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Der alte Barbier

© Leandra S.


Mit gesenktem Kopf und den Blick fest auf den grauen Asphalt unter ihren neonblauen Turnschuhen geheftet, ging das Mädchen langsam aber kontinuierlich die dunkle Gasse entlang. Diese Gasse befand sich jenseits des "guten Endes" der Stadt. Die meisten Häuser standen leer, zerbrochene Fensterscheiben reflektierten hier und da das matte Licht der einzigen Straßenlaterne. Die engen Häuser zu beiden Seiten waren genauso grau wie der Asphalt, genauso löchrig. Einst waren sie mal gelb und blau gestrichen, doch die Witterung und die Jahre hatten die Fassaden dem tristen Erdboden immer ähnlicher werden lassen. Das Mädchen bemerkte nicht mal, wie ein scharfer Wind aufkam, so beschäftigt war es mit seinen Gedanken. Es hörte auch nicht das Wispern in der wahrscheinlich hundert Jahre alten Eiche. Dieses Geräusch wurde wohl vom aufkommenden Wind übertönt. Es war zwar Vollmond, doch dunkle Wolken jagten sich über den Himmel und ließen nur wenig von dem schalen Licht durch. Es regnete nicht, doch es war kalt, eine typische Herbstnacht im späten Oktober.
Während das Mädchen weiterging, wurde das Wispern lauter; es hörte sich fast an, als würde im Wipfel des Baumes eine Diskussion stattfinden. Doch das Mädchen bemerkte immer noch nichts und setzte mit eiserner Willenskraft einen Fuß vor den anderen.
Jennifer hatte keine Angst. Das hatte sie sich schon vor Jahren abgewöhnt. Wenn man mit ihrem Vater in einem Haus lebte, kannte man nur eine Furcht: wenn ihr Vater betrunken nach Hause kam. Jennifer war nach dem Streit einfach aus dem Haus gelaufen, einfach geradeaus. Ihre Schritte hatten sie in die düstere Ecke der Stadt getrieben. Die Friedhofstraße war genauso berühmt wie berüchtigt. Dunkle Gestalten sollten sich nachts hier herumtreiben. Niemand mit gesundem Menschenverstand wagte sich hierher - und schon gar nicht nachts. Jennifer lachte trocken auf. ‚Kommt doch, ihr Schauergestalten', dachte sie spöttisch. ‚Überfallt mich doch, nehmt mir alles was ich habe. Ich habe eh nichts zu verlieren.'
Jennifer hätte sich fast gewünscht dass jemand sie angriff. Die gezügelte Aggression, die seit der Auseinandersetzung mit ihrem Vater und ihrer Mutter in ihr schwelte, ließ ihr alles egal werden.
Ihr Vater war Alkoholiker, besser Säufer. Ja, Säufer passte besser, entschied sie. Wenn er abends aus der Kneipe nach Hause kam, verprügelte er regelmäßig sie und ihre Mutter. Während ihre Mutter bloß mit gesenktem Kopf und weinend in einer Zimmerecke kauerte, versuchte sich Jennifer schon seit Jahren zu wehren. Das brachte ihr meistens nichts als ein weiteres blaues Auge ein, und ihre Mutter versuchte immer, alles schönzureden und zu beschwichtigen.
"Er meint es nicht so, er kann nichts dafür, er ist krank", war ihr Standardsatz.
Aber war das eine Begründung, seine Frau und seine fünfzehnjährige Tochter zu verprügeln? Jennifer fand nein. Doch ihre Mutter hatte nicht die Kraft sich von ihm zu trennen und ein eigenes Leben zu beginnen. Und Jennifer war noch zu jung.
Sie wollte nur eins: Die Schule so gut wie unter diesen Umständen irgend möglich zu beenden und sich dann ihr eigenes Leben aufbauen. Am liebsten weit, weit weg.
Seufzend stellte sie ihren Kragen hoch und zog den Kopf auf die Schultern. Sie blickte zum ersten Mal nach vielen Minuten auf. Sie sah die trostlose Straße mit den halbverfallenen Häusern, fast schon Ruinen. Plötzlich fing ihr Blick ein Flackern ein, auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Dort befand sich das alte Ladenlokal von Friseur Toni.
Jennifer kniff die Augen zusammen um besser sehen zu können. Hinter den blinden Glasscheiben bewegte sich tatsächlich ein kleines Licht. Es schien wie ein Glühwürmchen zu tanzen; es schwebte mal hoch in der Luft, mal zog es kleine enge Kreise.
