Abenteuer im Frisiersalon. Kurzgeschichten aus dem Internet. Edition www.online-roman.de  Dr. Ronald Henss Verlag, Saarbrücken.  160 Seiten 10 Euro ISBN 3-9809336-0-1
ISBN 3-9809336-0-1

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Trichotillomanie
(Haarrupfsucht; engl.: trichotillomania)

Von Günther Grabherr


Da ist nur ein Summen, weit weg und doch sehr nah. Da ist nur der Nebel, dicht und schwer. Als das Summen verstummte und der Nebel sich verzog gab es nur die Realität, kalt und grau. Sie spürt jetzt das Hämmern hinter den Kniescheiben, zu lange kniet sie schon auf den Holzdielen in ihrem kleinen Zimmer. Es ist das gleiche Gefühl wie damals als sie nach solchen Attacken in die kleine Kapelle stürmte um auf den harten Kniebänken für ihre Sünden zu büßen. Es ist das selbe Brennen wie einst und es ist das selbe Vergehen wie einst. Natürlich ist es keine Sünde, vielmehr eine Krankheit, aber Gedanken sind manipulativ und verwirren mit den falschen Impulsen. Langsam steht sie auf und versucht das Ausmaß dieser Aktion einzuordnen - zu verstehen. Es lief doch alles so gut. Die Gesprächstherapie fing an Sinn zu machen. Auch die Therapeutin war eine ganz entspannte und menschliche Person, zu der sie schnell den richtigen Zugang fand. Das war eine viel bessere Erfahrung als dieses seltsame "Habit Reversal Training", der erste Versuch eine Verhaltenstherapie durchzuziehen. Das war überhaupt nix, und als ihr ein Artikel in die Hände fiel, brach sie die Geschichte von heute auf morgen ab.
Inwieweit das "Habit Reversal Training" - eine verhaltenstherapeutische Technik, bei der die Patienten versuchen, statt des Tics eine andere Bewegung zu vollführen bzw. Tics umzuleiten - effektiv in der Behandlung von Tics ist, muss mit Hilfe weiterer Studien überprüft werden. Entspannungsverfahren (wie Autogenes Training oder Progressive Muskelrelaxation) können allenfalls eine kurzanhaltende Symptomreduktion erzielen, die vermutlich durch eine unspezifische Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens zu erklären ist.
Bei der medikamentösen Therapie kam sie auch nicht weit, da die Serotoninhemmer sich nur durch derbe Nebenwirkungen - extreme Müdigkeit und Schlafstörungen - hervortaten. Eben wegen diesen Erfahrungen fühlt sie sich bei der jetzigen Therapeutin so wohlig warm aufgehoben, und nun dieser schlimme Rückfall. Danach macht sich immer eine bitterböse Ironie bei ihr breit, so lässt es sich besser verarbeiten. Das Ergebnis liegt nun vor ihr und es sieht aus wie in einem Gemischtwarenladen für Haare. Heute im Sonderangebot: Kopfhaare, Schamhaare sowie Augenbrauen und eine Wimper. Sie verlässt das kleine Zimmer und bewegt sich mit kleinen schleppenden Schritten Richtung Bad um sich dort ihrem Spiegelbild zu stellen. Der Spiegel ist nicht ihr Freund, es erfordert großen Mut, aber das heute war zu verhängnisvoll um es stillschweigend zu ignorieren, sie muss sich der Tatsache hingeben. So muss sich eine Milchkuh vor dem Elektrotod fühlen, schießt es ihr durch den Kopf. Sie klappt die Seitenflügel des Spiegels auf um durch diese Perspektive einen besseren Blick auf die hintere Partie des Kopfes zu bekommen. Die Kopfhaut brennt noch, die Lücken sind erkennbar dennoch wird sie wieder Möglichkeiten zur Vertuschung finden. Zurück im Zimmer, mit zittrigen Händen widmet sie sich dem großen Finale.
Sie kniet nieder auf den Holzboden und macht sich daran das Unheil zu beseitigen. Für die Verhaltenstherapie muss sie die ausgerupften Haare in einem Briefumschlag aufbewahren und ein Tagebuch führen. Die peinlichen Momente, die sie bei jeder Sitzung verspürt, sind natürlich ein gewolltes Druckmittel der Therapeutin um den gewünschten Erfolg zu erzielen. Bevor sie aber die einzelnen Haare im Briefumschlag verschwinden lässt, stillt sie das aufkommende Verlangen, das sich durch ein Gefühl, so stark - stärker als jede sexuelle Erregung äußert. So nimmt sie also erst jedes einzelne Haar zwischen Daumen und Zeigefinger und führt es mit der Wurzel über ihre Lippen, weil das feuchte Gefühl sehr wichtig ist. Dieser Prozess verläuft sehr bedächtig und wird durch das Abbeißen der Wurzel abgerundet. Während des Rituals bekommt sie nicht das geringste mit, ein tiefer Trancezustand macht sich breit. Ganz am Anfang, mit 16 Jahren als es anfing, konnte sie nur während eines solchen Zustandes ihren Höhepunkt bei der Masturbation erreichen, und noch heute braucht es einen masochistischen Background beim Liebesspiel. Langsam finden ihre Gedanken den Weg zurück in die Wirklichkeit, in die kalte, graue Realität. Nun spürt sie nur noch Traurigkeit und tiefste Depression aufsteigen. Heute Abend wird sie wieder ganz normal bei ihren Freunden sitzen und niemand hat auch nur den Hauch von einer Ahnung, das Vertuschen kostet am meisten Kraft. Sie möchte doch nur eine ganz normale Frau sein. Schnell ins Bad die Tränen abwischen und weitermachen wie jeden Tag.




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Eingereicht am 26. April 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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