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Opa Willi's neue Haarpracht

Eine Kurzgeschichte von Heidrun Gemähling


Das Leben in der Straße schien seit bald fünfzig Jahren stehengeblieben zu sein. Jeder kannte jeden und alle wussten alles vom Nachbarn, auch wenn er weiter entfernt wohnte. In diesem Stadtviertel gab es nur einen Frisör, zu dem die Bewohner der Umgebung gingen. Dort wurde geklatscht und getratscht, die neuesten Neuigkeiten machten dort schnellstens ihre Runde. Gegenüber in dem dreistöckigen Haus wohnte die Familie Lohmann, zu der die Eltern, der Opa Willi und die Enkelin Marie gehörten. Ihre Wohnung hatten sie im Erdgeschoss, und bei schönem Wetter waren die Fenster zur Straße weit geöffnet, damit Opa Willi das Treiben auf der Straße genau verfolgen konnte. Oft und gerne platzierte er sein schreiendbuntes Sofakissen auf die Fensterbank, stützte sich mit den Ellenbogen darauf, um möglichst lange mit den Anwohnern plaudern zu können oder um genau zu beobachten, wer drüben den Frisörsalon besucht und wieder verlässt. Seit Jahren war er bereits Rentner und jedem, der es hören wollte und sollte, schwärmte er begeistert von seiner Sturm- und Drangzeit in seiner Jugend vor, vom wilden "Rock'n Roll" und natürlich von Bill Haley mit seiner Schmalzlocke. Seit vielen Jahren hatte er bereits eine Glatze und seine Sehnsucht galt seiner nur noch in der Erinnerung bestehenden Haarpracht mit der Bill-Haley-Locke. Marie hörte sich gerne all die Geschichten an, aber sie wusste auch, dass ihr Opa gerne Wahrheiten mit Phantasie vermischte, doch das störte sie nicht. Er erzählte ihr genau, wie des Sängers Frisur aussah, wie er seine eigene Schmalzlocke gestaltete und sorgsam pflegte, um den Mädchen zu gefallen. Wie oft hatte sie diese Geschichte wohl schon gehört! Plötzlich hatte sie eine Idee.
So spazierte sie eines Tages über die Straße und sah lange durch die Fensterscheibe in das Frisörgeschäft, sah die Menschen unter Hauben sitzen, sah wie die Männer rasiert wurden und wie ihnen die Haare geschnitten wurden. Eine junge Frau mit langen dunklen Haaren ging forschen Schrittes an ihr vorbei und öffnete unsicher die Tür. Sie sprach mit der Chefin und deutete an, dass sie die Haare abgeschnitten haben möchte. Das war nun Maries Chance, und sie wartete weiter geduldig vor der Fensterscheibe. Zum Glück konnte Opa Willi sie nicht sehen, denn er hielt seinen gewohnten langen Mittagsschlaf. Dann war es soweit, die abgeschnittenen Haare lagen auf dem Boden, und die junge Frau schaute nicht nach unten, denn es schien sie eine große Überwindung gekostet zu haben, ihre langen Haare zu verlieren. Als sie das Geschäft verließ, machte sie jedoch einen recht zufriedenen Eindruck. Sogleich ging Marie hinein, wandte sich an die Chefin und zeigte aufgeregt zu den am Boden liegenden Haaren.
"Darf ich die haben?", fragte sie bettelnd und nahm einen Büschel davon in ihre kleine Hand.
"Was willst Du denn mit den Haaren?" fragte skeptisch die Chefin.
"Es soll eine Überraschung werden, vielleicht für die ganze Straße!", entgegnete sie mit fester Stimme.
"Na, dann nimm sie alle mit und zeige mir aber deine Überraschung, wenn es soweit ist!", konnte die Chefin nur noch hinterher rufen, denn Marie war schon fast zur Tür hinaus.
Ihr Plan ging nun weiter und dazu brauchte sie ein Stück Stoff aus der Flickenkiste der Mutter, eine Tube Uhu und zwei Schleifen. Jeden Tag zur Schlafenszeit des Opas bastelte sie an den Haaren nach dem beschriebenen Muster von Bill Haley. Dicht an dicht klebte sie die Haarbüschel auf den ausgeschnittenen Stoff, dessen Maße sie sich während Opas Mittagsschlaf verschafft hatte. Nach und nach gestaltete sich eine Perücke und die berühmte Schmalzlocke an der Stirnseite gelang ihr auch recht gut. An beide Seiten nähte sie ihre beiden roten Schleifen fest. So, nun ging ihr Plan dem Ende entgegen und der Überraschungsmoment sollte folgen.
Opa Willi saß wie immer schlummernd in seinem alten Ohrensessel und schnarchte vor sich hin. Ganz ganz vorsichtig setzte Marie den haarigen Stoff auf die Glatze, zupfte die Locke vorsichtig auf der Stirn in Form, machte mit den seitlich angenähten Bändern eine Schleife unterm Kinn und holte den Spiegel von der Wand. Die Spiegelseite drehte sie zum schlafenden Willi und wartete still vor ihm auf den spannenden Augenblick.
Dann war es soweit und Opas Augen öffneten sich, erstarrten fast vor Schreck, aber dann setzte ein unheimlich lautes Lachen ein. Er sprang mit einem Satz zum Schrank, nahm die Bill-Haley-Platte heraus und legte sie auf den Plattenspieler ganz in der Nähe. Marie stand wie angewurzelt, noch immer mit dem Spiegel in der Hand, und schaute dem wildgewordenen Willi zu. Der öffnete wie immer das Fenster und Rock'n Roll-Musik schallte laut durch die ganze Straße. Aber das nicht genug, denn nun legte Opa Willi einen flotten Rock'n Roll aufs Parkett und war kaum zu bändigen.
Mutter Lohmann kam gerade vom Einkaufen um die Ecke und traute ihren Augen nicht, als sie den Auflauf von Menschen vor ihrem Fenster sah. Doch bald entdeckte auch sie des Rätsels Lösung und ließ vor lauter Lachen ihre Einkaufstasche fallen.
"Aber Opa, was macht Du für Sachen! Was hast Du da bloß auf dem Kopf?", rief wiederholt Frau Lohman.
Immer wieder legte er die gleiche Platte auf und die Bewohner der Umgebung kamen eilig herbeigelaufen um den rockenden Alten zu sehen. Sie bogen und kringelten sich vor Lachen und Begeisterung, klatschten rhythmisch in die Hände oder nahmen sich einen Partner und tanzten mit. Das blieb den Leuten im Frisörgeschäft nicht verborgen, sie verließen die Frisörstühle mitsamt Umhang und Lockenwicklern, johlten und hielten sich vor Lachen die Bäuche, als sie den Bill-Haley-Opa rocken sahen. Das war wirklich eine Überraschung für alle Bewohner.
Seit diesem Tag standen jeden Nachmittag viele vor dem Fenster und wollten Opa Willi's neue Haarpracht sehen und natürlich seine Bill-Haley-Musik hören, die alles in Schwung brachte. Das Lachen setzte schlagartig ein, wenn die Rockmusik ertönte und der nachgemachte Bill Haley seine Runden rockte. Stolz zeigte er jedes Mal auf seine kleine Marie und dann auf seine Haare, die ihn zurück in seine Jugendzeit versetzten. Schon bald war der Spruch in aller Munde "Wenn Du mal traurig bist dann geh zu Opa Willi, dann kannst Du wieder lachen!"



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