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Das blonde Kind auf der Treppe

© Birge Laudi


Das kleine Mädchen stieg die Treppe hinauf. Fast waren seine Beinchen dafür noch zu kurz, die Stufen zu hoch, die Treppe zu steil. Das Kind klammerte sich an den Handlauf. Unter Anstrengung hob es einmal das eine, dann das andere nackte Beinchen an und abwechselnd verschwand dabei einmal das eine, dann das andere bis zu den weißen Söckchen und den schwarzen Lackschuhen unter dem Saum seines Kleidchens. Den einzigen Schmuck des sackartig zusammengenähten, kragenlosen Kleides aus schneeweißem Leinen bildete eine schmale Rüsche am Rocksaum.
Das strohblonde Haar des Kindes war zu kurzen Zöpfen geflochten. Sie schaukelten im Rhythmus des Treppensteigens vor und zurück, strichen einmal über die Wangen, einmal über den ungeschützten Nacken.
Eine einzige Glühbirne verbreitete ein schwaches Licht, ließ das blonde Haar der Puppe im Arm des Kindes hell aufleuchten, machte die Altersflecken an den Wänden sichtbar, die rohe Ziegelwand, dort, wo vor Jahren schon Lackfarbe und Putz abgeblättert waren.
Unbeirrt und unbeeindruckt von der Kälte des ausgehenden Winters, von Schmutz und Dürftigkeit des Treppenhauses und seinem uralten Geruch nach Kohl und Armut stieg das kleine Mädchen Stufe um Stufe hinauf ins Ungewisse.
Aus unruhigem Schlaf schreckte sie auf. Schweißnass klebte das Nachthemd an ihrem Körper. Sie hatte von dem Kind geträumt. Ihr Traum des Ungemachs. Immer wiederkehrend. Verstörend wie ein Fiebertraum. Es machte ihr Angst, dass der Traum immer an der gleichen Stelle abbrach. Nie erfuhr sie das Ende. Sie sah das Kind steigen, aber nie ankommen. Sah nicht, was dann kam.
Welche Bedeutung mochte der Traum haben? Sie fürchtete, sich allmählich in einer Schattenwelt zu verirren, den Zusammenhang mit der täglich wiederkehrenden Realität ihrer dahineilenden Jahre zu verlieren. Begann so der Weg in die geistige Finsternis des Alters?
Mühsam versuchte die alte Frau ihre Ängste zu verdrängen. Sie strich sich das kurze Blondhaar aus der Stirn. Trotz ihrer 75 Jahre hatte es seine ursprüngliche Farbe behalten. Doch es war stumpf und glanzlos geworden. Hatte den Reiz bäuerlicher Kraft und Schönheit der zur Gretchenfrisur hochgesteckten Zöpfe ihrer Jugendjahre eingebüßt.
Barfuss tappte die Frau ins Badezimmer. Noch gefangen in der Traumwelt fiel es ihr heute besonders schwer, sich von dem blonden Mädchen zu lösen, von dem Geheimnis, wohin die Treppe das Kind geführt haben mochte.
Noch war es früh am Morgen. Doch wie viele ältere Menschen war für Isolde Freistatt längst die Nacht zu Ende. Sie empfand dies nicht als Last, sie liebte die Stille der frühen Morgenstunden. Ohne die Geräusche aus den anderen Appartements des Seniorenheims konnte sie in Ruhe ihren Gedanken nachhängen. Seit wenigen Monaten erst wohnte sie hier. Hatte sich noch immer nicht ganz an das Husten der Nachbarin gewöhnt, an deren Umherschlurfen, an das Klappern der Kaffeetassen nebenan. Noch waren ihr die vielfältigen Gerüche fremd, die unter der Türe hereinkrochen: Der Geruch nach Bohnerwachs und Desinfektionsmitteln. Der Geruch nach Kaffee, vermischt bereits mit dem dampfenden Kohl, den röstenden Zwiebeln. Der Geruch nach alten Menschen, nach Einsamkeit und Verzweiflung.
