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Jenseits von Gut und Böse

Von Matthias Kirchner


Frau Hermann war noch nicht lange im Himmel.
Dass es nach dem Tod überhaupt weiterging, war schon Überraschung genug für sie gewesen, aber wie sich das Jenseits nun konkret präsentierte, gab ihr erst recht zu denken.
Die im Fegefeuer von allen Frustrationen gereinigten Seelen existierten gelassen vor sich hin - von allumfassender Liebe ergriffen und in himmlischer Harmonie mit allem.
So weit, so gut.
Unpassend schien ihr allerdings, wie merkwürdig banal alles hier war:
Sicher, es gab kein Oben und Unten, aber hübsch dreidimensional war immer noch alles.
Die Seelen schwebten als blassdunstige Wolken herum, in denen man verschwommene Gestalten und Gesichter erahnen konnte.
Männer waren hellblau und Frauen rosarot.
Ausgerechnet! Am liebsten hätte sie protestiert, doch die himmlische Harmonie hielt sie zurück.
Was Frau Hermann am meisten irritierte, war das Fehlen jedweder spiritueller Aufklärung. Seit ihrer Ankunft wartete sie auf jemanden, der zu ihr käme und mal sagte: "Hallo, ich bin also der liebe Gott, ah, du hattest ein anderes Bild von mir, nun, nun, darum habe ich ja verboten, sich eines zu machen, aber halb so schlimm, das ging den meisten so, du wirst dich daran gewöhnen, gelebt hast du darum und darum und nicht darum und darum, guten Start hier bei uns, es wird dir gefallen."
Mit Gott selber würde es wohl nichts mehr. So suchte sie stattdessen Jesus und Buddha auf. Aber Frau Hermanns Freude darüber, dass es diese Männer entgegen ihrer Erwartung also tatsächlich gab, verflog rasch.
Jesus reagierte verständnislos. Er wisse gar nicht, was sie habe, nun sei doch endlich alles gut.
Buddha schien sich sogar ein bisschen angegriffen zu fühlen. So sei es nun mal im Nichts; das Nichts verlange keine Erklärungen. Was sie denn überhaupt erwartet habe, wollte er wissen, worauf sie ihm antwortete: "Nichts".
Das hatte er natürlich überhört.
Am Schluss meinte Buddha nur noch, sie solle froh sein, dass er mit seinem "Aufgehen im Nichts" danebengelegen habe. Mit diesem Gedanken des völligen Persönlichkeitsverlusts habe er sich ganz im Vertrauen nie wirklich anfreunden können.
Später kam sie mit einer kleinen, rosa Wolke ins Gespräch. Diese bestätigte Frau Hermann freundlich, dass die meisten Neuen zunächst einmal ihre spirituelle Orientierung verloren, wenn sie hier ankamen. In ihr habe Frau Hermann aber die Richtige gefunden. Anders als die meisten anderen Seelen habe sie sich nie auf ein bestimmtes Weltbild festgelegt. Ein religiöser Allrounder also sei sie.
Die Wolke hieß Eva und war sehr interessiert an Frau Hermanns Bericht von der Begegnung mit den großen Heiligen.
"Sage schnell, hast du dich mit den beiden zugleich oder nacheinander unterhalten?" fragte sie.
"Nun, nacheinander. Wieso?"
"Wegen der Frage um die Wiedergeburt. Wir erinnern uns zwar nur an ein Leben, es soll aber Seelen geben, die sich an mehrere erinnern können Vielleicht bekommt ja jede Reinkarnation eine eigene Wolke zugeordnet. Von den Wolken Buddhas und Jesus' heißt es nun eben, sie seien einander verdächtig ähnlich; dazu kommt, dass man die beiden nie zusammen trifft."
Frau Hermann glaubte noch nicht einmal so ganz daran, dass sie wirklich war, wo sie war, und um sie von der Wiedergeburt zu überzeugen, bräuchte es schon ein stärkeres Argument.
"Ich glaube, eine gewisse Ähnlichkeit war wohl da, aber die Stimmen klangen völlig unterschiedlich."
