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Ein Denkmal gesetzt
© Micheline Holweck
Gestiftet von der städtischen Vereinigung der Biologen, ist in den steinernen Denkmalsockel gemeißelt. Neugierig betrachte ich die Büste aus Bronze, die einen jungen Mann mit langen Haaren darstellt, ich würde auf Rastazöpfe tippen. Erst bei einer näheren Begutachtung fallen mir die ebenfalls bronzenen Würmer und Käfer auf, welche sich auf den Haarsträngen tummeln. Suchend schaue ich mich nach einer Hinweistafel um, woher ich mehr Informationen zu diesem Denkmal erhalten könnte.
"Sie scheinen nicht aus unserer Stadt zu stammen, oder?", fragt mich ein älterer Herr, der soeben aus dem nahen Friseurladen tritt. "Dient dieses Denkmal nur dazu, Neulinge in der Stadt zu entlarven, oder hat es noch eine andere Aufgabe?", gebe ich keck zurück. Der Herr streicht mit seiner rechten Hand über sein wohl soeben frisch rasiertes Gesicht und zupft sanft an seinem graumelierten Schnurrbart. "Entlarven ist gut", meint er und sein belustigter Blick lastet forschend auf mir.
Er setzt sich auf die Parkbank, direkt vor dem Denkmal, streicht mit seiner Hand neben sich über die Bank und heißt mich, neben ihm Platz zu nehmen. Mit seinen wirren, grauen Haaren erinnert er mich einen Moment lang an Einstein. Seine tiefe, füllende Stimme umhüllt mich, lässt mich alles um mich vergessen und trägt mich in die Geschichte:
Jens ist Physikstudent. Obwohl noch lange nicht alle in der Stadt seinen Namen kennen, so ist er doch den meisten Mitbürgern bekannt, denn niemand geht an ihm vorüber, ohne sich nochmals nach ihm umzudrehen. Seine dunkelblonden Haare sind zu Rastalocken geflochten und die Haarstränge reichen ihm bis zu den Waden hinunter. Manchmal, wenn er mit dem Fahrrad zur Uni fährt, steckt er die Haarstränge in die Jackentaschen, damit sie sich nicht in den Speichen des Rades verfangen. Eines Nachts, Jens liegt im Bett, mit
dem Gesicht der Zimmerdecke zugewandt, die Arme unter dem Kopf verschränkt und in Gedanken geht er nochmals ein paar wichtige Physikformeln durch. "Was ist denn das für ein Rascheln?", fragt er sich verwirrt. Er dreht und wendet sich in seinem Bett, doch das Geräusch bleibt. "Es hört sich ja wie ein stetiges Nagen an, vielleicht habe ich ja Ungeziefer in meiner Wohnung!" Sofort zündet er das Licht an und beginnt minuziös sein Zimmer zu untersuchen, doch er wird nicht fündig. Jens legt sich
erneut ins Bett und da hört er es wieder, ganz nahe ist es dieses Mal, fast neben seinem Ohr muss es sein. "Irgendwas nagt in meinen Haaren", durchzuckt es Jens Verstand urplötzlich. Im Badezimmer, vor dem Spiegel, schneidet er mit einer alten Rasierklinge einen seiner Haarzöpfe auf der Höhe seines linken Ohres auf. Er biegt seinen Oberkörper leicht nach vorne, um die Haare genauer untersuchen zu können. Ekel durchzuckt ihn, als er mit einer Pinzette aus dem Haarstrang eine Made herauszieht. Hellgrün,
feist und etwa zwei Zentimeter lang ist dieses Ungeziefer! Jens überkommt eine starke Übelkeit und er übergibt sich ins Lavabo. Auf einmal hört er das Nagen überall, rechts, links, hinten und unten. Es ist beinahe, als würden die Tierchen in seinem Kopf nagen, sein Hirn auffressen. "Ich bringe euch alle um!", schreit Jens hysterisch und wirft die Inhalte der Küchenschubladen hastig auf den Boden, auf der Suche nach einem geeigneten Mord-Instrument. Endlich ist er fündig geworden; siegessicher hält
er in der rechten Hand einen Hammer, genau das, was er für seine Schlacht benötigt. Er legt seine Haarstränge auf den hölzernen Küchentisch und hämmert wie wild geworden auf seinen Haaren herum. Teilweise läuft ein grünlicher Saft aus den Rastazöpfen und hinterlässt Flecken auf dem Küchentisch. Erst in den frühen Morgenstunden legt sich Jens wieder zu Bett und als er kein Nagen mehr hört, schläft er erschöpft ein.