Isolde stand in dem winzigen Badezimmer vor dem Spiegel und betrachtete ihr Gesicht. Sie beugte sich ganz nahe heran, um keine Falte, keine Unreinheit zu übersehen. Sorgfältig hatte sie all die Jahre ihre empfindliche helle Haut gepflegt. Hatte mit Cremes und Make up dafür gesorgt, dass weder Falten noch Altersflecken ihre Wangen verunstalteten. Sie war eitel gewesen. War es auch heute noch ein wenig.
Dankbar blickte sie auf ihr noch immer fülliges blondes Haar und die wasserblauen Augen, die ihr ein nordisches Aussehen verliehen. Das Ideal ihrer Jugendzeit. Mit der schmalen, geraden Nase und den hohen Wangenknochen war es ein schönes Gesicht, ließ man den Mund außer Acht. Alles was Isolde im Leben an Widrigkeiten begegnet war, hatte sich um ihren Mund gesammelt. Hart presste sie die Lippen aufeinander. Bitterkeit zog die Mundwinkel nach unten und kräuselte die Haut wie altes Papier. Dem, was das Leben in Isoldes Gesicht hinterlassen hatte, war keine Kosmetik gewachsen.
Die alte Frau fröstelte. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Sie war müde und lustlos. Ein Leben lang hatte ihr ein Gang zum Frisör geholfen, ein Stimmungstief zu vertreiben. Auch heute sehnte sie sich nach der entspannenden Massage der Kopfhaut, nach der liebevollen Betreuung durch die Frisörin Christine.
Schon viele Jahre war sie Kundin in Christines Frisiersalon. In der duftenden Wärme der Frisörstube würde sie sich von ihrem Traum befreien können und in Christine eine aufmerksame Zuhörerin haben.
Rasch kleidete sich Isolde an und verließ ohne Frühstück das Wohnstift. Mit kurzen Altweiberschritten überquerte sie die Straße. Der scharfe Ostwind trieb ihr die Mantelschöße gegen die Waden. Es war ein mühsames Gehen. Mit dem kalten Wind wehten Blätter und kleine Äste daher, Plastiktüten und Papierschnipsel, vermischt mit ein paar letzten Schneeflocken. Erleichtert stieß sie die Türe zum Frisörsalon auf und tauchte ein in den warmen Dunst, den Geruch nach Shampoo und Haarspray.
Christine begrüßte sie herzlich.
'Na, heute aber früh auf den Beinen, Frau Freistatt. Sie sind die erste Kundin'.
Sie half Isolde aus dem dicken Wintermantel und lotste sie in einen der Sitze vor der großen Spiegelwand. Prüfend schaute Christine über Isoldes Kopf hinweg in den Spiegel.
'Und müde schauen Sie heut aus. Haben Sie nicht gut geschlafen?'
Sie kannte das schon. Wusste, dass die alte Dame eine schlechte Nacht hinter sich hatte, war sie am Morgen die erste Kundin.
Isolde war heute nicht in der Lage, solch vornehme Zurückhaltung zu üben, wie sie es bereits als Kind gelernt hatte. Damals, vor langer Zeit, weit vor dem Krieg. Heute legte sie ihre Scheu ab, heute musste sie über ihr Problem reden, über ihren Traum und ihre Angst, sie könne den Verstand verlieren.
Während Christine ihr die Haare wusch, begann sie zu erzählen. Den Kopf nach hinten in das Becken geneigt, die Stimme gepresst durch die erzwungene Haltung, schilderte Isolde ihren Traum. Murmelnd unter dem Handtuch hervor, das ihr Christine dann wie einen Turban um den Kopf gewickelt hatte, verebbten die Worte in der feuchten Wärme der Frisörstube. Alles erzählte sie. Wie das Kind aussah, wie sein Haar, wie sein Kleid. Schaudernd beschrieb sie das mit grüngrauer Ölfarbe gestrichene Treppenhaus und die durchgetretenen hölzernen Stufen, die sich im ungewissen Dämmer aufzulösen schienen.