"Ich weiß, ich weiß. Aber lässt nicht gerade dieser übertrieben große Unterschied auf Verstellung schließen? Wie auch immer, ich liebe Buddha (ich liebe natürlich alle und alles, aber ihn besonders). Sein Bild vom ‚Eintauchen in den Ozean', wenn man in das Nirwana eingeht, ist zauberhaft.
Ich höre es immer noch förmlich platschen.
Seit wir das Überirdische kennen, stellt sich die Frage, was sich hinter dem nächsten Vorhang verbirgt. Ich spreche ja so gerne über all das. Eine meiner Lieblingsfragen ist "Gibt es ein Leben nach dem Leben nach dem Tod?".
Wir haben hier die unterschiedlichsten religiös-philosophischen Richtungen vertreten. Freue dich mit uns an diesen unerschöpflichen Themen. Wenn du mehr wissen willst, nehme ich dich gerne mal zu einem Treffen mit. Außer bei den Materialisten fühle ich mich eigentlich überall wohl."
"Wodurch zeichnen die sich denn hier im Jenseits aus?", wollte Frau Last wissen.
"Transzendentales, insbesondere das Leben nach dem Tod kann man hier doch nicht mehr anzweifeln."
"Das macht auch niemand", erwiderte Eva, "aber die Materialisten haben die Unverfrorenheit, das Leben vor dem Tod zu verleugnen!"
Frau Hermann bewunderte insgeheim die Raffinesse dieser geistigen Flexibilität und beschloss, dem eigenen Verstand auch eine Chance zu geben:
Es gab also ein Jenseits; alles war dort zwar von wunderbarer Ordnung, aber letztlich war nichts klarer als vorher.
War unten der Weltschmerz allgegenwärtig, war es hier oben das himmlische Glück. Die Reaktion der Menschen darauf jedoch ist beide Male dieselbe: Sie wollen nur wissen, wer jeweils verantwortlich dafür ist.
Von ferne nahte eine blaue Wolke. Eva wies auf sie.
"Sieh nur, da kommt mein guter Mann, Adam"
"Wie? Bist du tatsächlich die Eva von Adam und Eva? Ich habe natürlich von dir gelesen, glaubte aber nie, dass da ein Wort davon wahr ist, und erst recht nicht, dir persönlich zu begegnen. Stimmt das denn also alles?"
"Nun, das waren schon Zeiten voller Zeichen, die Luft flirrte geradezu vor lauter feinstofflicher Energie."
"Schön und gut, aber etwas Handfesteres ist da nicht auf Lager?"
"Aber man konnte die göttliche Präsenz beinahe greifen, so präsent war sie, die Präsenz."
"Wie ich es mir also gedacht habe. Alles Märchen."
"Ich mag Märchen. Der Wert der Überlieferungen liegt in ihrem symbolischen Gehalt für die wirklich Suchenden und nicht in plumpen Zeugenaussagen.
Manches wurde auch etwas übertrieben, um die Moral überzeugender zu machen.
So haben sich meine Söhne wirklich nicht gut vertragen, aber Brudermord - nie im Leben."
"All die Gottesbezeugungen sind dann wohl nicht für bare Münze zu nehmen."
"Nun, Adam behauptet steif und fest, vor meiner Erschaffung ausschließlich mit Gott umhergezogen zu sein. Gemeinsam hätten sie dabei oft eine Art Tier- und Pflanzennamenraten gespielt.
Da kommt er gleich, sprich ihn aber lieber nicht darauf an. Er ist kaum davon abzubringen, wenn er mal losgelegt hat."
Glaubte die Kleine ihrem Mann etwa diesen Unsinn? Frau Hermann fühlte sich durch Evas Aussagen einerseits völlig in ihrem Unglauben bestätigt, aber was hatte dann andererseits das Jenseits hier zu suchen?
"Eva, dass in der Ewigkeit jeder jedem früher oder später über den Weg läuft, ist ja klar. Trotzdem ist unser Treffen einigermaßen erstaunlich.