‚Wie ein Ringelreigen, den nur einer tanzt', dachte Jennifer.
Neugierig geworden überquerte sie langsam die Straße. Sie sog die Eindrücke des Friseurladens in sich auf. In schnörkeliger Schrift war über der Glasfront "Barbier Toni" aufgemalt. Früher waren die Farben noch von strahlendem Rot gewesen, nun war die Schrift kaum noch zu erkennen. Blass und verwittert gab sie Zeugnis einer besseren Zeit auf dem abbröckelnden Putz.
Die Glasscheibe der Eingangstür war zerbrochen. Doch jemand hatte sich die Mühe gemacht und sie mit Folie verklebt.
Jennifer näherte sich bis auf drei Meter dem Ladenlokal und blieb dann stehen. In dem Moment verschwand das Licht.
Jennifer runzelte die Stirn. Zögernd ging sie näher. Sie versuchte, durch die Glasfront in das Innere des Ladens zu schauen. Aber alles was sie ausmachen konnte, waren einige Stühle, Waschbecken und Regale, zum Teil mit Laken abgedeckt, und eine dicke Schicht von grauem Staub.
Dann hörte sie plötzlich etwas. Ein Flüstern, eher ein Wispern, in einer hellen Stimmlage. So stellte sie das Geräusch einer aufgeregt erzählenden kleinen Fee vor.
Sie versuchte das Geräusch zu orten - es schien aus dem Laden zu kommen.
Jennifer bewegte sich zur Eingangstür. Zaghaft versuchte sie sie aufzudrücken. Sie hatte damit gerechnet, dass die Tür abgeschlossen gewesen wäre. Dann hätte sie einfach schulterzuckend weitergehen können.
Doch nach einer kleinen Berührung sprang die Tür sperrangelweit auf, als ob ein verborgener Gastgeber ihr freundlich die Tür aufhielt.
Erschrocken machte Jennifer einen Schritt zurück. Dann wurden ihre Augen groß.
Von innen sah der alte Friseurladen wesentlich einladender aus als von außen. Weder Staub noch die Abdecklaken waren zu sehen. Der Laden machte den Eindruck, als warte er auf Kundschaft. Der Fußboden glänzte wie frisch gebohnert, keine Spinnwebe war zu entdecken. Die Waschbecken und Stühle schienen gerade noch in Gebrauch gewesen zu sein. Selbst der leichte Geruch von Shampoo, Dauerwellflüssigkeit und Haarspray hing in der Luft.
Jennifer trat ein und sah sich staunend um. Obwohl es draußen dunkel war, schien der Laden durch ein schwaches rötliches Licht erhellt. Eine warme, gemütliche Atmosphäre herrschte hier. Und es war hell genug, dass sie ohne Hilfsmittel genug sehen konnte.
Eine weit entfernte Turmuhr schlug Mitternacht, und in diesem Moment schlug die Eingangstür hinter ihr zu.
Jennifer zuckte empfindlich zusammen. Stirnrunzelnd begutachtete sie die Tür, die vorher nur angelehnt gewesen war.
In diesem Moment hörte sie eine Stimme.
"Guten Abend, junge Frau! Was kann Ihnen heute Gutes tun?"
Jennifer fuhr herum.
Durch eine andere Tür im hinteren Bereich des Ladens war ein Mann eingetreten. Er war mittleren Alters, hatte feuerrote Haare mit einem altmodischen Schnitt und einen gezwirbelten Schnäuzer. Über seiner Kleidung trug er eine Lederschürze. Er wirkte wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Seine grünen Augen blickten freundlich. Jennifer kam es vor, als wäre der Mann es gewohnt, dass in so einer Nacht um Schlag zwölf Kundschaft in den Laden von Barbier Toni eintrat und nach einer neuen Frisur oder einem Bartschnitt verlangte.
Der Mann lächelte Jennifer an. Er lehnte an einer der Säulen, die sich verteilt im Ladenlokal befanden.
Als Jennifer ihn nur sprachlos anstarrte, machte er einen Schritt auf sie zu.
"Miss Jennifer, bitte nehmen Sie doch einfach hier Platz", sagte er und deutete mit einer theatralischen Geste auf den nächsten Frisierstuhl.
"Woher kennen Sie meinen Namen?", stotterte Jennifer. Ihr war unheimlich zumute.
Der Mann lächelte wieder, diesmal geheimnisvoll, und erwiderte: "Meine Freunde haben gesagt, dass Sie kommen würden, Miss. Sie sagten, Sie bräuchten einen frischen Haarschnitt."