Wortlos lauschte Christine, verfolgte das Traumkind bei seinem Aufstieg, sah, wie es seine Puppe mit der linken Hand an sein Herz presste und empfand die gleiche Leere wie Isolde, als der Traum abbrach, ohne eine Ahnung, was dort oben am Ende der Treppe auf das Kind wartete.
Eine Weile hingen beide Frauen still ihren Gedanken nach, während Christine das Haar scheitelte und die Enden ein wenig nachschnitt. In das leise Geklapper der Schere hinein, in das Hantieren mit Lockenwicklern und Clips, begann sie schließlich zu reden. Sie wickelte ihre Geschichte um den Traum der alten Dame wie das Haar auf die Lockenwickler. Ohne Hast ergänzte sie den Traum, suchte nach einem beruhigenden Ende.
'Ich sehe das kleine Mädchen, wie es in dem alten Haus die Treppe hinaufsteigt', sagte sie. 'Seine Zöpfchen schaukeln leise. Es bleibt kurz stehen, verschnauft ein wenig. Noch ist Elsie - so will ich das Kind einmal nennen - noch ist Elsie fast zu klein, sind ihre Beinchen fast zu kurz für die steile Treppe, die hohen Stufen. Obwohl draußen noch Schnee liegt, trägt das Kind nur Söckchen, seine dicken Beinchen schauen nackt unter dem Kleidersaum hervor.'
Christine hielt kurz inne. Wählte einen Lockenwickler für die etwas kürzeren Haare über der Stirn. Dachte nach. Dann fuhr sie fort.
'Mit ihrer Puppe im Arm steigt Elsie hinauf in den ersten Stock des alten Hauses. Seine Schäbigkeit, der abgeblätterte Putz und die dunklen Ecken machen ihr keine Angst. Elsie kennt das Haus, wohnt seit seiner Geburt in einer geräumigen Parterrewohnung, rechts neben der Haustüre. Im ersten Stock aber lebt seit Urzeiten die Oma Brendel. Zu ihr führt der Weg über die Treppe.
Wie immer, wenn Elsis Mutter längere Zeit außer Haus war, hatte sie der alten Frau Bescheid gesagt, dass Elsie zu ihr hinaufkäme. Auf solche Gelegenheiten freute sich das Kind schon Tage im Voraus.
Man könnte Frau Brendel zwar als Leihoma bezeichnen, das jedoch hätte den Status der alten Dame nicht richtig beschrieben. Frau Brendel war vor Jahren und für viele Jahre im Haushalt der Herrschaft im Parterre angestellt gewesen. Hatte Elsies Mutter Judith heranwachsen gesehen, hatte die Eltern von Judith zur letzten Ruhe begleitet und der damals erst Siebenjährigen nach dem schrecklichen Unfall die Eltern ersetzt.
Judith hatte geheiratet, verlor ihren Mann an eine andere Frau und lebte nun weiter mit ihrer kleinen Tochter im langsam verfallenden Elternhaus. Sie hatte eine Arbeit übernommen, die sie zuhause am Computer erledigen konnte. Das reichte für ein bescheidenes Leben, nicht aber für eine Renovierung des Hauses.
Ihr einziger Kontakt, ihre einzige Vertraute, war die geliebte Oma Brendel, die hier in wohlgelittener Hausgemeinschaft ihren Lebensabend verbrachte.'
Christine machte wieder eine Pause. Sie war mit dem Aufdrehen der Locken fertig und Isolde musste nun unter die Trockenhaube. Obwohl inzwischen weitere Kunden die Frisierstube betreten hatten, bat sie:
'Ach Christine, erzählen Sie doch bitte weiter. Es ist eine gar so schöne Geschichte.'
'Tut mir leid, liebe Frau Freistatt. Erst muss ich noch der nächsten Kundin das Haar waschen. Wenn danach Ihre Haare trocken sind, kann ich ja beim Frisieren weiterreden.'
Sie stülpte die Trockenhaube über Isoldes Kopf und legte ihr eine Zeitschrift zurecht. Doch Isolde wollte nicht lesen. Sie hing der Geschichte von Elsie und Oma Brendel nach, versuchte sich vorzustellen, wie es weitergehen würde.
