Lust am Lesen
Lust am Schreiben
Theos Heilung
Von Robert Winter
Hier eine wahre Geschichte aus meiner Zeit bei der Kölner Polizei (Namen der Personen natürlich geändert!).
Die folgende Geschichte ereignete sich beim KK 11, als dieses noch 1. Kommissariat genannt wurde. Damals wie heute werden in diesem Kommissariat Tötungsdelikte bearbeitet.
Nicht nur in dieser Dienststelle ist es üblich, sich morgens kurz zusammenzusetzen, einen Kaffee zu trinken und die neuen Vorgänge kurz zu besprechen. Und die gleiche Prozedur spielte sich auf besagter Dienststelle regelmäßig nach dem Mittagessen ab. Man traf sich zwanglos, redete über Gott und die Welt oder über die aktuellen Fälle. Schließlich wollte man den Kollegen die neuesten Ergebnisse mitteilen.
Besonders hervor tat sich nun auf dieser Dienststelle ein Kollege, den ich Theo Adam nennen will. Theo war ein lieber Kerl - hilfsbereit, fleißig und bei allen Kollegen beliebt. Beliebt, bis auf eine Unart, die alle nervte: Wenn Theo in ein Büro kam und auf dem Schreibtisch eine Tüte mit Gummibärchen, Bonbons, Plätzchen, oder was auch immer erblickte: Theo bediente sich. Ja, nicht nur das, er bediente sich mit der größten Selbstverständlichkeit. So, als hätte man die Süßigkeiten für ihn (und nur für ihn) dorthin
gestellt.
Fragen? - Wieso?
"Danke"? - Weshalb?
Theo pflegte immer zu sagen: "Wer im Büro einfach Süßigkeiten offen rumstehen lässt, darf sich nicht wundern, wenn sich jedermann bedient."
Was tun? Alle Kollegen setzten sich zusammen und fassten einen Plan. Er sollte eine Kombination sein zwischen dem Erteilen einer Lektion, Rache und...... Heilung. Jawohl, Heilung! Theo musste von diesem "Trieb" geheilt werden!
An einem Mittwoch im Sommer ergab sich eine Möglichkeit zum Schmieden eines teuflischen Plans. Die Gelegenheit war günstig: Theo hatte nachmittags dienstfrei. Er würde also beim Pläne schmieden nicht stören oder ungewollt zum Lauscher werden. Man sprach verschiedene Taktiken und Möglichkeiten durch, hatte sich aber sehr schnell für einen Vorschlag des Kollegen Heinz Dammig entschieden, der meinte, Theo sei nur mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Gesagt, getan. Die entsprechenden Vorbereitungen wurden getroffen.
Jeder erhielt Instruktionen, wie er sich zu verhalten hatte.
Am anderen Morgen trafen sich alle Mitarbeiter zur täglichen Frühbesprechung. Der Dienststellenleiter Franz Bachmann trug einen neuen Fall vor. In Chorweiler hatte ein Ehemann seine Frau umgebracht, indem er ihr ganz offensichtlich Gift verabreicht hatte. Nähere Beweise fehlten jedoch zum jetzigen Zeitpunkt. Allerdings würde gegen Mittag das Ergebnis der Gerichtsmediziner vorliegen, die die Tote zur Stunde gerade obduzierten. Deshalb sollten alle um 14.00 Uhr wieder im Besprechungsraum sein. Vom Ergebnis der
gerichtsmedizinischen Analyse werde man dann die weitere Vorgehensweise abhängig machen. Alle nickten und stimmten zu.... Theos Schicksal war damit besiegelt!
An diesem Tag verging der Vormittag überhaupt nicht. Alle sahen unentwegt auf die Uhr und um Viertel vor zwei waren bereits alle Kollegen im Besprechungszimmer versammelt. Das heißt: alle bis auf zwei. Der eine war Heinz Dammig. Heinz bearbeitete angeblich den Fall der vergifteten Ehefrau. Der zweite in der Reihe war Theo. Er war dafür bekannt, dass er immer auf den letzten Drücker kam. Alles war vorbereitet; alles genauestens abgesprochen. Jeder stand unter innerer Spannung und alle erhielten vom Dienststellenleiter
die Anweisung "Mann! Haltet Euch bloß zurück! Nicht, dass mir hier einer vorzeitig loslacht!"
Zwei Minuten nach zwei öffnete sich die Tür und Theo betrat seine Richtstätte. Verabredungsgemäß waren alle in Gesprächen vertieft. Niemand schien Theos Eintreten bemerkt zu haben. Dieser begann zwar einen Satz der Entschuldigung mit "Ich hatte noch einen Anruf von der Staatsanwaltschaft, deswegen...." - Keine Reaktion! Niemand interessierte sich für ihn - und für seine Ausrede erst recht niemand.
Theo ging auf seinen Platz und wollte gerade nachfragen, ob neue Ergebnisse vorliegen würden, da erspähte er in der Mitte des Tisches mit seinen auf Süßigkeiten fixierten Augen einen Teller voller Schokoplätzchen. Und auch noch seine Lieblingssorte!
