Toupet
© Kurt-G. Krell
Ein Toupet? - Kam ja gar nicht in Frage!
Klaus war in die Jahre gekommen. Und wie das bei ganz bestimmten Männern so ist, die zuviel Testosteron (oder war es "Gestagen" oder vielleicht doch was anderes?), also auf jeden Fall zuviel von diesen Hormonen im Körper haben, die noch dazu für ausgeprägte Männlichkeit verantwortlich sein sollen, bei denen jedenfalls soll es so sein, dass deren Haare schnell dünn werden, bis sie eines Tages gar nicht mehr oder bestenfalls noch als mehr oder minder ausgeprägter Haarkranz existieren.
Klaus' Frau Karin war es, die es zuerst entdeckte. Diese 2-Euro kleine Lücke auf seinem Kopf, sie hatte die erspäht, bevor es ihm selbst aufgefallen wäre.
Das war vor fünf Jahren. Von da an beobachtete Klaus - nicht ohne wachsende Sorgenfalten auf der ohnehin schon waschbrettartig gefurchten Stirn - das Wachstum dieser Freifläche. - Nun war aus der 2-Euro-Lichtung ein völlig von jedem Bewuchs gerodeter Kahlschlag geworden, fast so groß wie eine Pizza und glänzend wie der Vollmond in einer klaren Winternacht. Nur an den Seiten und hinten, da war er mit dem Wachstum seiner Haupthaare noch ganz zufrieden. Rein statistisch gesehen - Klaus war statistikgläubig - hatte
sich nichts großartig verändert. Denn was oben fehlte, das kompensierte er, indem er den Rest einfach wachsen ließ.
Wenn ich auch hoffe, dass man diese Geschichte noch lesen wird, wenn man Guildo Horn nicht mehr kennt: er, Klaus, sah irgendwann irgendwie so aus wie eben dieser Guildo Horn in den Neunzigern!
Da war es endlich so weit! Der Friseur schnitt ihm auf der rechten Kopfseite die Haare wieder auf Normallänge und kämmte - mit viel Geschick, viel Erfahrung, viel Können und noch mehr Gel - das Resthaar von der linken Seite quer über den kahlen Schädel nach rechts. Klaus' "Platte" war damit wieder vor Kälte und den abschätzenden Blicken seiner Frau und Anderer geschützt - und nicht nur das: er fühlte sich um mindestens zehn Jahre verjüngt ... mindestens ...
Klaus war wieder (oder noch?) jung!
Karin gefiel das nicht, denn sie fand es einfach "albern", wie sie sagte. "Also weißt du...", begann sie, "...entweder stehst du zu deinem Alter, deinen Hormonen und deinem Aussehen oder du kaufst dir ein vernünftiges Toupet! - Aber so? - Nein, also wirklich!! Du bist nun mal so alt wie du bist!!"
Ein Toupet? - Oder gar eine Glatze? Nein, das Eine wäre das Letzte und das Andere das Allerletzte! - Oder wäre ein Toupet vielleicht doch eine Alternative? - Oder vielleicht doch nicht? - Oder zumindest nicht jetzt, wo er das gegenüber seiner Frau so vehement abgelehnt hatte? Konnte er da einen Rückzieher machen? - Ja, irgendwie fühlte er sich ja auch nicht ganz wohl in seiner Haut, und irgendwo hatte sie ja auch Recht. Ein wenig albern sah das schon aus, das mit dem "falsch" herüber gekämmten Haar.
Aber jetzt Schwäche zeigen? - Nie und nimmer! Zumindest für eine Weile würde sie sich mit seinem jetzigen Aussehen abfinden müssen ...
Am Morgen seines Geburtstages - bald darauf - lag neben seinem Lebenslicht, das Karin ihm angezündet hatte, ein Umschlag. Und in dem Umschlag fand er einen Gutschein von "Hair & Style" für ... ein Toupet im Wert von ... (der Betrag war mit dickem Filzstift unkenntlich gemacht).
"Sei so lieb und lös' ihn ein, auch wenn es für mich immer noch nur die zweitbeste Lösung ist", meinte Karin.
Nun konnte er wohl doch nicht mehr anders. Na ja, wie gesagt, so richtig wohl gefühlt hatte er sich ja auch nicht mit seiner "Frisur"! Vielleicht erlaubte der Gutschein ihm ja so eine andere Lösung. Eine Lösung, bei der er sogar sein Gesicht nicht würde verlieren müssen und die ihn von seinem misslichen Zustand befreien würde. Doch er zweifelte nach wie vor. Schließlich hatte er im Brustton der Überzeugung zu einem Toupet vorher "NIE!!" gesagt (mit zwei Ausrufezeichen). Und "NIE"
hieß nun mal "NIE", hieß "never ever" und das - wie gesagt - mit zwei Ausrufezeichen. Er konnte doch so schnell nicht klein beigeben!? - Und wieso eigentlich war es für Karin ohnehin die "zweitbeste" Lösung? - Es gab keine andere, geschweige denn eine bessere!
Zumindest nicht für ihn, denn in seinem Herzen fühlte er immer noch jugendlich. Jugendlich und Glatze schließen einander aber nun mal aus, meinte Klaus.
