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Der Mann in der Flasche
Helmut Wemer
Plötzlich stand er im Scheinwerferlicht meines Wagens und winkte. Er war klein, hager, weißhaarig und unfrisiert, und hielt in einer Hand eine Flasche aus grünem Glas. Ich hielt an, kurbelte das Seitenfenster herunter und wartete. Er kam an den Wagen heran, beugte sich zu mir herein und fragte leise: "Suchen Sie etwas?"
Das überraschte mich. Ich hatte angenommen, er wolle eine Auskunft oder vielleicht mitfahren, um das Taxi zu sparen. Suchen Sie etwas? Wie kam er bloß auf die Idee? Doch, so merkwürdig es auch schien, er hatte Recht: Seit drei Stunden fuhr ich nun schon in dieser blödsinnigen Stadt herum, die nur aus Autos und Verbotstafeln zu bestehen schien, und suchte einen Parkplatz. Ich erzählte es ihm. Er hörte sehr aufmerksam zu. Dann sagte er freudig: "Das trifft sich gut. Ich werde Ihnen helfen. Steigen Sie bitte
aus."
"Wozu?" fragte ich. "Hier kann ich den Wagen ja doch nicht stehen lassen."
"Steigen Sie bitte aus", wiederholte er sanft.
Vielleicht war es sein Alter, das keinen Widerspruch duldete. Oder sein Professorengesicht? Jedenfalls tat ich, was er mich geheißen hatte. Der Wagen stand breit und protzig neben uns. Die Parkverbotstafel am Straßenrand grinste frech. Es begann zu regnen.
Ich wurde ungeduldig und fragte ihn, woraus seine Hilfe nun bestehen werde. Er lächelte, zeigte auf die Flasche in seiner Hand und sagte: "Jetzt werden wir den Wagen hier hineintun."
Ein Verrückter also. Ich ärgerte mich, hereingefallen zu sein, und hielt missmutig Ausschau nach einem freien Platz, doch es war zwecklos. Enttäuscht drehte ich mich um - und fuhr erschreckt zusammen. Der Wagen war weg! Dort, wo er gestanden hatte, war nichts als ein kleiner glänzender Ölfleck auf dem Asphalt, der mich daran erinnerte, dass es an der Zeit wäre, die Dichtung der Ölwanne zu erneuern. Das war alles.
Der Alte lächelte immer noch und zeigte stolz auf seine Flasche. Tatsächlich! Da drin hatte er meinen Wagen, klein wie ein Spielzeug. Mich fröstelte.
"Da", sagte er "nehmen Sie. Aber geben Sie Acht, wo Sie den Korken herausziehen. In einem Restaurant zum Beispiel wäre es nicht sehr ratsam."
Ich muss nicht eben geistreich ausgesehen haben, als ich die Flasche in Empfang nahm. "Aber wie ist es nur möglich", fragte ich, "dass ich noch nie von Ihnen gehört oder gelesen habe? Wenn es sich um Wunder handelt, sind die Medien doch sonst nicht so diskret."
Bevor er antworten konnte, nahm unser Gespräch ein jähes Ende, denn aus dem Regen, der uns bisher nicht weiter gestört hatte, wurde plötzlich ein Wolkenbruch, und wir flüchteten. In dem Lokal, in das wir dabei gerieten, war noch ein Tisch frei. Wir setzten uns. Die Flasche mit dem Wagen stellte ich vor mich hin. Der erste, dessen Aufmerksamkeit sie erregte, war der Wirt. Er machte Augen wie bei einer Preisverteilung, und ich musste meine Bestellung dreimal wiederholen. Kaum war er fort, kam ein dicker Mann vom
Nebentisch herüber und fragte, ob er das Auto betrachten dürfe. Ich hatte nichts dagegen, bat ihn aber, den Korken nicht zu berühren.
"Niedlich!" rief er und klatschte in die Hände. "Wie echt alles aussieht! Sogar die Kratzer am Kotflügel."
"Es war nicht meine Schuld", sagte ich. "Der andere hat mich gestreift."
Der Dicke stutzte. Dann sagte er: "Ach so, ich verstehe: Es ist eine genaue Nachbildung Ihres eigenen Wagens."
"Es ist keine Nachbildung", sagte ich gereizt. "Es ist mein Wagen."
Der Dicke lachte. "Sie sind mir aber ein Spaßvogel."'
"Aber ich versichere Ihnen ..."
Mein Begleiter legte seine Hand auf meinen Arm. "Lassen Sie", flüsterte er. "Man wird Sie sonst für verrückt halten."
