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Ballspiele

© Jörg Sprave


Mit einem dumpfen Ton klappte ich die dicke Gesetzessammlung zu. "Stiftungsgesetz mit Kommentar" - wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ich mich mit diesem Werk befassen würde?
Aber gestatten Sie mir, mich vorzustellen. Heinrich Kramer, 55 Jahre, ehemals erfolgreicher Fußballlehrer. Ehemals - ja, das waren noch Zeiten. Deutscher Meister, zweimal Vizemeister, internationale Turniere. Dann die Misserfolge - Streit mit dem Verband wegen angeblich "ketzerischer" Äußerungen - meine Zeit im arabischen Ausland, dem Abstellgleis glückloser Trainer - und jetzt Vorruhestand in Deutschland.
Meine junge, hübsche Frau Isabel hatte mich konsequenterweise verlassen und ihr Anwalt hatte für ihr Auskommen gesorgt. Ich dagegen schlug mich mit gelegentlichen Talkauftritten oder als Co-Kommentator beim Privatfernsehen durch. Die Zeit des Glamours war vorbei.
Oder - schien vorbei?
Der Brief kam Donnerstagmorgen. Ein großer brauner Umschlag, abgestempelt in Frankfurt. Ganz genau die Sorte Post, die schlechte Neuigkeiten in Form anwaltlicher Schreiben enthält. Mit einem Seufzen unterdrückte ich den Impuls, das Ding wegzuwerfen und öffnete den Umschlag mit meinem Buttermesser.
Der Inhalt war ganz, ganz anders als erwartet. Ein offensichtlich reicher Mann mit dem nichtssagenden Namen Kurt Maler war gestorben und hatte sein Vermögen einer Stiftung vermacht. Seiner Stiftung.
50 Millionen Euro - und das Beste: Ich sollte der Geschäftsführer der Stiftung sein, bei einem Gehalt von 350 Tausend Euro pro Jahr. Das waren gute Nachrichten. Verdammt gute sogar!
Aber die Stiftung hatte es in sich. Aus dem Juristenkauderwelsch der beiliegenden Satzung konnte ich nicht viel entnehmen, aber der Frankfurter Notar, Dr. Wolters, würde mir sicher mehr dazu sagen können.
350 Riesen - das könnte ein schöner Neuanfang werden. Ich träumte in dieser Nacht von einem geruhsamen Leben als Chef einer Stiftung. Schon die Bezeichnung selbst hörte sich einfach wunderbar an. Stiftung, das klang nach Unkündbarkeit, Beständigkeit, Wohlstand und Prestige. Genau das richtige für mich nach all den Unruhen der letzten Jahre.
Dr. Wolters entpuppte sich als beleibter, aber eleganter Mann Ende Fünfzig. Er saß mir gegenüber und lehnte sich in seinem braunen Ledersessel zurück.
"Freut mich wirklich, Sie einmal persönlich kennen zu lernen, Herr Kramer. Ich war immer ein treuer Bewunderer Ihrer Arbeit". Jaja, geschenkt - und dennoch fühlte ich mich geschmeichelt. "Kommen wir zu Sache", drängelte ich. Ich wollte nun endlich wissen, um was es eigentlich ging.
Kurt Maler war zu Lebzeiten ein erfolgreicher Industriebaron - und Fußballfan. Dr. Wolters kannte ihn offenbar näher.
"Er hat den Fußball geliebt und gehasst. Als junger Mann spielte er selbst, und viele Jahre war er sogar Funktionär beim DFB. Doch dann ... vieles hat ihn gestört. Die Spielermillionäre, die nur noch ihren Verdienst sahen, Vereine, die zu Aktiengesellschaften wurden, und die Auswirkungen, die das alles auf die Spielweise hatte. Und irgendwann ist ihm dann die Idee der Stiftung gekommen", sagte Wolters und trank einen Schluck des starken Kaffees - die gleiche Brühe hatte er mir auch eingeschenkt. "Er hatte keine direkten Erben. Entfernte Verwandte ohne Pflichtanteil, ja, die gibt es, Sie werden sie früh genug kennen lernen, denn sie gehen leer aus. Herr Maler wollte sein Vermögen dem Fußball vermachen. Aber einem besonderen Fußball - seiner Vorstellung davon", und dann skizzierte der Notar den Traum seines Mandanten.