"Oh, Plätzchen! Gibt's was zu feiern?", begann er.
Keiner hörte ihn.
"Ist denn noch Kaffee da?"
Nichts! Hatten die Kollegen ihn überhaupt schon bemerkt?
Er startete einen neuen Versuch. "Karl, ist noch Kaffee da?"
Karl bebte innerlich; nach außen hin reagierte er jedoch verärgert.
"Du weißt doch wo die Kaffeemaschine steht. Ist ganz frisch."
Theo tat, was alle erwartet hatten. Er trottete zur Kaffeemaschine, goss sich eine Tasse ein, die er mit zwei Stück Zucker und Kondensmilch verfeinerte. Das unterdrückte Grunzen einige Kollegen bemerkte er nicht. Zu sehr war er auf die Schokoplätzchen konzentriert, von denen er sich gleich vier Stück auf den Rand der Untertasse stapelte. So entging ihm auf völlig, dass der Dienststellenleiter zum Telefon griff und die Nummer von Heinz Dammig anwählte.
"Heinz? Hier ist Franz. Sind die Unterlagen eingetroffen?.... Gut...... Was?..... Ist ja interessant! Wir sind alle komplett. Kommst du zu uns rüber?"
Er legte den Hörer auf und begann nur in die Runde zu sprechen.
"Wenn ihr mal kurz zuhören würdet..... Heinz ist auf dem Weg nach hier und ich will ihm nicht vorgreifen, aber nach den Untersuchungen aus der Gerichtsmedizin steht wohl nunmehr zweifelsfrei fest, dass die Frau gestern von ihrem Mann vergiftet wurde."
Erstauntes Raunen.
Theo hatte zwischenzeitlich weiter zugelangt. Wenn sonst keiner diese Leckereien wollte...
Franz fuhr fort: "Heinz wird uns gleich mitteilen, welche weitere Vorgehensweise er sich ausgedacht hat."
Die Tür öffnete sich, Heinz Dammig trat ein. Er hatte einen Stapel Akten unter den Arm geklemmt und setzte sich auf seinen Stammplatz - ganz in der Nähe der Schokoplätzchen.
Er begann: "Franz hat Euch bestimmt schon gesagt, dass die ersten Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung vorliegen. Noch nichts Abschließendes. Aber fest steht, dass die Frau durch die Verabreichung von Zyankali gestorben ist. Sie muss ganz elend verreckt sein. Der Gerichtsmediziner sagte mir noch gerade am Telefon, dass man im Körper der Frau eine Konzentration von Zyankali feststellen konnte, die eine ganze Elefantenherde ins Jenseits befördert hätte."
Wieder allgemeines Raunen. Unfassbar! zu welch grausamen Taten doch die Mitbürger in der Lage waren.
Fast beiläufig fragte Franz Bachmann "Hast du schon feststellen können, woher der Täter das Gift hatte und vor allem wie er es der Frau verabreicht hat?"
"Woher er es hatte, wird momentan noch abgeklärt. Es gibt da verschiedene Möglichkeiten, aber noch ist nichts spruchreif. Definitiv steht aber fest, dass der Ehemann die Plätzchen vergiftet hat, die er seiner Frau mitbrachte. Wir konnten noch einen Teller mit vergifteten Plätzchen sicherstellen, die hier...."
Blankes Entsetzen! Heinz Dammig hatte auf den Teller mit den todbringenden Plätzchen vor ihm gezeigt und starrte nun auf..... einen leeren Teller!
Theo verlor jegliche Gesichtsfarbe. Ausspucken der restlichen Plätzchen, Aufspringen und Rennen zur Toilette waren eins. Er war dem Tod geweiht! Er hatte nur noch wenige Minuten, vielleicht nur noch Sekunden! Er würde elend verrecken. Genau wie die Frau aus Chorweiler. Auf dem Sprint zur Toilette konnte er nur noch "Notarzt anrufen..... Magen auspumpen" schreien.
Dass Theo die Toilettenschüssel mit eisernem Griff umklammerte, bekam im Besprechungsraum niemand mit. Ein ohrenbetäubendes Grölen überlagerte die Würgegeräusche, die Theo immer und immer wieder von sich gab, weil er seine Finger fast bis zur Handwurzel in den Rachen steckte.
Nach zehn Minuten - endlosen zehn Minuten im vermeintlichen Todeskampf - wurde Theo auf der Toilette von Heinz Dammig erlöst.
"Theo..... he, Theo...."
"Ist der Notarzt da?"
"Na, Theo, haben die Plätzchen geschmeckt?"
Theo blickte langsam auf. Sein vor Würgen puterrotes Gesicht, mit diesen hervorgetretenen, blutunterlaufenen Augen blickten in das Gesicht des lieben Kollegen, der das breiteste Grinsen aufgesetzt hatte, das Theo je gesehen hatte. Etwas dämmerte ihm nun. Erst zaghaft, dann immer stärker.
Er sprang auf. "Ihr Schweine! Ihr verdammten Schweine!"
Seit diesem Tag hatten die Gummibärchen beim 1. Kommissariat eine enorm gesteigerte Lebenserwartung.