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Haarscharf daneben

Eine Kurzgeschichte von Katrin Ackermann


"Mama, was ist denn das für ein Heft?" Mit diesen Worten unterbrachen mich meine Kinder letzte Woche in meinem Aufräumwahn, als wir alle oben in meinem Dachzimmer saßen, umgeben von Papieren, Büchern, Briefen und Photos. Ich wollte endlich Ordnung schaffen und hatte zu diesem Zweck bereits Ikearegale besorgt, die noch original verpackt herumstanden.
Mitten in diesem Chaos saßen wir nun auf dem Boden und wühlten mehr oder weniger planlos in diversen Erinnerungsstücken. Meine älteste Tochter hielt ein ausgesprochen hässliches, orangefarbenes Heft in der Hand mit der Aufschrift: Berichtsheft für Friseure, 2. Lehrjahr.
Beim Aufklappen fiel die Seite mit den aufgeklebten Haarsträhnen heraus.
"Sammeln Sie Haarsträhnen und ordnen Sie diese nach den Farbschattierungen, angefangen bei hell-hellblond, endend bei schwarz", so lautete die Arbeitsanweisung.
Vor 20 Jahren, ich hatte gerade Abitur gemacht und wusste nicht so richtig, was ich werden sollte, entschied ich mich für einen handwerklichen Beruf. Da ich bei Schreinern keinen Ausbildungsplatz mehr bekam, wurde ich Friseurin. Für diese Lehre galt: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. Grauenhafte Ausbildungsverhältnisse, harte Arbeitszeiten ohne Pausenregelung und, was das allerschlimmste war, niederträchtige Kolleginnen, die einer Abiturientin mal zeigen wollten, wo es lang geht.
"Wieso sind hier so wenig Haare bei hellbraun?", riss mich meine kleine Tochter aus meinen Erinnerungen und strich mit ihren Händchen über die noch verbliebenen Haarsträhnen unter dem Tesafilmstreifen. Ich musste lachen und erinnerte mich an meinen ersten Männerhaarschnitt.
Ich suchte damals händeringend nach Modellen für Männerhaarschnitte, genauer gesagt, für den klassischen Faconschnitt. Da ich auf keinerlei Unterstützung seitens meines Betriebes hoffen konnte, entwarf ich ein Plakat und klebte es von außen gut sichtbar an die Glasfassade des Geschäftes. Die Tage vergingen, niemand meldete sich. Ich gab die Hoffnung schon auf und dachte mit Schrecken an die zweite Zwischenprüfung in der Handwerkskammer, in der unter anderem der Faconschnitt bewertet wurde.
Ich war gerade mit meiner Hauptaufgabe des Haarefegens beschäftigt, da kam ein junger Mann durch die Tür. Keine Schönheit, ein Arbeitstyp, stark, massig. Er würde sich als Modell zur Verfügung stellen, wenn es kostenlos sei.
"Selbstverständlich müssen Sie nichts zahlen", hörte ich meine Chefin sagen und dann lachte sie so süffisant, dass ich mich elend fühlte. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich hatte noch niemals Haare geschnitten, nur immer zugeguckt. Ich tat so cool wie möglich, wies ihm einen Platz zu und begutachtete die Struktur seines Kopfes, die Beschaffenheit seiner Haare. Sie waren hellbraun, ganz dick und dicht und irgendwie hatte mein Modell gar keine Frisur, die Haare hingen einfach lang herunter. Ich fragte vorsichtshalber noch mal nach, ob er wüsste, was ein Faconschnitt sei. "Ja, ja", war die knappe Antwort, er war schon ganz in seine Zeitung vertieft.
Oh, Gott, wo fange ich noch mal an?
Im Spiegel sah ich das hämische Grinsen meiner Kolleginnen, die sich schon die Hände rieben. Aus ihren Augen sprühte die reine Missgunst. Meine innere Stimme wiederholte gebetsmühlenartig: Du schaffst es!
So fing ich denn an. Ich begann über dem rechten Ohr. Ratsch! Die erste Strähne fiel zu Boden. Ok, weiter so. Ich fühlte mich bei jedem Schnitt mit der Schere sicherer. Es machte richtig Spaß und schon bald stand ich in einem Teppich aus weichem Haar. Da noch was weg... und hier noch was. Es erinnerte mich ein bisschen an die Pflanzen auf meinem Balkon, denen ich im Frühling auch immer ein neues "Frisürchen" verpasse.
Eine Stunde war vergangen. Ein Ende war nicht in Sicht. Es waren zwar viele Haare gefallen, aber das Gesamtbild überhaupt nicht zufrieden stellend, vom Faconschnitt meilenweit entfernt. Der Hinterkopf hatte jetzt viele Treppen, der Mann sah furchtbar aus. Er las nun auch nicht mehr, er war eingeschlafen. Der Kopf sackte nach vorne. Das war nicht so tragisch, denn ich musste jetzt sowieso den Nacken bearbeiten, er konnte also ungestört in dieser Position verharren.
Als ich gerade die Konturen anglich, wachte er auf und durch diese ruckartige Bewegung rutschte ich mit der Schere aus und schnitt ihm ordentlich ins Fleisch.
Was jetzt?
Ein prüfender Blick in den Spiegel, doch weder meine Kolleginnen, noch mein Modell hatten etwas von diesem Vorfall mitbekommen (er hatte einen sogenannten Stiernacken mit hohem Fettanteil).
Das Blut lief in kleinen Rinnsalen an seinem Hals hinunter und ich bemühte mich, wie zufällig mit meinem Arm an seinem Nacken entlang zu streifen, um es sozusagen aufzuwischen. Ich war in der Zwischenzeit nassgeschwitzt, meine Konzentration stieg ins Unermessliche. Schneiden. Wegwischen. Schneiden. Wegwischen... Endlich hörte es auf zu bluten.
"Das dauert aber lange", entfuhr es meinem Modell. Ich schaute auf die Uhr. Seit zweieinhalb Stunden saß der arme Mensch nun schon auf diesem Stuhl. Ich holte die Haarschneidemaschine und war nach 5 Minuten fertig.
Er sah nicht wirklich besser aus als vorher, was aber vielleicht auch an seinem Gesicht lag, aber ich hatte es ganz alleine geschafft. Und: Es gefiel ihm gut. Er würde nun immer zu mir kommen. Es gab zwar kein Trinkgeld, aber ich hätte ihn trotzdem küssen können, so dankbar war ich, dass es vorbei war.
Ich hatte schon fast alle Haare weggekehrt, da fiel mir ein, dass ich noch eine Strähne in hellbraun für mein dämliches Berichtsheft suchen musste und so wühlte ich so lange in den Resten herum, bis ich eine brauchbare Strähne fand.
"Hast du dem auch mal ins Ohr geschnitten?", wollten meine Kinder wissen.
Nein, habe ich nicht. Er wurde mein erster, eigener Kunde, immer schweigsam, aber nie unfreundlich.
Die Seite mit den Haarsträhnen klebten wir wieder ins Berichtsheft, machten es zu und gönnten uns eine wohlverdiente Kaffeepause.



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