Als mein Mann nämlich starb, ließ er mich völlig allein zurück. Es gab keine anderen Menschen mehr."
Eva wurde es ganz warm.
"Mein Gott, ist das aufregend. Ausgerechnet wir beide begegnen uns hier. Ist das nun Schicksal oder Zufall. Wenn ich das bloß wüsste. Die Erste trifft die Letzte!"
In diesem Augenblick kam Adam hinzu. Sofort polterte er los, etwas gebremst natürlich von der himmlischen Harmonie:
"Was höre ich denn da? Nur weil wir zumeist in einem Atemzug genannt werden, heißt das noch lange nicht, dass wir alles teilen, und das Attribut des Ersten, des Ur-Menschen gebührt mir allein, Rippe!"
An die fast genüssliche Art wie Adam bei diesem Wort das "R" rollte, würde sich Eva nie gewöhnen.
"Ach Schatz, wenn wir nicht im Himmel wären, meinte ich, du wärest mir bös. Immer bist du so aufgeregt, wenn du vom Atheistenstammtisch kommst. Warum tust du dir das an?"
"Einer muss denen doch Paroli bieten."
Da warf Frau Hermann ein:
"Eigentlich dürfte das doch nicht so ein einsamer Kampf sein. Mit den Seelen aller Religionsdiener und Propheten im Rücken."
"Wankelmütiges Pack!", knurrte Adam nur und Eva fügte hinzu:
"Diese Leute sind auffällig still hier."
Das gefiel Frau Hermann.
"Sie wissen wohl nicht, ob sie sich nun voller Genugtuung bestätigt fühlen dürfen oder ihre Vergangenheit lieber für sich behalten, um nicht ausgelacht zu werden (natürlich nicht bösartig hier in der himmlischen Harmonie). Ihr Triumph bleibt zumindest seltsam vage."
Endlich wagte Eva, ihre neue Freundin vorzustellen, aber Adam würdigte Frau Hermann keines Blickes. Eva beschwor ihn:
"Adam, verstehst du nicht, was das bedeutet? Du, der Erste, sie die Letzte.
Wenn der Mensch, das Menschsein einen Sinn und ein Ziel hatte, dann muss die Menschheit eine echte Entwicklung durchgemacht haben, einen Fortschritt, der mehr ist, als das bloße riesenhafte Erweitern eines Bruches. Ihr beide verkörpert Beginn und Ende."
"Meinst du also, ich sei dieser Dame in irgendeiner Weise unterlegen?", fragte Adam lauernd, worauf Frau Hermann Eva in Schutz nahm.
"Seien Sie doch nicht gleich beleidigt und hören Sie Ihre Frau erstmal an!"
Doch diese hörte schon gar nichts mehr. Nun ganz in ihrer Materie rief sie mit sich bereits überschlagender Stimme und jedes Wort betonend:
"Der Gründer und die Vollenderin, es ist vollbracht!"
"Bist du übergeschnappt?", wollte Adam wissen.
Eva ließ sich nicht beirren und es sprudelte nur so aus ihr hervor:
"Also, wenn man nun den Ausgangspunkt, Adam, vom Ergebnis, Frau Hermann abzieht, dann steht doch hinter dem Gleichheitszeichen die Essenz, der Sinn, ES..... Oh, wie ich das Philosophieren liebe.", fügte sie sich langsam beruhigend hinzu.
"Heureka", stöhnte Adam
Da wendete sich Frau Hermann an ihn:
"Ich finde, man sollte diesen Vorschlag ernster nehmen. Wer weiß?
Sorgfältig angegangen könnte man vielleicht endlich Genaueres über die Existenz oder Nichtexistenz Gottes erfahren. Das müsste Sie doch auch reizen, nein?"
"Mein Wissen ist unerschütterlich. Ich wanke nicht und damit Schluss."
"Von welchem Wissen sprechen Sie denn überhaupt?"
Eva seufzte: "Ach, so nennt er seinen Glauben."