Endlich war ihr Haar trocken und Christine begann sie zu frisieren. Dabei spann sie ihre Version der Traumgeschichte weiter.
'Noch bevor das kleine Mädchen den Treppenabsatz erreicht hat, öffnet Oma Brendel die Türe. Umringelt von graubraunen Löckchen quillt ihr Gesicht zu einem strahlenden Lächeln auf. Die dicken Bäckchen schieben dabei ihre Massen hinauf zu den Augen, pressen sie zu funkelnden Schlitzen zusammen. Sie breitet ihre Arme aus und drückt das kleine Mädchen an sich. Die beiden mögen sich von Herzen.'
Christine unterbrach sich selbst und lachte.
'Nein, jetzt wird die Geschichte kitschig', sagte sie. 'So gefällt sie mir nicht. Am liebsten sähe ich die kleine Elsie ein Küchenmesser unter ihrem Kleidchen hervorziehen und die lächerliche Alte erstechen. Ein würdiges Ende für die alberne Geschichte.'
Christine schüttelte sich.
'Nein, Frau Freistatt, so darf ihr Traum auf keinen Fall weitergehen. Weder mit der alten Brendel noch mit dem Küchenmesser. Für heute lassen wir's genug sein. Vielleicht fällt mir später einmal eine andere Fortsetzung zu dem blonden Kind auf der Treppe ein.'
Isolde gab sich geschlagen. Auch ihr war die Geschichte zu simpel. Ihr Gefühl sagte ihr, dass es so nicht gewesen sein könnte. Sie teilte Christines Wunsch nach einer glaubwürdigeren Lösung. Trotzdem war ihre trübe Stimmung verflogen, als sie in ihre Wohnung zurückkam. Sie hatte Verständnis für den belastenden Traum gefunden und es hatte ihr gefallen, eine Geschichte erzählt zu bekommen. Das musste ja nicht heißen, dass es wirklich das erlösende Ende ihres Traumes war. Für heute aber tat ihr ein wenig heile Welt gut.
Verlassen wir Isolde einmal für ein paar Tage und kehren zurück in den Frisiersalon. Dort arbeitet Christine emsig und eilig. Sie muss pünktlich fertig werden, um ihre Zwillinge aus der Kinderkrippe abzuholen. Die beiden Mädchen sind vier Jahre alt und wenn sie am Abend endlich wieder ihre Mutter haben, weichen sie ihr nicht mehr von der Seite.
So war es natürlich auch heute wieder. Während Christine das Abendessen für Anne und Katrin zurechtmachte, bettelten die beiden bereits:
'Mami erzähl uns eine Geschichte.'
Christine hörte eine Menge Geschichten. Für viele Frauen war sie zu einer stillen Mitwisserin aller Freuden und Leiden geworden. Daraus wurden die allabendlichen Gute-Nacht-Erzählungen für ihre Kinder. Heute konnte sie eine ganz besondere Geschichte erzählen.
'Gleich, ihr Quälgeister. Erst müsst ihr euch die Hände waschen. Beim Abendessen erzähle ich euch dann von einem kleinen Mädchen und seiner Puppe.'
Und während die Kinder brav an ihren Möhren nagten und ihr Wurstbrot aßen, begann Christine:
'Da war einmal ein kleines Mädchen. Es hatte wunderschöne blonde Haare. Die waren zu kurzen Zöpfchen geflochten. Das Mädchen -'
'Mami, wie heißt denn das Mädchen?', unterbrach Katrin.
'Oh, das weiß ich gar nicht', hielt Christine erschrocken inne. 'Welchen Namen wollen wir ihm denn geben?'
Anne schlug vor, das Kind Simone zu nennen und so hieß das kleine Mädchen eben Simone.