Deshalb saß ich nun da an meinem Küchentisch und las über Stiftungen nach. Was der liebe Herr Maler da ausgetüftelt hatte war nicht von schlechten Eltern. Mehr als das - es war komplett unrealistisch, und ich sah meinen Traum vom Stiftungsleiter baden gehen.
Die Stiftung sollte eine komplett neue Liga gründen und unterhalten. Eine Liga, in der ein Fußball mit vollständig anderen Regeln gespielt werden sollte. Das ganze war mit einem Wust an Klauseln festgeschrieben. Ein Fußball mit einem schnellerem Ablauf, einfachen Regeln, einer vollständig leistungsgerechten Bezahlung der Spieler. Sicher, es gab einen gewissen Spielraum, und zwei Jahre Vorbereitungszeit bis zur ersten Spielzeit wurden mir zugestanden. Ich goss mir einen Cognac ein.
Schlürf. Natürlich war das Vorhaben komplett undurchführbar. 50 Millionen - in der Bundesliga gab es Spieler, die in zwei Jahren mehr verdienten als das! Ich nippte am Glas. Aber zwei Jahre bedeuteten 700 große Scheine. Schluck. 10 Mannschaften - na ja, wo stand geschrieben, dass elf Spieler gebraucht wurden? Ich schenkte nach. Jetzt war der Schluck schon größer. Ich konnte ja versuchen, Lücken in der Satzung zu finden! So langsam sah ich Perspektiven. Ja, ich würde mir einen ausgebufften Anwalt nehmen und die Stiftung ordentlich ausnehmen!
Die Flasche war leer. Ich öffnete den Kühlschrank. Mal sehen, was an Alkoholika noch da war.
Am nächsten Morgen wachte ich mit Kater und Übelkeit auf. Mir ging es grauenvoll, aber der Entschluss war gefasst: Ich würde die Sache durchziehen. Aber was blieb mir übrig? Nicht dass ich eine Riesenalternative gehabt hätte.
Max Meineke war der Anwalt meiner Wahl. Ich hatte mit etlichen Kandidaten gesprochen, aber mir war klar dass ich mit dem Mann viel Zeit verbringen musste. Es galt, neben legalen Dingen auch viele schmutzige Winkelzüge zu planen und durchzuführen.
Max war schlank, um die Dreißig, stets leicht unrasiert und irgendwie ein bisschen aalglatt. Genau was ich brauchte.
"Hmmmm...", brummte er. "Das kriegen wir schon hin. Geile Sache - fünfzig Mios und zwei Jahre Zeit! Gib mir mal ein paar Tage Zeit, um die Satzung zu knacken - und um unseren Mandatsvertrag zu schreiben".
Also waren wir jetzt schon per Du - na ja, in meinem Sport war das normal. Ich hatte das Gefühl, in guten Händen zu sein. Und ich sollte nicht enttäuscht werden.
Einige Tage später saßen wir beim Bier in einer kleinen, aber vollen Kneipe und redeten uns die Köpfe heiß, während wir uns langsam betranken. "Der Maler hatte schon recht", sagte Max, und trank einen großen Schluck Pils. "Der Fußball ist vollkommen vor die Hunde gekommen. Faule Spielermillionäre, lahme Spiele. In einem Land wie den USA hat dieser Sport gegen Basketball und Baseball keine Schnitte. Ein paar Elemente aus dem Football würden auch uns ganz gut tun".
Während er das sagte, entstand in mir ein sonderbares Gefühl der Macht. Ich konnte es tun - ich konnte den Fußball verändern. So langsam kam mein eingerostetes Gehirn auf Trab.