"Meine Dame, ich spazierte mit dem lieben Gott höchstpersönlich durch den Garten Eden, bevor weitere Menschen geschweige denn Frauen einschließlich Eva und Ihnen überhaupt vorgesehen waren."
"Ich bitte Sie, selbst hier im Himmel zeigt ihr ER sich nicht. Hier hätte ER doch wirklich keinen Grund mehr, sich zu verstecken."
"ER hat doch deutlich gesagt, was ER macht. ER will sich ausruhen; der siebte göttliche Schöpfungstag ist einfach noch gar nicht vorbei."
"Können sie das Jenseits nicht auch ohne Ihre naive Gottesvorstellung und senilen Geschichtchen genießen? Es ist doch alles so wunderbar!"
"Wunderbar war es, als Eva, Sie und alles dazwischen nicht da waren.
Die ganze Menschheitsgeschichte war die Folge der weiblichen Schwäche für Süßes. Kriege, Kultur, Klassenkampf. Alles formloser Mist ohne Sinn und Berechtigung."
"Das wirft er mir seit jenem verhängnisvollen Tag vor. Dabei wurde mein Vergehen schon auf Erden gesühnt: All meine Töchter wurden zur unbändigen Lust auf Süßes und gleichzeitig zur Abscheu vor den Folgen dieses Genusses verdammt."
Frau Hermann bestätigte diesen Sachverhalt:
"Wohl wahr, dieses verfluchte Dilemma sprengte so manch einer Schwester die Brust.
Die Menschheitsgeschichte war aber wirklich kein Klassenkampf, sondern vielmehr ein Geschlechterkampf, mit dem unbestrittenen Ziel des Ausgangs der Frau aus ihrer selbstverschuldeten Unfreiheit.
Nachdem Jahrtausende lang nichts Bedeutsames geschehen war, übernahmen wir Frauen endlich unseren Anteil an der Welt."
"Aber wahrscheinlich wurde dadurch die Welt nicht besser, sondern die Frauen schlechter", neunmalklügelte Adam.
Frau Hermann setzte unbeeindruckt ihren Bericht fort:
"Massenwohlstand brach herein. Die Geburtenrate sank. Die Menschen wurden einfach immer weniger und weniger.
Aber bis zum Schluss blieb ich standhaft. Mein Partner versuchte oft, mich zum Kinderkriegen zu verführen- scheinheilig den Fortbestand der Menschheit als Argument anführend.
Dem kam es doch nur wieder auf meine Unterwerfung an. Ich bin froh, damals hart geblieben zu sein. Da ging es einfach ums Prinzip."
"Wie ich deine Willensstärke bewundere!", entfuhr es Eva, aber Adam wies sie scharf zurecht:
"Ja, ja, du hast dich ja immer schon leicht blenden lassen, aber eines sage ich dir: So etwas wie die hätte es früher nicht gegeben."
"Was meint er damit?", fragte Frau Hermann langsam genervt Eva.
"Die Zeit als er noch der einzige Mensch war."
"Jawohl. Ich und Gott und die Vöglein und all das. Das war ein Leben! Jeden Tag sind wir..."
"Adam!"
"Schweige stille Weib!!"
"Sie Chauvinist, Sie. Selbst im Himmel so mit ihrer Frau umzugehen!!!"
"Wie sprichst du mit deinem Ur-Vater!!!!"
Gerade als die Situation eskalieren wollte, fühlten Adam, Eva und Frau Hermann, wie sich ihre Herzen schlagartig öffneten.
Jesus (oder Buddha?) war gekommen und besprühte sie aus einer Art Feuerlöscher mit himmlischer Harmonie.
Er meinte, dass sei noch nie nötig gewesen und hoffentlich auch das letzte Mal.
Sie seien übrigens alle ein bisschen mitschuldig an dem Streit, fügte er aus männlicher Solidarität hinzu.
Seither gelten die drei im Jenseits als unzertrennlich (vielleicht war die HH-Dosis zu hoch gewesen); ihr Motto "nur die Liebe zählt" findet weitherum Anhänger.



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Eingereicht am 04. September 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.