenkundig darüber hinwegtrösten sollte, war deutlich noch unübersehbarer, hatte freilich sehr wohl auf absurde Weise einen recht aparten Reiz. Fand Pit, nachdem der Schock angesichts dieser einen bedeutsamen Tatsache einer gewissen Zufriedenheit wich.
Hübsch. Dachte er fast erheitert. Er fühlte sich originell befreit. Es war ein ungewohntes Aufkeimen süßer Lust an der Einmaligkeit des Nichts. Denn Nichts, streng genommen etwas Nichtiges, das auch bei allem Wohlwollen kaum der Rede, gar des Philosophierens wert sein konnte, hing dort unten in Nicks Schritt. Kein Schwanz. Kein Schwänzchen. Ein winziges rosiges Zipfelchen war's, dezent dekoriert mit höchsteigenen goldfarbenen Löckchen, aber umso auffälliger geschmückt mit einem glitzernd schillerndem Gebaumel, das Nick dort mit sehr viel Geschick irgendwie befestigt haben musste. Knallig rote Kügelchen mit silbernen Sprenkeln, miteinander verbunden durch violette Schleifchen und einer Art grünlich glänzenden Lamettas verliehen dem schüchternen Würmchen zwischen Nicks Beinen ein Selbstbewusstsein, das dem Träger just in diesem Moment ein glockenklares Lachen entlockte. Immer wieder entzückt von diesem kitschig schönen Anblick, zutiefst gerührt von der liebevoll zusammengestellten Pracht genau dort, wo sich das Zentrum seiner vom Virus gefressenen Männlichkeit der Natur gemäß hätte befinden müssen, kam Dr. Nick Laufkötter nicht umhin, Pit mit zärtlicher Stimme aufzufordern, mal anzufassen. Zögernd tastete Pit sich geistig nach vorn, wich zurück, unfähig, sich selbst und seine Rolle in diesem Spiel in Worte zu bringen, schüttelte empört den Kopf und spürte doch gleichzeitig, dass er selbst sich diese Empörung nur vorgaukelte. Genau genommen war er einfach nur unsicher. Anpacken oder nicht? Und wenn nicht, warum nicht? Er konnte nichts Anstößiges entdecken, nichts, was ihm wirkliches schmerzhaftes Unbehagen hätte bereiten können. Stattdessen fühlte er sich angezogen von dem aufwendig und pompös, auf geschmackvolle Weise geradezu tollkühn geschmückten Unterleib seines Freundes. Und er vermisste dort nichts. Absolut nichts Wesentliches. Gleichzeitig erschien ihm sein eigener Verlust, jüngst von ihm noch zutiefst betrauert, kaum der Rede wert. Gab es eine größere Augenweide als diese, bunt und kess und einfach nur wunderbar?!
Nick räusperte sich. "Und?!" Stolz ließ seine Stimme rau vibrieren. Zu männlich, befand Pit. Deshalb quietschte er einen süßen kleinen Freudenschrei heraus, der Situation durchaus angemessen und ehrlichster Ausdruck genug, um seine Bewunderung zu bekunden. Nick kicherte. "Süß, was?! Ich hab's Dir doch versprochen. Nichts ist, wie es war. Aber es ist großartig. Ich fühle mich wie neugeboren. Verstehst Du, was ich meine? Sinn und Zweck sind damit mehr als nur in Frage gestellt, mein Freund, es hat alles eine völlig neue Wertigkeit. Du musst Dich damit keineswegs unwillig arrangieren, Du musst es positiv annehmen, Du musst Dich ziehen lassen. Schwebe, mein Guter. Ich sehe mich auf leichte, berauschende Art motiviert, hin zu Perspektiven öffnenden Ufern aufzubrechen. Ich bin der Vogel, der gelernt hat, zu fliegen. Ich könnte Bäume ausreißen. Ich möchte mich schminken, hübsch frisieren, schwanger sein." Kokett ließ er seine Hand über den Bauch kreisen, blickte dann leicht verschämt zu Boden und zupfte an seinem Ohrläppchen. "Gestern hab' ich mir die Fußnägel lackiert."