'Weiter, Mami', drängelten die Zwillinge und Christine spann ihre Geschichte fort:
'Also, die kleine Simone, die wohnte mit ihren Eltern in einem hohen alten Haus. Die Treppe war steil und die Lampe im Flur gab nur wenig Licht. Manchmal begleitete Simone ihre Mama, wenn sie die Wäsche auf den Dachboden zum Trocknen hinauftrug. Das war immer sehr anstrengend für Simones kurze Beine. Sie war nämlich erst zwei Jahre alt. Zusammen mit ihren Eltern wohnte sie ganz unten im Parterre. Neben der Haustüre. Für den weiten Weg zum Dachboden hinauf nahm sie immer ihre geliebte Puppe, die Susi, mit. Die hatte genauso blonde Haare wie Simone und genauso blaue Augen.
Eines Tages aber wurde Simone sehr schwer krank. Sie hatte hohes Fieber. Der Arzt kam und gab Simone eine Medizin, aber die half nicht mehr. Während vor dem Haus ein warmer Frühlingswind die letzten Schneereste wegfraß, starb das kleine Mädchen.'
Anne und Katrin begannen zu schluchzen und Christine musste sich rasch einen glücklicheren Fortgang der Geschichte überlegen, wollte sie den beiden Mädchen heute Nacht schlechte Träume ersparen. Um Zeit zu gewinnen, ging sie in die Küche und machte für die beiden einen Hagebuttentee zurecht. Dann setzte sie die traurige Geschichte fort.
'Die Eltern von Simone weinten schrecklich. Sie hatten ihr Mädchen so lieb gehabt. Sie zogen ihm ein weißes Kleidchen an und gaben ihm seine Puppe, die Susi, in die Arme. Die ganze Nacht saßen sie neben dem toten Kind. Irgendwann aber schliefen sie ein. Da stand Simone auf und stieg langsam die Treppe hinauf, wo sie sooft mit ihrer Mutter gegangen war. Sorgsam hielt sie die Puppe mit der Linken an ihr Herz gepresst. Auf dem Dachboden stand eines der schrägen Fenster offen. Simone kletterte auf einen Stuhl und von da auf den Fenstersims. Dann breitete sie ihre neuen Flügel aus. Sie waren weiß wie flaumiger frisch gefallener Schnee und sie flog damit hinaus in die Nacht. Simone war ein Engel geworden.'
Atemlos hatten Katrin und Anne zugehört. Jetzt unterbrachen sie gleichzeitig ihre Mutter.
'Mami, werden alle Kinder Engel, wenn sie sterben?'
'Ja', sagte Christine, 'wenn sie immer brav gewesen sind, wachsen ihnen Flügel und sie fliegen in den Himmel zu den anderen Engeln.'
'Mami, ist die Simone auch in den Himmel geflogen?'
'Ich glaube schon. Hört zu!'
Christine erzählte weiter.
'Simone flog über der Stadt dahin. Sie sah das Haus und die Straße, wo sie gewohnt hatte, sah die Kerzen im Fenster flackern, wo ihre Eltern an ihrem Bett eingeschlafen waren. Mit der Susi im Arm flog sie weiter, bis sie den Stadtrand erreichte. Dort brannte in einem einsamen Häuschen ein Licht. als Simone sehen wollte, wer da so spät noch auf war und sie sich hinabbeugte, um zum Fenster hineinzuschauen, fiel ihr die Puppe aus den Armen. Die purzelte genau in den Schornstein des kleinen Hauses und Simone hörte, wie dort plötzlich Menschen jubelten. Ihnen war gerade ein kleines blondes Mädchen geboren worden. Da wusste Simone, dass sie nicht nur Leid über ihre Eltern, sondern auch große Freude über ein anderes Elternpaar gebracht hatte. Nun durfte sie getrost in den Himmel zu den anderen Engeln fliegen.'
Eine Weile saßen Anne und Katrin still da. Sie sahen im Geiste dem kleinen Engel nach und überlegten bereits, wie das neugeborene Mädchen heißen könnte.
'Sicher heißt das Baby auch Simone', meinte Katrin.
