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Behördengang

© MiG


Ein Gang zum Finanzamt ist in den seltensten Fällen etwas Angenehmes. Wie die meisten Menschen, suche auch ich den Kontakt mit dieser "einnehmenden" Behörde tunlichst zu vermeiden und überlasse die üblichen diesbezüglichen Kontakte mit Vergnügen meinem Steuerberater. Diesmal aber kam ich nicht umhin, selbst ein paar Details im Zusammenhang mit unserem geplanten Büroneubau zu klären.
Anstatt mich direkt zu meinem zuständigen Sachbearbeiter vorzulassen, verwies mich der Pförtner mit meinem Anliegen an das neue Bürgerbüro der Behörde: "Dort rechts hinter der Glastür!" Das Areal dort entpuppte sich als kurzer Flur mit mehreren Türen, Stühlen voller Bürger und einer behördenüblichen Anzeigetafel, mittels der die Wartenden anhand vorher zu ziehender Wartemarken auf die verschiedenen Büros verteilt wurden. Ich zog also eine Marke, stellte fest, dass ich noch rund 10 Leute vor mir hatte, und vertiefte mich in eine vorsorglich mitgebrachte Zeitschrift. Als nächste betrat eine junge Frau den Flur, an der Hand ein Kind im Vorschulalter. Ich stellte fest, dass sie cirka Mitte 20, schlank, knapp mittelgroß und von leicht südländischem Aussehen war. Vor allem aber fielen mir ihre hüftlangen, an den Spitzen ziemlich ausgefransten Haare auf. Sie platzierte sich und ihren Nachwuchs auf zwei freien Stühlen mir gegenüber und begann, auf ihrem Schoß ein Formular auszufüllen.
Ich ließ die Zeitschrift sinken und betrachtete sie, wie sie dort saß und konzentriert schrieb - so konzentriert, dass sie weder meine Blicke wahrnahm noch die Tatsache, dass ihrem Sohn die Nase lief. Mit den Worten: "Darf ich dir aushelfen, junger Mann?", reichte ich dem ungefähr fünfjährigen Jungen ein Papiertaschentuch. Er nahm es und schneuzte sich geräuschvoll. Seine Mutter blickte auf, lächelte kurz zu mir hinüber und forderte ihren Sohn auf: "Sag wenigstens danke, Leon!" Das tat der Junge artig. Dann begann er sich nach einer Beschäftigung umzusehen. Weil nichts in der Nähe seine Aufmerksamkeit fesseln konnte, fing er an, mit einer der langen Haarsträhnen zu spielen, die seiner Mutter bei ihrer Schreibarbeit nach vorn gefallen waren und nun ihre Oberschenkel berührten. Das Gefummel schien sie zu irritieren, denn sie blickte erneut auf und wies ihren Sohn an: "Lass das, Leon!" Der Kleine aber ließ sich nicht lange stören, sondern griff erneut nach der langen schwarzen Mähne, die so verführerisch in Reichweite seiner kleinen Hände baumelte. "Schöne Haare, Mama!", sagte er und lachte. "Nicht so schön, wie sie sein könnten!", entfuhr es mir.
Im selben Augenblick hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Der Blick aus den schwarzbraunen Augen, der mich unter fragend geschwungenen Brauen traf, verriet aber keinen Ärger über die unbeabsichtigte Beleidigung, sondern nur waches Interesse. "Kennen Sie sich damit aus?", fragte die junge Frau. "Einigermaßen", bekannte ich. "Ich sehe halt, dass Ihre Haare lange nicht geschnitten und an den Enden ziemlich splissig sind." Mein Gegenüber legte das inzwischen offenbar fertig ausgefüllte Formular zur Seite, nahm eine Strähne ihres Haares in die rechte Hand und hielt die Enden in Richtung ihrer Augen. "Sie haben Recht", gab sie zu. "Ich war ewig nicht mehr bei einem Frisör. Früher hat mein Mann, also mein Ex-Mann, mir immer die Spitzen geschnitten. Aber seit unserer Trennung war da keine Schere mehr dran!"
Dann wird es aber Zeit, fand ich, sagte aber nur: "Spitzen schneiden würde nichts schaden, und auch ein Splissschnitt macht sicherlich Sinn." Die junge Frau nickte. "Hmmm ... aber ein Friseurbesuch kostet inzwischen ja ein Vermögen." "Ich würde Ihnen den Schnitt privat und umsonst machen", bot ich an. "Wirklich?" Ihr Interesse schien echt. In diesem Moment zeigte die Leuchttafel an, dass meine Nummer an der Reihe war. "Wenn Sie wirklich möchten, hier ist meine Karte", sagte ich und holte eine meiner Visitenkarten aus der Brieftasche. "Reporter sind Sie?", wunderte sich die junge Frau. "Ja - und versierter Hobbyfriseur", erklärte ich noch, lächelte ihr zu und betrat das Büro, das auf der Tafel angezeigt war, bevor der Beamte darin die Geduld verlor und den nächsten hereinbat. "Guten Tag, ich habe da ein paar Fragen zur Bauförderung ..."