Widerstandslos ließ sich Jennifer auf dem Frisierstuhl nieder.
Sie war einfach verblüfft, fassungslos. Angst hatte sie nicht, obwohl ihr die ganze Situation unwirklich vorkam. Ein wenig unheimlich vielleicht auch, aber es war mehr ein spannendes, positives Gruseln, das sie hier in diesem Laden überkam.
"Mein Name ist übrigens Toni", sagte der Mann, während er ihr den Frisierumhang umlegte. "Dies ist schon seit langer Zeit mein Frisiersalon."
"Warum haben Sie so spät noch geöffnet, Toni?" fragte Jennifer. Sie konnte sich schon ausrechnen, dass sie nicht wirklich eine eindeutige Antwort bekommen würde.
"Ich öffne nur noch für Spezialkundschaft. Nur für Kunden, die auf Empfehlung meiner Freunde den Weg hierher finden."
Er kramte in einer Kiste und fischte Kamm und Schere heraus. Während er ihr durch das blonde, schulterlange Haar fuhr, bewegte er den Kopf abschätzend hin und her.
"Hm, ja, ich schlage vor, wir bringen mal ein wenig frischen Wind in die Sache", meinte er und teilte ihr Haar mit dem Kamm. "Denn Sie müssen wissen, Miss Jennifer, nach so einem Frisörbesuch sieht die Welt immer ganz anders aus. Man fühlt sich gut weil man gut aussieht, und man hat sich nach Herzenslust den neuesten Klatschgeschichten hingegeben."
Er lächelte wieder und fing an, ihr Haar zu schneiden.
"Wer sind Ihre Freunde, die mich empfohlen haben?" fragte Jennifer. Sie fühlte sich wohlig entspannt, doch ein Rest Neugier war geblieben.
"Sie können sie nicht sehen, kleine Miss. Doch sie haben Sie gesehen. Sie haben gefühlt, dass Ihnen ein Besuch bei mir sehr gut tun würde. Und dann haben sie Sie hierher geschickt. Sie sagten, Sie hätten ein kleines Problem, das gelöst werden will?"
Eifrig schnitt Toni weiter an ihren Haaren herum. Er sprach so beiläufig, dass man meinen konnte, er würde lediglich Smalltalk machen und nicht etwas so Irrationales von sich geben.
Jennifer schluckte. "Was haben Ihre Freunde Ihnen erzählt?"
Jetzt erst hielt Toni inne. Mit beiden Händen hielt er ihren Kopf und schaute ihr über den Spiegel direkt in die Augen.
"Das wissen Sie doch am besten Miss", sagte er langsam, "oder wissen Sie nicht mehr, an was Sie gedacht haben, als Sie auf dem Weg hierher waren?"
"Doch", erwiderte Jennifer, "aber wie kann das jemand anderes erfahren haben?"
Toni lächelte sie wieder an und nahm seine Arbeit wieder auf.
"Manche Dinge kann man nicht so einfach erklären, Miss Jennifer", erklärte er. "Lassen Sie mich Ihnen versichern, um Ihr Problem wird sich gekümmert. Wir wollen Ihnen helfen. Entspannen Sie sich und genießen Sie die Behandlung."
Jennifer fühlte sich wie in Trance. Sie hörte das Schnipp-Schnapp der Schere, hörte Toni im Hintergrund etwas sagen, das sie nicht mehr verstehen oder begreifen konnte.
Nach einer Weile schien Toni fertig mit seinem Werk. Er griff nach einer Haarspraydose und begann, ihr Haar damit einzusprühen.
Die Dämpfe des Sprays nahmen Jennifer fast den Atem. Ihr Dämmerzustand vertiefte sich noch.
Diesmal nahm sie das leise, kichernde Wispern war. Sie öffnete die Augen, um zu sehen, woher es kam. Aber ihr verschleierter Blick traf nur auf kleine, glitzernde Lichtpunkte, die um Tonis Kopf zu tanzen schienen. Auf und nieder, ringelrein. Es waren etwa acht oder neun Lichter. Toni redete und lachte mit ihnen. Es schien, als unterhalte er sich in lockerer Runde mit seinen besten Freunden.
Die tanzenden Lichtpunkte und die Dämpfe des Haarsprays machten Jennifer schwindelig. Sie versuchte tapfer zu bleiben und sich aufzurichten, doch sie hatte nicht die Kraft. Dann spürte sie, wie sie das Bewusstsein verlor.