Es dauerte eine geraume Zeit und es brauchte manchen stumm-vorwurfsvollen Blick von Karin, bis er sich endlich durchringen konnte, zumindest mal bei "Hair & Style" ins Fenster zu schauen. - Aber nur so mit einem Seitenblick ... so im Vorübergehen ... Er brauchte doch eigentlich kein Toupet! - Und was er da so auf den Styroporköpfen sah, das motivierte ihn keineswegs, den Laden zu betreten. Doch er hatte ja noch Bedenkzeit. Das Verfallsdatum des Gutscheins war ja immer noch "in weiter Ferne",
so meinte er. "Weite Ferne" waren vierzehn Tage. Bis dahin lief die Sonderaktion von "Hair & Style"
"Entweder du nimmst mein Geschenk jetzt endlich an oder der Gutschein verfällt. Zuzahlen tu' ich jedenfalls nicht. War so schon teuer genug!", meinte Karin fest und bestimmt.
Klaus spürte nun doppelzentnerschwer die Last, den Druck auf sich ruhen, als er zwei Tage vor "Toresschluss" den Laden betrat, erwartend, man würde ihn auslachen, bespötteln oder gar bemitleiden. - Nichts dergleichen geschah. Man suchte gemeinsam mit ihm eine halbwegs passende "Plattenbedeckung" aus, an der man nicht mehr allzu viel würde "feilen" müssen. In zwei, drei Tagen waren auch die Anpassungs- und Nacharbeiten erledigt und er konnte sich seine jugendlichkeitsfördernde Neuerwerbung
über sein gestutztes Echthaar stülpen lassen. Im Spiegel kam er sich fremd vor und auch seine Kopfhaut schien sich kribbelnd gegen diesen "Fremdkörper" zu wehren.
Das "Na ja, is' ja gar nich' so übel." von Karin kündete zwar von Akzeptanz, nicht aber von Zufriedenheit oder gar Begeisterung. Das spürte er wohl!
Es war Frühling und mit ihm kam die Gartenarbeit. Klaus rackerte, grub und hackte, harkte, wühlte in der Erde, säte, pflanzte und schnitt, was beschnitten werden musste und ... schwitzte. Vor allem unter dem Toupet schwitzte er so sehr, dass sich schnell heftiger Juckreiz bemerkbar machte. Auf Dauer half auch intensives Kratzen nicht, zumal dabei jedes Mal sein Ersatzteil unelegant verrutschte. Also nahm er es ab und legte es beiseite. Genüsslich rieb er sich danach die "Platte" trocken, und der Juckreiz
schwand. Frischer Wind kühlte angenehm seine geplagte Kopfhaut. Richtiggehend erleichtert arbeitete Klaus weiter bis zum Abend, als Karin ihn zum Essen rief. Sie sah ihn an, ihren fast kahlköpfigen Mann, sagte aber nichts. Kein Wort der Kritik, kein Wort des Tadels, keine Spöttelei und keine Frage nach dem Toupet. Vielmehr huschte ein liebevolles Lächeln über ihr Gesicht, als sie ihm zärtlich über den Kopf strich. Klaus empfand das als überaus angenehm, ohne dass ihm im Moment seine Kahlköpfigkeit bewusst war.
Der gemeinsame Fernsehabend war zu Ende und man ging ins Bett. Im Bett trug er das Toupet sowieso nie, also vermisste er es auch nicht. Auch nicht, als er am nächsten Tag - es war ein Sonntag - mit seiner Gartenarbeit fortfuhr. Erst am Montagmorgen, als er wieder zum Dienst musste, da vermisste er sein "Ersatzteil". Doch es musste ja noch auf der Bank im Garten ...
"Karin. - Karin! - Karin, was mach' ich nur? Auf meinem Toupet sitz eine Drossel und geht auch nicht weg. Die scheint das zu ihrem Nest gemacht zu haben. Da liegen auch Federn drin." - Karin lachte: "Na, dann hab' ich ja endlich einen Verbündeten!" - "Ich kann doch so ..." Klaus wies auf seine "Platte" "... nicht zum Dienst! Was sollen die Kollegen und Kolleginnen denn denken?" - "Gar nichts. Höchstens dass du endlich zur Vernunft gekommen bist und zu deinem
Alter stehst, deiner Eitelkeit abgeschworen hast und deinem ewigen Jugendlichkeitswahn!" - "Ja aber....." - "Nichts aber! - Du wirst schon sehen. - Es wird jetzt übrigens langsam Zeit für Dich! Tschüß - bis heut' Abend!"
Erst, als ein Kollege nach dem anderen, eine Kollegin nach der anderen im über seine Glatze gestrichen hatte und dabei "Endlich!" sagten, erst da beruhigte er sich und genoss sogar die allseitige, offenkundige Anerkennung und Bewunderung.
Die Drossel brütete in seinem Toupet sechs Eier aus. Prächtig gedieh die Brut. Auch dank der beschützenden Wärme seines Haarteils. Klaus vermisste es nicht mehr und auch nicht die "verkehrt" gekämmten Haare.
Sein Resthaar, seinen Haarkranz, ja, den pflegte er noch so lange und so gut wie es eben ging, ließ es aber nie wieder lang wachsen.
Auch innerlich war er endlich da angekommen, wo er hingehörte: in das siebenundfünfzigste Lebensjahr.
Und er fühlte sich sogar wohl dabei.
Eingereicht am 11. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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