Als ein paar Tage später das Telefon auf meinem Schreibtisch klingelte, hatte ich Szene auf dem Amtsflur fast schon vergessen. "Hallo, hier ist Maria". So - und? dachte ich. Der Vorname sagte mir nichts. Die Frau am anderen Ende schien zu merken, dass ich nicht im Bilde war. "Maria Dedorez, wir haben uns neulich im Finanzamt getroffen." Jetzt erinnerte ich mich - die junge Frau mit der ausgefransten schwarzen Mähne. Schon fuhr sie fort: "Gilt das Angebot noch?" "Klar!", bestätigte ich erfreut. "Würde es auch ... also, auch für einen komplett neuen Schnitt gelten?" Wowww! Das wurde ja immer besser! "Aber sicher!" Das Aufatmen am anderen Ende war deutlich hörbar. "Ich habe mich nämlich entschlossen, neu anzufangen - in vieler Hinsicht!" Ich konnte sie zu diesem Entschluss nur beglückwünschen und sagte das auch. Wir machten noch für denselben Abend einen Termin aus.
Maria war pünktlich. Sie kam ohne Leon, den sie einer Freundin anvertraut hatte. Ihre langen Haare hatte sie nachlässig mit einem Bürogummi im Nacken zusammen gebunden. Wenn sie immer so mit ihren Haaren umgegangen war, wunderte mich der Zustand nicht weiter. Nachdem sie abgelegt hatte, verzogen wir uns nach hinten in das große Bad, während meine Familie im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß. Meine Frau kennt meine Neigungen bezüglich weiblicher Haare und macht keinerlei Aufhebens davon. Ich holte einen Stuhl herbei und bat Maria, Platz zu nehmen. Ich legte ihr ein Cape um und zog den langen schwarzen Pferdeschwanz darunter hervor. "Wie soll es denn werden?" Meine Standardfrage in solchen Situationen. "Kurz und stufig", sagte Maria entschieden. Sie hatte sich offenbar vorher entsprechende Gedanken gemacht. Mir sollte das recht sein. "Oben so" - sie zeigte mit zwei Fingern eine knappe Streichholzlänge an - "und nach unten hin länger werdend, im Nacken ungefähr bis da", - ihre Hand schwebte hinten zirka in Höhe des Kinns. "Ist in Ordnung", sagte ich. "Steht Ihnen bestimmt!" "Ach lass doch das steife Sie weg!", verlangte Maria. "Bitte, wie du willst, ich heiße Michael!"
Mit innerlichem Kopfschütteln löste ich das Bürogummi aus Marias Haaren und bürstete ihre naturschwarze Mähne ein letztes Mal durch. Dann bat ich sie, den Kopf so weit wie möglich nach hinten zu strecken. Ich griff nach einem flammroten Haargummi und band den kompletten Schopf auf dem höchsten Punkt ihres Oberkopfes zusammen, wobei ich zwischen Gummi und Kopfhaut nur die erwähnte knappe Streichholzlänge Platz ließ. Dann nahm ich, aus Gründen des Showeffektes, meine große "Zöpferschere" zur Hand, eine Arbeitsschere mit viertel Meter langen Klingen, die nach meinen Anweisungen extrem scharf geschliffen worden war. Wie erwartet, zuckte Maria leicht zusammen, als sie im Spiegel sah, wie ich mich mit dem Monstrum in der Hand ihren Haaren näherte. "Madre de Dios!", entfuhr es ihr in ihrer Muttersprache. "Noch kannst du nein sagen", erinnerte ich sie. Ein angedeutetes Kopfschütteln war die Antwort. "Ist schon gut - schneid ab!" Ich nahm ihren Pferdeschwanz in die linke Hand, wickelte ihn zweimal darum und führte mit der Rechten die Klingen unter dem Gummi durch. Einen Moment verharrend, suchte ich Marias Blick im Spiegel, aber sie hatte die Augen geschlossen. Dann drückte ich einmal zu - ein kurzes Knirschen, und Marias schwarze Haare fielen in regelmäßigen Stufen bis in ihren Nacken. Den abgetrennten langen Schopf hielt ich ihr hin.
Maria öffnete die Augen, erblickte ihre abgeschnittenen Haare und dahinter im Spiegel ihr neues Selbst, mit streichholzkurzen Haaren am Oberkopf und Stufen bis in Kinnhöhe. "He, kannst du zaubern?" Sie sah sehr verwundert aus. "So schnell geht das?" "Ganz fertig bin ich aber noch nicht", gab ich zur Antwort, legte die Riesenschere weg und griff nach einem wesentlich handlicheren Exemplar. Damit kürzte ich die Seiten auf halbe Ohrhöhe, kreierte einen fransigen Pony und schuf einen gefälligen Übergang zum etwas längeren Nacken. Marias Augen leuchteten, als sie das Ergebnis sah. " Zufrieden?" fragte ich. "Sehr!" war die überzeugte Antwort. "Wenn ich das Ramona zeige ..." "Wer ist Ramona?", wollte ich wissen. "Meine kleine Schwester", gab Maria zur Antwort. "Die war auch ewig nicht beim Friseur und hat mindestens meine Länge. Darf ich ihr deine Nummer geben?" Klar durfte sie das, Mundpropaganda war immer noch die beste Reklame für einen "Hobbyfriseur" wie mich!



Eingereicht am 27. Mai 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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