Pit erstarrte. Hatte er sich noch für den flüchtigen Moment tatsächlich glücklich im absoluten Mysterium gewähnt, war ihm jetzt, als hätte jemand einen Kübel Eiswasser über seinem Kopf ausgeschüttet. Irgendjemand, egal, aber mit Sicherheit kein angemalter Geck mit Babybauch. Er schüttelte sich angewidert, kam sich gleichzeitig selbst vor wie der Ekel erregende Antiheld in einer Groteske, die ihn grundsätzlich abstieß und doch so offensichtlich kurz zuvor noch völlig irrational hatte faszinieren können. Er sprang auf und stürmte hinaus. Das war's. Ihm war plötzlich kotzübel. Er stolperte durch die Glastür hinaus ins Freie und übergab sich in dem Blumenkübel, der neben dem Hauseingang stand und der ihm, derart voll bespuckt, wie ein von Gott gesandter Mülleimer für seinen psychischen Abfall vorkam. Endlich befreit. Er atmete tief durch und wischte sich die Überreste dieser geistigen Scheiße vom Kinn. Hatte er dieses affige Gehänge in der Unterhose seines durchgedrehten Freundes tatsächlich für hübsch befunden? Er stieß ein gequältes Lachen hervor. Verhalten erst, dann beeindruckend dröhnend, zum Fürchten laut und vom Irrwitz geschickt. Ein Passant drehte sich kopfschüttelnd nach ihm um. Pit ballte die Faust. "Fressen und gefressen werden! Zeig' mir, was Du in der Hose hast, Kumpel. Schleifchen oder Männlichkeit? Wie wär's mit einem Arztbesuch?" Der Passant suchte das Weite, griff sich unauffällig in den Schritt und lächelte zufrieden. Entzückend, was er fühlte. Er dachte an seine frisch rasierten Waden und an Blümchendekor auf Kaffeetassen.
Pit sah ihm lauernd nach, lachte wieder und wieder, lachte sich heiser und verstummte abrupt, weil ihm bewusst wurde, dass es prinzipiell nichts mehr zu Lachen gab. Er verharrte und blickte verklärt zum Himmel. Die Sonne hatte in der Abendstunde noch Kraft. Er blinzelte, dann schloss er die Augen, ließ sich von der Wärme kitzeln. Ihm fiel die hellblaue Satinbettwäsche ein. Wieso hatte er die noch nie aufgezogen? Es hämmerte unter seiner Schädeldecke, klopfte erst dezent, dann vehement und beharrlich, wollte heraus und zwang ihn, ihm nachzugeben. Gleichzeitig verspürte er dieses Pochen in seinem Unterleib, prickelnd, nicht unangenehm, und er ließ es zu, dass er es als Nagen deuten konnte. Natürlich. Da knabberte was an seinem Schwanz herum. Logisch eigentlich. Das Virus schlug sich den Bauch voll, futterte da unten an ihm herum. Behutsam legte er seine Hände auf den Hosenschlitz. Da wurde ja was wirklich Feines angerichtet. Vom Allerfeinsten war das. Er bedauerte seinen Starrsinn. Er war wirklich nicht nett zu Nick gewesen. Das schlechte Gewissen plagte ihn. Er würde ihm Blumen schenken.
Nichts war, wie es war. Und warum auch?! Das Leben war schön.
Ein ganzes Buch mit Geschichten von Karin Reddemann
Karin Reddemann
Gottes kalte Gabe
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-3-6
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Warum wünscht sich ein Mädchen in einer Leichenhalle zu liegen und aufzuwachen in einem weißen Nachthemd aus Spitze, das dem Totenhemd ihrer Tante ähnelt? Wer ist der Tote Mann auf dem Bett, in dessen Hals ein Schraubenzieher steckt? Wem gehört der Ring, der im Garten unter einer Zeder vergraben wurde? Kann ein harmloser Teddybär zum Mörder werden? Warum kann es verhängnisvoll sein, ein Einmachglas fallen zu lassen oder als Kind an seinem Zeh zu lutschen? Wer waren die Personen, die auf dem alten Gemälde ohne
Augen dargstellt sind und was ist ihr Geheimnis? …
Karin Reddemanns Geschichten erwecken alltägliche Ängste und düstere Bilder und entführen den Leser in eine verstörte und verstörende Welt.