Ich schwieg. Als der Dicke gegangen war, nicht ohne mir vorher nochmals versichert zu haben, was für ein Spaßvogel ich sei, sagte mein Begleiter: "Sie müssen unbedingt vorsichtiger sein. Ich habe da so meine Erfahrungen - besonders mit solchen Leuten. Der Mann am Patentamt war ein ähnlicher Kerl. Ich ging zu ihm, um ein Patent anzumelden: 'Neue, absolut wirksame Lösung des Parkplatzproblems durch Mitnahme des Wagens in einer Flasche'. Das erste Mal warf er mich kurzerhand hinaus. Es war allerdings meine
eigene Schuld, denn ich hatte das Datum denkbar ungünstig gewählt: Erster April. Das zweite Mal ..."
Wir wurden unterbrochen, da die Leute am Nebentisch förmlich explodierten. Der Dicke schien ihnen erzählt zu haben, was ich zu ihm gesagt hatte, denn alle sahen zu uns herüber und wieherten. Ich beschloss, die Bande einfach zu ignorieren, und mein Begleiter fuhr fort: "Das zweite Mal gelang es mir immerhin, den Mann so weit zu bringen, dass er mir ein Experiment gestattete. Ich ließ seinen Schreibtisch in der Flasche verschwinden."
"Was?" sagte ich erstaunt, "Sie können auch andere Dinge als Autos ...?"
"Aber natürlich. Und ich versichere Ihnen: es ist keine Hexerei. Man muss nur daran glauben, das ist alles." Er schob mir die Weinflasche, die inzwischen leer geworden war, über den Tisch zu und sagte: "Versuchen Sie es doch einmal."
Ich zögerte. "Aber was?" fragte ich. - Er besann sich einen Moment, dann sagte er: "Den Hund des Wirtes. Er ist hier unter dem Tisch, da wird es niemand bemerken."
Ich schloss die Augen und versuchte, mich zu konzentrieren. Es ging nicht.
"Sie glauben zu wenig daran", sagte er, "geben Sie einmal her." Kaum hatte er die Flasche in der Hand, da sprang auch schon der Hund leise bellend darin herum. Er verkorkte sie. Ich war begeistert. "Zeigen wir ihn dem Dicken", sagte ich.
"Es hätte keinen Sinn. Er würde es für eine Sinnestäuschung halten. Besonders jetzt, wo er etwas getrunken hat."
"Könnten Sie auch den Dicken...?" fragte ich.
"Aber natürlich. Doch er würde Schaden nehmen. Menschen ohne Phantasie vertragen Wunder nicht."
Er entkorkte die Flasche. Einen Augenblick später sauste der Hund winselnd und mit eingezogenem Schwanz unter dem Tisch hervor und verkroch sich hinter der Theke.
"Das hast du davon", sagte der Wirt zu ihm, etwas lauter als unbedingt nötig. "Man geht nicht zu Leuten, die keine Tiere mögen, wenn man ein Hund ist."
Ich wandte mich wieder an meinen Begleiter und fragte: "Und was geschah dann weiter auf dem Patentamt?"
"Erst war der Knabe natürlich sehr überrascht. Er sezierte die Flasche förmlich mit seinen Blicken. Nachdem er dort, wo der Schreibtisch gestanden hatte, die Luft mit seinen Händen durchwühlt hatte, kam ihm die Erleuchtung. Er habe, sagte er, ähnliches schon im Fernsehen gesehen. Ein gewisser David Copperfield habe da noch ganz andere Dinge verschwinden lassen - einen ganzen Eisenbahnzug, ja sogar die New Yorker Freiheitsstatue. Im Patentamt wäre man aber nur für Neuheiten zuständig und nicht für Tricks,
die man schon täglich im Fernsehen bewundern kann. Erst versuchte ich ihm zu erklären, dass es kein Trick sei. Dann aber sah ich die Sinnlosigkeit meines Unterfangens ein, gab ihm seinen Schreibtisch zurück und ging."
"Und was wollen Sie jetzt unternehmen?" fragte ich.
"Eigentlich gar nichts. - Die kurze Zeit, die ich noch zu leben habe, würde ich am liebsten in einer Flasche verbringen, die langsam übers Meer schwimmt. So ganz, ganz allein: Das wäre schön. - Aber leider gibt es da eine Schwierigkeit."
"Und die wäre?"
"Ich brauche jemanden, der die Flasche verkorkt, wenn ich drin bin. Denn ich kann in einer unverschlossenen Flasche nicht länger als fünf Minuten bleiben. Es ist zu anstrengend. Würden Sie es für mich tun? Sie brauchten mich nachher nur in den Fluss zu werfen."