"Die leistungsgerechte Bezahlung ist das leichteste. Wir gründen eine Jury, die die Spielerleistungen bewertet. Angesehene Fachleute, die ..." "Quatsch!", unterbrach ich ihn. "Wir geben jedem Zuschauer ein kleines Wahlgerät. Er tippt damit die Rückennummer eines Spielers ein, der ihm gefallen hat. Oder auch eines Spielers, der Scheiße gebaut hat. Quasi im Rot/Grün-Prinzip."
"Und die Zuschauer zu Hause können per Internet wählen!", rief Max. So langsam kamen wir in Fahrt. "Und damit Spannung ins Spiel kommt, erklären wir einen 10 Meter Streifen rechts und links der Mittellinie zum regelfreien Raum. Was meinst Du, wie die rennen, um da durch zu kommen!".
"Ja klar, und Abseits ist erlaubt. Nur, dass die Linienrichter mit Paintball-Kugeln auf die abseits stehenden Spieler schießen. So wie beim Gotcha! Wer das aushält, der darf eben stehen bleiben."
Unsere Regeländerungen wurden immer zahlreicher. "Über Elfmeter wird nach Wiederholung der Szene auf Großleinwand per Zuschauerwahl entschieden", grölte Max, der nun schon sichtlich betrunken war.
"Klar", sagte ich, "überhaupt kann der Schiedsrichter nur noch das Spiel unterbrechen und die Strafe vorschlagen. Die Zuschauer entscheiden! Freistoß, gelbe und rote Karten. Alles Zuschauersache!".
Und so ging es weiter bis tief in die Nacht hinein.
Am nächsten Morgen fand ich beim Taschenentleeren meiner nach kaltem Tabakrauch müffelnden Jeans den Zettel mit Notizen, den wir im Suff verfasst hatten. Zuerst war mit das Lesen etwas peinlich, wie so häufig, wenn man nüchtern Dinge betrachtet, die man besoffen getan hat. Aber dann kam ich doch ins überlegen.
Die Sache mit dem Zuschauerentscheid war natürlich Quatsch. Es würde immer die Heimmannschaft den Vorteil erhalten. Und das ganze würde viel zu lange dauern, das Spiel nur aufhalten. Gut gefiel mir die Sache mit der Zuschauerbewertung. Man könnte zusammen mit der Eintrittskarte entweder einen elektronischen Abstimmer für die Gast- oder die Heimmannschaft erhalten. So wäre das ganze halbwegs neutral. Und die Idee mit dem regelfreien Mittelfeld war an sich nicht übel, nur viel zu drastisch. Abseits - ja, wer braucht das eigentlich?
Plötzlich wurde mir klar, dass ich mich innerlich entschieden hatte. Ich würde die Sache machen. Und ohne Abzocke, sondern im Sinne von Maler. Na ja, kleine Tricks würden schon sein müssen ... aber immer im Geiste der Stiftung!
Ich griff zum Telefon. "Dr. Wolters? Kramer hier. Ich mache die Sache. Was muss ich unterschreiben?"
Fast zwei Jahre später saß ich in meinem eigenem Büro, vor mir Max Meineke und Harry Patzek, mein alter Assistent und nun Mitstreiter. Noch zwei Wochen, dann war Anstoß im ersten Spiel der M-Liga. M für Maler, soviel Anstand musste sein. Hinter uns lagen viele Monate harter Arbeit, zäher Verhandlungen und endlosen Besprechungen. Von den Streitigkeiten vor Gericht mit den Möchtegern-Erben Malers mal ganz abgesehen - diese hatten zwar zunächst verloren, aber wenn wir die Satzung der Stiftung nicht makellos erfüllen würden, dann würden wir zweifellos wieder von den Onkeln und Neffen Malers hören. 50 Millionen waren ohne Zweifel eine fette Beute - obwohl, viel war nicht mehr da.