'Nein, Susi heißt es. Das ist doch klar', stritt Anne dagegen. 'Es war doch die Puppe. Mami, sind das tote Mädchen und das Neugeborene Zwillinge so wie Katrin und ich?', fragte Anne.
'Ich denke schon', überlegte Christine, 'ich denke sie sind fast so etwas wie Zwillinge.
Jetzt aber marsch ins Bett. Morgen wollt ihr doch wieder eine Geschichte hören.'
Christine brachte die Mädchen ins Bett und in der Nacht träumten Anne und Katrin, dass sie Engel geworden waren und in einem weißen Kleid über die Dächer hinflogen und sie konnten in alle Wohnungen hineinschauen.
Lassen wir sie schlafen und die märchenhafte Geschichte ruhen. Überspringen wir Zeit und Raum und sehen uns wieder nach Isolde Freistatt um.
Nachdem Isolde ein paar Tage lang nach ihrem Frisörbesuch guter Dinge gewesen war und entspannt geschlafen hatte, kehrte der Traum von dem blonden Kind auf der Treppe wieder und entließ sie allmorgendlich in gedrückter Stimmung. Sie war unruhig, wanderte stundenlang in ihrem Zimmer umher und dabei kreisten ihre Gedanken ständig um den Traum. Isolde hatte das Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben, etwas, das der Schlüssel für das Ende der Geschichte war.
Während sie ziellos hin und her ging, wälzte sie trübe Gedanken, haderte mit ihrem Entschluss, in das Heim gezogen zu sein und war unglücklich über ihre Einsamkeit. Außer ein paar fernen Neffen hatte sie keine Verwandten. Nahezu ihr ganzes Leben hatte sie mit Arbeit und später mit der Pflege ihrer Eltern verbracht. Sie fühlte sich von allen verlassen, vom Schicksal betrogen.
Frau Freistatt war selbstkritisch genug, um zu erkennen, dass sie sich immer weiter in eine Depression hineinsteigerte und sie diesem unheilvollen Weg nur selbst ein Ende bereiten konnte. Sie beschloss, die Traumgeschichte niederzuschreiben und zu ergänzen und sie hoffte, dabei auf das zu stoßen, was in ihrem Unbewussten schlummerte und nach außen drängte.
Isolde war ein Leben lang eine begeisterte Schreiberin gewesen, hatte diese Kunst aber in den letzten Jahren vernachlässigt. Nun freute sie sich darauf, das Schreiben wieder aufzunehmen.
Sie kaufte sich ein einfaches Schulheft und Tintenpatronen für ihren Füllfederhalter. Dann setzte sie sich an den alten Schreibtisch ihres Vaters. Auch die grüne Schreibunterlage, der Löschblattroller und die Ablage für den Füller hatten ihrem Vater gehört und erinnerten sie in einem Gemisch aus Schmerz und Liebe an die Zeit, als er, schon gebrechlich und auf ihre Pflege angewiesen, täglich an diesem Schreibtisch gesessen und die Zeitung gelesen hatte.
Isolde begann zu schreiben und hoffte, das Kind auf der Treppe führe sie auf eine Spur zu sich selbst.
Sie skizzierte rasch ihren Traum. Die Freude am Schreiben, die locker aufs Papier fließenden Worte, sie begleiteten Isolde nun für Stunden durch ihre Geschichte.
.... und als das Kind den letzten Treppenabsatz erreicht hatte, kletterte es auf das Geländer und stürzte sich in die Tiefe. Schwebte wie ein weißer Vogel leicht und leise hinab. Kein Schrei, kein Seufzer waren zu hören. Kein Aufprall. Nur gespenstische Stille. Allein ein heller Fleck auf dem Boden des Treppenhauses, konturlos und neblig verschwommen, erinnerte an das blonde Mädchen.
Mit einem Schrei wachte Karoline auf. Schweißgebadet starrte sie ins Dunkel. Wieder war sie gesprungen. Wieder und wieder hatte sie es geträumt. Oder war es gar gerade geschehen? Minutenlang konnte sie nicht unterscheiden zwischen Traum und Wirklichkeit. Tränen rannen ihr übers Gesicht, vermischten sich mit dem Schweiß von Angst und Trauer. Gleichmütig rauschten die Heizungsrohre, füllten den Raum mit unnatürlicher Hitze. Zitternd lag sie in den zerwühlten Decken. Der immer gleiche Traum verfolgte sie seit ihren Jugendtagen.