Ich dachte nach. Er sah mich so erwartungsvoll, ja bittend an, dass er mir Leid tat. Aber ich konnte mich nicht entschließen. Irgendwie hatte ich doch das Gefühl, es sei eine Art Mord, die ich da begehen würde. Ich sagte es ihm. Er antwortete nicht und saß traurig da. Dann riet er plötzlich zum Aufbruch. Ich zahlte, und wir verließen das Lokal. Als wir eine Weile gegangen waren, fiel mir ein, dass ich ja den Wagen bei mir hatte. Kaum war der Korken entfernt, stand er auch schon da, als wäre er nie in einer Flasche
gewesen. Ich fragte meinen Begleiter, wo ich ihn absetzen dürfe, doch er lehnte ab. "Ich gehe lieber zu Fuß", sagte er. "Vielen Dank und - auf Wiedersehn."
"Auf Wiedersehn! Und seien Sie mir bitte nicht böse, dass ich..." - Doch da war er schon um die Ecke.
Ich habe ihn nie wieder gesehen. Aber einige Wochen später fand ich in einer Tageszeitung unter dem Titel "Verrückter Gelehrter verschwunden" einen Bericht, der genau auf meinen Mann passte. Ich ging zur Polizei. Man führte mich in seine Wohnung. Es war die reinste Alchimistenküche. Überall standen diese grünen, bauchigen Flaschen herum. Auf dem Tisch war eine sonderbare Maschine aufgebaut. Ich fragte den Beamten, wozu sie wohl gedient haben möge.
"Keine Ahnung", sagte er. "Wir haben sie nicht näher untersucht. Uns interessiert in erster Linie sein Verschwinden."
"Haben Sie schon eine Spur?" fragte ich.
"Nein. Alles, was wir feststellen konnten, ist, dass die Wohnung von innen verschlossen war und dass außer ihm auch sein Bett und ein Teil seiner Bibliothek verschwunden sind."
Ich sah aus dem Fenster. Unten, vier Stockwerke tiefer, ging der Fluss vorbei.
"Ich weiß, was Sie jetzt denken", sagte der Beamte. "Wir haben zuerst auch gedacht, es sei Selbstmord gewesen, aber man hätte ihn gefunden. Weiter unten geht nämlich ein Gitter quer durch den Fluss, um das Treibholz aufzufangen. Er wäre dort hängen geblieben."
Mir ging plötzlich ein Licht auf. "Diese Flasche", sagte ich und hob eine vom Boden auf, "könnte sie dieses Gitter passieren?"
"Das schon", sagte der Beamte. "Doch ich verstehe nicht recht, was das mit ..."
"Einen Moment", sagte ich und ging zur Maschine. Ich bog einen Hebel herunter, der in der unteren Stellung einrastete. Am freien Ende trug dieser Hebel eine Vertiefung. In diese stellte ich die Flasche. Ein anderer, kleinerer Hebel, der ebenfalls einrastete, als ich ihn zurückbog, hatte ein Loch, das gerade einen Korken aufnehmen konnte. Ich steckte einen hinein. Dann wartete ich. Nach ungefähr einer halben Minute schlug der kleine Hebel den Korken in den Hals, dann flog die Flasche durchs geöffnete
Fenster hinaus ins Freie. Ich lief rasch hin und sah, wie sie genau in der Mitte des Flusses aufs Wasser aufschlug und davonschwamm.
"So ein Unfug", sagte der Beamte.
"Das ist kein Unfug", sagte ich. "Das ist des Rätsels Lösung." Und ich erzählte, was ich wusste.
Heute Nachmittag durfte ich das erste Mal die Gummizelle verlassen. Der Arzt war sehr freundlich. Er meinte, es sei eine Folge von Überarbeitung. Mit Hilfe der modernen Psychotherapie sei es jedoch möglich, solche Wahnvorstellungen zu heilen. Ich fragte ihn, wie lange das wohl dauern werde. Er blieb mir die Antwort schuldig und sagte, nicht die Dauer der Behandlung sei hier von Bedeutung, sondern das Ergebnis.
Liebe Mitmenschen! Man hält mich also hier zurück, und ich weiß nicht, wie lange es noch dauern wird. Sie aber, die Sie meine Geschichte gelesen haben: Suchen Sie! Denn irgendwo, im Mittelmeer, im Atlantischen oder Indischen Ozean, wie gesagt, irgendwo schwimmt jetzt unser Mann in seinem selbst gewählten Gefängnis. Und wenn Sie ihn gefunden haben: Befreien Sie ihn. Auch wenn er nicht will. - Wie? Sie meinen, das Parkplatzproblem sei Ihnen als Nichtautobesitzer fremd? Gut. Aber vergessen Sie nicht: Er kann nicht
nur Autos in Flaschen hineinzaubern. Und es gibt auf unserer Welt so Vieles, das in Flaschen gehörte. Mit Dauerverschluss, meine ich. Was zum Beispiel? Denken Sie doch einmal nach! Wie wäre es denn mit ...? Na also!
Und glauben Sie mir: Es gibt noch eine ganze Menge.
Eingereicht am 02. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.