Während Max Statusberichte von allen Fronten vorlas, dachte ich im Stillen über die letzten 23 Monate nach. Hektisch, aber auch voller Spaß waren sie gewesen. Mein Name war bekannter den je, und neben eifriger Zustimmung gab es auch den einen oder anderen Hassbrief in meinem Postkasten. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
"Heini, habe ich was Lustiges gesagt, oder warum grinst Du so?", sagte Max, ganz der aufmerksame Beobachter. "Nein, nein, alles OK. Mach weiter", sagte ich. "Gut. Also die Sache mit den Wetten läuft, aber die Geräte kommen erst zum zweiten Spiel."
Die Sache mit den Wetten - ein Geniestreich von Max. Na gut, den ersten Anstoß hatte schon der Notar gegeben, aber die Umsetzung war eindeutig von Max erledigt worden. 50 Millionen sind gut und schön, aber wirklich weit kommt man nicht damit. Nicht in diesem Geschäft. Max als alter Zocker hatte sich mit dem Thema Wetten intensiv beschäftigt und einen namhaften Partner fest ins Boot geholt. Dieselben Wahlgeräte, die drahtlos eine Bewertung der Spieler durch die Stadionbesucher erlaubten, waren auch für Wetteinsätze vorbereitet. Auf dem Display wurden den Benutzern Wetten vorgeschlagen, auf die diese direkt eingehen konnten. Diese lukrative Zusatzeinnahme war nun fest im Budget eingeplant. Die kleinen Handy-ähnlichen Geräte waren weit komplexer als ich mir das vorgestellt hatte. Bei der Entwicklung, für die Max natürlich EU-Fördermittel zusätzlich aufgetrieben hatte, waren erhebliche Verzögerungen eingetreten.
Noch schwieriger waren die Verhandlungen mit Vereinen und Spielern gewesen. Es war uns aber schließlich gelungen, die laut Satzung mindestens erforderliche Zahl von 10 Vereinen aufzutreiben. Es waren meistens Regionalligisten, dritte Mannschaften größerer Vereine und abgestiegene Zweitbundesligisten, die dringend Finanzmittel brauchten. Aufgestockt wurde diese Gruppe durch einige Spieler aus dem American Football Bereich, um die neue Position des Mittelblockers zu erfüllen.
Diese Idee war uns nach langem Suchen gekommen, um das Spiel schneller und weniger mittelfeldbetont zu machen. Ein Streifen rechts und links der Mittellinie war von diesen hünenhaften Spezialisten besetzt, die in diesem Bereich (und sonst nirgendwo) gegnerische Spieler "tackeln" durften. Auf gut Deutsch: Willst du hier durch, versuche ich dich anzurempeln. Die Stürmer durften entsprechende Schutzkleidung tragen.
Einige erwähnenswerte Regeländerungen waren hinzugekommen. Kurze Zeitstrafen, die ohne Spielunterbrechung verhängt werden konnten, sollten Fouls eindämmen. 10 Spieler. Kein Unentschieden - nach 90 Minuten galt dann die Golden Goal Regel.
Die wichtigste Änderung aus Sicht der Spieler war aber natürlich die leistungsgerechte Bezahlung. Jeder Spieler erhielt das gleiche Grundgehalt, es entsprach in etwa dem eines Krankenhausarztes. Jede Zusatzleistung aber war von den Zuschauerentscheidungen abhängig. Es gab eine Gesamtprämiensumme, die unter den Spielern einer Mannschaft verteilt wurde, und zwar streng nach den errungenen Leistungspunkten. Dieses Konzept ließ sich gegenüber den Journalisten toll verkaufen.
Besondere Häufungen negativer oder positiver Bewertungen wurden sofort auf den Anzeigetafeln im Stadion öffentlich gemacht, mit einem Replay der entsprechenden Szene. Am Ende des Spieles gingen die Spieler einzeln in die Umkleidekabine, während ihr Name und dann die erreichten Punkte bekannt gegeben wurden. Dieses Element sollte die Spannung verstärken.
Die Stadien - ausnahmslos kleinere - waren ohne weiteres aufzutreiben, zumal wir in der Sommerpause starteten. Auch hier war die Presse und vor allem die TV-Sender schnell bereit, uns Aufmerksamkeit zu schenken. In dieser Sauregurkenzeit waren unsere Spiele hochwillkommen! Der Zeitpunkt war natürlich mit voller Absicht gewählt worden.