Karoline war behütet aufgewachsen. Ihr Vater war früh gestorben und die Mutter hatte sich hingebungsvoll um ihr einziges Kind gekümmert. Es war genügend Geld aus einem Erbe da, sodass die Mutter nicht arbeiten musste. Karoline war eine gute Schülerin. Sie liebte Musik und Gedichte. In ihrer Freizeit saß sie oft stundenlang vor ihrer Staffelei und malte. Meist malte sie Blumen und Bäume und manchmal malte sie nur Schnee. Nie malte sie Menschen und nachts träumte sie manchmal von einem blonden Kind, das sich im Treppenhaus zu Tode stürzte.
Kurz nach dem Abitur verlor Karoline ihre Mutter durch einen Verkehrsunfall. Sie trauerte hingebungsvoll. Sobald das Trauerjahr vorüber war, heiratete sie den Studienkollegen Joachim. Für kurze Zeit schien es so, als käme das kleine weißgekleidete Mädchen nicht wieder. Doch bald häuften sich die Träume wieder und schließlich hatte Joachim einen Psychiater aufgesucht, hatte ihm vom Traum seiner Frau erzählt. Und so kam es, dass Karoline in psychotherapeutischer Behandlung gelandet war. Im Verlaufe vieler Sitzungen grub man in ihrem Inneren und ihrer Vergangenheit und es wurde als wahrscheinlich angenommen, dass Karoline als Kind einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Man vermutete sexuellen Missbrauch. Völlig verstört hatte sie daraufhin die Therapie abgebrochen. Sie war sich ihrer selbst nicht mehr sicher. Hatte Angst, sie könnte tatsächlich einmal springen.
Der Traum und seine Schrecken hatten letztlich zu Joachims Flucht vor Karoline und ihrem Traum vom blonden Kind geführt. Er suchte sich eine weniger aufreibende Beziehung. Fortan lebte Karoline allein.
Als sie an diesem frühen Morgen wieder schreiend aus dem Schlaf emporgefahren war, ging sie hinüber ans Fenster und starrte schluchzend in die flirrende Dunkelheit. Lautlos schwebten die Schneeflocken vorbei wie tröstliche Gedanken vom kommenden Licht. Sie beruhigte sich etwas, ging in die Küche und machte sich eine Tasse Tee. Langsam trank sie Schluck für Schluck und dachte wie sooft über das kleine blonde Mädchen nach.
Sie dachte an ihre Kindheit, als sie den Traum zum ersten Mal geträumt hatte. Da mochte sie elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein. Sie malte, spielte Klavier und war eine brave und gute Schülerin gewesen, behütet und geliebt von ihrer Mutter. Und doch hatte sie das Gefühl, dass sie immer etwas übersah, wenn sie in ihren Überlegungen an diese Stelle gelangt war.
Langsam dämmerte der Morgen. Karoline zog sich an und ging hinaus in die saubere Kälte. In der stillen Unberührtheit einer jungen Schneedecke erwartete die Stadt den Tag. Voll Staunen und Freude wanderte die junge Frau durch die märchenhafte Schneelandschaft. Lauschte auf das feine Piepsen eines Vogels, das so leise und zart klang, als wollte auch die Tierwelt den Zauber dieses Morgens nicht brechen.
Und wie sie so dahinging und an nichts dachte als an den Schnee zu ihren Füßen, da wich der Druck, der so viele Jahre auf ihrer Seele gelegen hatte. Eine nie gekannte Ruhe überkam sie, eine Gelöstheit, die nur frisch gefallener Schnee bewirken konnte. Sie schloss Frieden mit ihrer Vergangenheit.