"Hörst du auch so ein merkwürdige nagendes Geräusch?", wird Jens während einer Vorlesung an der Universität von seinem Banknachbarn gefragt. "Was soll ich denn hören?", fährt ihm Jens über den Mund. "Du bist wohl bekloppt, es gibt nichts zu hören." Ohne weitere Erklärungen abzugeben, packt Jens seine Unterlagen zusammen und steuert dem Ausgang zu.
"Ich werde noch wahnsinnig", spricht Jens zu sich selbst und wetzt mit seinem Rad zum nächsten Coiffeursalon. "Guten Tag", grüsst die Friseuse freundlich und stellt sich geistig schon vor, wie sie mit einer Hand die Haarstränge hält und mit der anderen die Schere führt. "Sie müssen mir helfen", durchbricht Jens diese Friseusen-Tag-Träume. Leise flüstert er ihr zu: "Ich habe Maden in den Haaren, sie müssen ein Mittel haben, um meine Haare zu waschen und diese Tiere zu vernichten."
"Maden?!", fragt die Friseuse unerwartet laut zurück, so dass die anderen Kunden ihre Blicke abrupt auf Jens richten. "Psst", beschwichtigt Jens. Während der geplagte Physikstudent auf dem Stuhl vor dem Spiegel Platz nimmt, sucht die Friseuse ein geeignetes Mittel. "Shampoo wird wohl nichts bewirken", murmelt sie vor sich hin. In diesem Moment erinnert sie sich, im Putzschrank einmal ein Mittel gegen Ungeziefer gesehen zu haben, das wird wohl auch auf die Haare anwendbar sein. Wie
der Chirurg vor der Operation oder der Offizier vor der Schlacht, zieht sie sich Latexhandschuhe über und beginnt, die Haarstränge mit dem Mittel einzubalsamieren. "Leeren sie die ganze Flasche darauf, damit auch keines dieser Tiere überlebt", spornt Jens sie an. Ein ätzender Geruch verbreitet sich und die Kunden beginnen zu husten und erheben sich von ihren Stühlen. Jens Haare beginnen sich langsam aufzulösen, wie wenn sie von Säure zerfressen würden. Auf einmal wimmelt es am Boden von grünen Maden,
Haarteilen und sogar ein paar grüne Käfer befreien sich aus dem Haargewirr und bringen sich in Sicherheit, schwirren durch den Laden und krallen sich an den Haaren der anderen Kunden fest. Unter den Kunden bricht die Panik aus und schreiend flüchten alle aus dem Laden. Einzig Jens kämpft mit einem Handtuch gegen die Ungeziefer und versucht mit der Wasserbrause gegen das starke Mittel anzukämpfen, um den Haarboden wenigstens zu retten. "Das ist ein Prachtstück!", sagt ein Kunde, der mit einshampoonierten
Haaren auf dem Boden kniet. Mit einer Lupe und einer Pinzette bewaffnet, untersucht er mit offensichtlicher Bewunderung die Maden und Käfer. "Sie wissen gar nicht, was für eine wundervolle Entdeckung sie mir ermöglicht haben. Dank ihnen werde ich berühmt werden! Diese Ungeziefer sind uns Biologen absolut unbekannt, es ist eine neue Generation!", spricht er anerkennend in Jens Richtung. Der hingegen achtet nicht auf diese Worte und zieht angeekelt eine Made aus seinem Ohr, die wohl einen Zufluchtsort
gesucht hatte.
"Wahnsinn!", kommentiere ich dem Alten seine Erzählung und schaue während ein paar Minuten gedankenversunken das Denkmal an. Ein junger Mann, mit einer grauen Mütze auf seinem offensichtlich kahl geschorenen Haupt, bleibt vor der Bronzebüste stehen.
"Was ist denn aus Jens geworden?", frage ich neugierig.
"Niemand weiß etwas, niemand hat ihn je wieder gesehen. Es gibt sogar Leute, die behaupten, die Säure oder die Maden haben ihn ganz aufgefressen. Bis der Notfalldienst in den Friseurladen kam, lagen nur noch voll gefressene Maden auf dem Boden herum."
Es schüttelt mich vor Ekel am ganzen Körper und ich beschwöre den alten Mann lautlos, mir keine weiteren Details zu enthüllen. Der Alte erhebt sich, grüßt und spaziert davon. Auch der junge Denkmalbetrachter wendet sich zum Gehen. Ich erhasche einen kurzen Blick auf sein Gesicht, das etwas entstellt wirkt, wie etwa nach einem Unfall. Und schon ist er um die nächste Ecke verschwunden.
Eingereicht am 25. Januar 2006.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.