Als Jennifer die Augen aufschlug war es acht Uhr morgens. Sie lag in ihrem Bett, in ihrem Zimmer. Verwundert schaute sie sich um. Alles war wie immer zu Hause.
Sie setzte sich auf und lauschte. Kein Geräusch war zu hören. Ihr Vater schlief sicherlich noch seinen Rausch aus und ihre Mutter, nun, die würde sich hüten, einen Laut zu machen, der ihn wecken konnte.
Aber welch merkwürdigen Traum hatte sie in der Nacht gehabt? Er war ihr so real vorgekommen. Sie war sich sicher, gestern Abend noch losgegangen zu sein, ein wenig frische Luft schnappen. Sie wusste nur nicht mehr, wie und wann sie nach Hause gekommen war.
Jennifer trank nicht und nahm auch keinerlei Drogen, also schloss sie aus, dass deswegen Gedächtnislücken hatte.
"Du hast wahrscheinlich gegrübelt und gegrübelt und nicht gemerkt, dass du zu Hause angekommen bist. Und dann bist du gleich eingeschlafen", sagte sie zu sich.
Sie schwang die Beine aus dem Bett, schlüpfte in ein graues Sweatshirt und schlich leise in die Küche.
Ihre Mutter saß, den Kopf in den Händen verborgen, am Küchentisch. "Morgen", sagte Jennifer und bemühte sich, eine Tasse so leise wie möglich aus dem Schrank zu nehmen. Sie wollte ja schließlich nicht ihren Vater wecken.
Ihre Mutter sah auf. Aus blutunterlaufenen und verweinten Augen sah sie sie an.
"Was ist los, Mama? Hat er dich wieder geschlagen?" Jennifer ging auf sie zu und legte ihr die Hand auf eine Schulter.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. "Nein. Papa ist ... Papa ist tot. Er ist letzte Nacht von einem Auto überfahren worden."
Jennifer schluckte hart. "Aber wie ... wann ...", stammelte sie.
"Er ist dir gefolgt, als du einfach so rausgerannt bist. Er ist dann direkt vor ein Auto gelaufen. Jede Hilfe kam zu spät." Ihre Mutter begann ein leises Schluchzen.
"Wäre er nüchtern gewesen, hätte er wohl noch ausweichen können, aber so ...", setzte sie leise hinzu.
Jennifer war schockiert, aber irgendwie fühlte sie sich auch erleichtert. Sie konnte es noch nicht einordnen. Sicher, er war ihr Vater gewesen. Aber nun hatten sie und ihre Mutter die Chance ein eigenes Leben aufzubauen. Ohne, dass die Haushaltskasse jeden Monat für Alkohol draufging, ohne, dass sie ständig verprügelt und geschlagen wurden. Und sie selbst, sie würde ihren Weg machen können. Sie würde lernen können, ohne dass ihre Schulbücher bei einer Wutattacke des Vaters ins Kaminfeuer flogen und ohne, dass ihr jemand sagte, sie bräuchte nichts zu lernen weil sie eh dumm wie Stroh sei.
Jennifer umarmte ihre Mutter. "Ich weiß, dass es trotz allem schwer wird, aber wir schaffen das schon. Du und ich. Zwei Powerfrauen."
Ihre Mutter lächelte dünn. "Ich weiß. Ich bin froh, dass ich dich habe."
Jennifer lächelte. "Und ich, dass ich dich habe."
"Aber sag, was hast du mit deinen Haaren gemacht? Du siehst richtig frisch aus. Steht dir gut", fügte ihre Mutter leise hinzu.
Jennifers Augen wurden groß. Sie löste sich von ihrer Mutter und ging zum Spiegel in der Diele.
Tatsächlich! Die Haare flossen über ihre Schultern wie schimmerndes Gold, umschmeichelten ihr Gesicht. Sie sah verändert aus; irgendwie älter, und trotzdem jung, obwohl die Haare immer noch dieselbe Länge wie vorher hatten.
Im Augenwinkel nahm sie ein kleines, flackerndes Lichtlein wahr. Es hüpfte fröhlich einmal auf und ab und war dann wieder verschwunden.
"Och, ich hab nur ein anderes Shampoo probiert", antwortete sie ihrer Mutter
Jennifer lächelte. Dann sagte sie: "Komm, wir müssen noch Formalitäten erledigen. Das sollten wir am besten gleich tun."
Ihre Mutter nickte und folgte ihr.



Eingereicht am 24. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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