Wie nach einer schweren Krankheit, leicht und leer, frei für die Wunder eines neuen Lebens, wanderte Karoline durch die Straßen der erwachenden Stadt. Sie hatte zu sich selbst gefunden, war das Kind in dem weißen Kleid, das die Treppe hinaufstieg, einem neuen Sein entgegen.
Unter das Ende der Geschichte schrieb Isolde: Für Christine, die große Geschichtenerzählerin.
Dann legte sie erschöpft den Füllfederhalter auf die grüne Unterlage und fuhr sorgsam mit dem Löschroller über das Geschriebene. Sie schloss das Heft, in dem nun ihr Traum und sein fragliches Ende gefangen waren.
Könnte es wirklich so gewesen sein? Isolde spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Es waren da ein paar Dinge aufs Papier geraten, die ihr bekannt vorkamen. Sie konnte sie nicht greifen. Das Wissen lauerte unter der Oberfläche, entzog sich ihr immer wieder.
Da Isolde vom Schreiben zu aufgewühlt war, um zur Ruhe zu kommen, nahm sie am Abend ein Schlafmittel. Der Arzt hatte es ihr für echte Notfälle verschrieben und heute war ein solcher Notfall.
Sie sank in einen bleischweren Schlaf und aus den Tiefen ihrer verstörten Seele stieg ein Traum empor.
Isolde war 15 Jahre alt. Sie wohnte mit ihren Eltern in einem alten, von den Bomben verschonten Haus am Rande Berlins. Die Tage waren geprägt von Sirenengeheul, von Angst und Not. Aus alten Betttüchern wurden Nachthemden, aus Kohl und erfrorenen Kartoffeln das Mittagessen und aus den Tagen und Nächten Albträume der Bedrohung.
Der Krieg näherte sich seinem Ende. Die Russen rückten vor. Und schließlich erreichten sie in einem Inferno von Hass und Gewalt die Stadt Berlin. Häuser wurden gestürmt, Frauen vergewaltigt und immer wenn es an der Haustüre laut wurde, schickten die Eltern Isolde rasch auf den Dachboden, wo sie sich versteckte. Eines Nachts kam während eines heftigen Schneegestöbers der Überfall der russischen Soldaten rasch und unvermutet. Noch im Nachthemd, dicke weiße Socken gegen die beißende Kälte an den Füßen, schlüpfte sie in Vaters Pantoffel und rannte die steile Treppe hinauf. In der Hand die geliebte Puppe aus ihren Kleinkindertagen. Nur fort von Lärm und rohem Geschrei, von Weinen, Bitten und Flehen. Noch wenige Stufen bis zur rettenden Bodentüre, da waren sie hinter ihr, sie die Männer aus der russischen Steppe. Rissen sie an ihren langen blonden Haaren zu Boden. Waren über ihr.
Wir hören Isolde in ihrem Traum stöhnen und wimmern, flehen und weinen, doch wir müssen sie ihren Traum zu Ende träumen lassen und den grauen Morgen zusammen mit Christine erwarten.
Christine lag schon zu früher Stunde wach. Sie hatte von Isolde geträumt von ihrem schönen blonden Haar und von ihrer Angst. Sie beschloss, vor Arbeitsbeginn bei der alten Dame vorbeizuschauen und ihr ein paar Blumen zu bringen.
In aller Frühe, während sich der Winter mit einem plötzlichen heftigen Schneeschauer verabschiedete, betrat sie mit einem Strauß Osterglocken die Eingangshalle des Altenheimes. In der Schlucht des Treppenhauses glimmte noch das schwache Nachtlicht. Auf dem Steinboden aber zu Christines Füßen lag eine blonde Frau in einem weißen Nachthemd. Verkrümmt mit zerschmettertem Kopf. Das Haar verklebt von Blut. Unter dem gerüschten Saum des Nachthemds qualvoll verdreht die Füße. Mit weißen Wollsocken. Ein schwarzer Lederhausschuh irgendwo. Daneben der zerbrochene Porzellankopf einer Puppe mit blonden Haaren und blauen Augen.



Eingereicht am 02. April 2006.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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