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Zauberhaar

Von Simone Laub


Die Mutter weiß es nicht mehr, doch ich erinnere mich noch immer an jene glücklichen Tage, über die ich heute mit Fug und Recht sagen kann, dass es die Tage des Zaubers waren. Jenes Zaubers, der in meinen Haaren wohnte, als ich ein junges Mädchen war.
Annagret Berg, die Frau, die mich einst als nahezu haarloses Wesen an ihre ebensolche Brust gedrückt und geherzt hatte, erinnert sich wohl tatsächlich nicht mehr an die Zauberhaare ihrer Tochter. Das soll nicht vorwurfsvoll klingen, es ist nur merkwürdig, denn sie war den magischen Kräften meines Haares genauso verfallen gewesen wie alle anderen.
"Sina", sagte sie immer, während ihre fast durchscheinende, blaugeäderte Hand geistesabwesend über meinen Kopf strich, "Sina, ich bin so völlig entspannt und voller Frieden, wenn ich dein Haar fühlen kann. Wie kommt das nur?" Das wusste ich auch nicht, ich spürte nur, dass es mit meinen Haaren eine besondere Bewandtnis hatte. Mit Abstand betrachtet, waren sie allerdings auch das Einzige, das mich schmückte: die Nase eine Spur zu kurz, die Lippen etwas zu voll, das Kinn nicht besonders ausgeprägt, die Figur, nun ja.
Doch was sich da um meinen Kopf kringelte, sich frech ganz nach Belieben zu hübschen Locken formte, mit einer Farbe wie fließendes Gold - das war meine Pracht von Haar, mein Kapital, das mich als wahren Schatz erkennbar machte.
Im Kindergarten versuchten meine kleinen Freundinnen mit Bastelscheren, mir ein paar Strähnen abzusäbeln, um sie in ihr Kopfkissen zu stecken (für die Haarfee) oder es gleich direkt mit ordentlich viel Kleber an die eigenen Haare zu pappen. Als Extensions sozusagen. Die Erzieherinnen erlagen reihenweise dem allerliebsten Blondschopf, selbst wenn das Lockenköpfchen gerade der kleinen Katarina ein Bein gestellt hatte und diese bitterlich um ihre blümchenbestickten Strumpfhosen weinte, oder wenn ich mal wieder mit den mutigsten Jungs um die Hängematte kämpfte und keinen Hehl daraus machte, dass ich für die Eroberung über Leichen zu gehen bereit gewesen wäre.
Für jemanden, dessen Haare in der Lage sind, Menschen zu betören, zu faszinieren und den Wunsch zu wecken, gesunde Locken um den Finger zu rollen, um zu betrachten, wie sie wieder zurück in die Freiheit schnellen, ging ich mit meinem Schatz recht locker um. Ich kaute gern lässig auf der vorderen extralangen Strähne, wischte mir hin und wieder mit der haarigen Serviette den Mund, im Notfall auch die Nase ab und verzichtete auf das morgendliche Kämmen, wenn es Wichtigeres zu erledigen gab.
Die Haarpflege ist im Übrigen ein weiterer Beweis, dass mir auf phantastische Weise ein Wunder auf dem Kopf wuchs: Meine Haare ließen sich nämlich immer bürsten, ohne zu ziepen oder zu verknoten. Wenn ich mit dem Wind um die Wette über die Deiche rannte und die goldene Fahne hinter mir hisste, fühlten sie sich später am Kamin an wie Seide. Wenn ich nach einem wilden Traum morgens verschwitzt aus den zerknüllten Laken zu Mama ins Bett flüchtete, sahen meine Haare aus, als seien sie soeben mit Hingabe gestriegelt worden.
Es musste wohl so sein, dass mir allein Zauberhaar beschert war. Ich zog zwar meine Vorteile daraus, aber ich nutzte die geheimnisvolle Kraft nicht so schamlos aus wie manches hübsche Gesichtchen, das das vor dem Spiegel heimlich geprobte Schmollmündchen jederzeit bereit war aufzusetzen, um seinen Willen zu bekommen.
Natürlich konnte das kleine Mädchen Sina nicht ahnen, welche Vorzüge dem Teenager Sina aus dem güldenen Kopfschmuck entstehen würden. Aber es kam der Tag, an dem ich zum ersten Mal zur Tanzstunde erschien. Und da machte ich große Augen: Hier gab es deutlich mehr zauberhafte Debütantinnen als ich je geahnt hatte. Mädchen mit Beinen so lang wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Blondinen in richtigen Prinzessinnenkleidern. Dunkelhaarige Schönheiten, deren Gesichter so fein geschnitten waren wie die meiner Püppchen. Erscheinungen, die anmutig vor den nervös kichernden Jünglingen auf und ab flanierten, um das Angebot zu sondieren. Ich dagegen traute mich kaum aufzuschauen und war gleichzeitig wie gebannt von all den frischen Rosen um mich herum. Doch meine Sorgen, nun, wenn auch mit herrlichem Haar gesegnet, so immer noch äußerst unspektakulär im Auftritt, als Mauerblümchen mein Dasein fristen zu müssen, waren unbegründet. Denn der mit neckischem Toupet gekrönte Tanzlehrer rief zur Herrenwahl und dann brach tatsächlich ein Tumult los. Es dauerte relativ lange, bis ich verstand, warum: Der Blonde mit dem markanten Gesicht hatte sich sofort auf mich gestürzt, ein kleiner, dicker mit braunen fettigen Haaren rannte "Die is' mir!" brüllend einen schlaksigen Jüngling über den Haufen, ein zweiter mit Pickeln Übersäter stürzte auf ihn, während ein Dunkelhaariger beidhändig die Konkurrenten aus dem Weg fegte und schließlich seelenruhig vor mir stehen blieb, um mir die Hand zu reichen.
"Jens," sagte er. "Und Du?" Vor Überraschung und zutiefst verunsichert durch die empörten Blicke meiner Tanzkolleginnen blieb ich stumm. "Na?" Er war geduldig und wohl selbst kein Mensch der großen Worte, jedenfalls nahm er einfach meine Hand und führte mich auf das Parkett. Die anderen Mädels blieben noch kurz sprachlos, dann war die Wahl gelaufen und mein Zauberhaar hatte den attraktivsten Tanzpartner des Kurses im Sturm erobert.
Auch wenn er heute abstreitet, dass es einzig mein Haar gewesen ist, das ihn zielstrebig zu mir geführt hatte, auch wenn ich heute schon längst stolz einen praktischen Kurzhaarschnitt trage, so ist mir doch an jedem Tag in den letzten 20 Jahren bewusst gewesen, dass unsere Liebe wie auch die daraus entstandene Familie ihren Ursprung in jenem Kopfschmuck hat, in meinem Zauberhaar…



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