"Wir haben in jeder Stadt, in der die ersten Spiele starten, jede Menge freier Eintrittskarten verteilt. Die Ränge müssen voll sein!", schwärmte Max. "Heinrich, dir ist hoffentlich klar, dass die ersten Spiele die wichtigsten sind. Die Presse wird uns zerreißen, wenn die Sache nicht begeistert. Aber ich habe die Fans aus den Internet-Foren allesamt mit Freikarten ausgestattet. Die werden schon jubeln!"
Das Internet hatte sich ohnehin als absoluter Segen für unsere Liga erwiesen. Wie leicht es war, eine Gemeinde aufzubauen! Meine persönliche Publicity war auf diesem Medium aufgebaut. Zwei Stunden täglich beantwortete ich Fan-emails, war in den Foren online erreichbar. Das hatte mir haufenweise Interviews und Fernsehauftritte beschert.
Dabei hatten wir uns alle Mühe gegeben, unsere eigentlich äußerst knappe Finanzausstattung geheim zu halten. Die "Erbschaft" war in den Mythen viel größer geworden als in der Realität. Wir galten als steinreich - und das war gut so. Denn viele dringend benötigte Vereine und Personen konnten ihre beträchtliche Skepsis letztlich nur durch die Aussicht auf "die Kohlen" überwinden.
Ich trank einen Schluck Kaffee und schaute Max ins Gesicht, beobachtete seine Züge, während er seinen Monolog fortsetzte. Ich hörte nicht zu. Aber das Spiel der Falten um seinen Mundwinkel hielt meinen Blick gefangen und erinnerte mich an mein eigenes Alter.
Trotzdem, mit der Publicity war auch der Erfolg bei den Frauen zurückgekehrt. Isabel hatte sich gemeldet und baute mir goldene, dann diamantene Brücken, um ihr einen Neuanfang vorzuschlagen. Danke, Nein!
Statt dessen hatte ich ein Verhältnis mit einer Sportwissenschaftlerin angefangen, die sich um einen Job bei uns bemüht hatte. Zu dem Job kam es nicht, aber zu einem Abendessen mit anschließendem Kaffee in ihrer Wohnung. Ihren Namen, Lisa, konnte ich mir erst bei der zweiten Verabredung wirklich merken. Aber ihr Witz und ihre tiefe Einsicht in die Materie Fußball gefielen mir. Von den großartigen Titten ganz zu schweigen.
Das Leben war gut.
"... but I shot a man in Reno ... just to watch him die", sang Johnny Cash im Autoradio. Seltsam - manchmal hatte auch ich das Gefühl, die ganze Sache vor allem deshalb durchzuziehen, weil ich sehen wollte was passiert.
Ich war auf dem Weg zum ersten Spiel der M-Liga, in Duisburg. Mein neuer Dienstwagen, ein schicker A6, brummte zuverlässig über die A 43. Während ich auf der linken Spur dauerüberholte, ertappte ich mich beim Gedanken, wie viele der Leute zum Spiel wollten.
Wir hatten den Spielbeginn verschoben, bis die Wahlgeräte fertig waren. Alles war jetzt soweit! Gestern hatten wir eine Generalprobe mit 150 Freiwilligen durchgeführt, die in ein anschließendes Saufgelage ausgeartet war - die Idee mit dem Bezahlen der Getränkerechung war eindeutig schuld. Ich hatte mich nur mäßig beteiligt - und als Quittung für diese Zurückhaltung miserabel geschlafen.
Ich näherte mich dem Stadion und sah mit Erleichterung die Schlange vor dem Parkplatz. Klar, viele Besucher hatten nichts bezahlen müssen, aber ganz sicher gab es auch andere.
Die typischen Fernsehsender-Ü-Wagen auf dem VIP-Parkplatz verstärkten mein gutes Gefühl. Ich parkte, ein Sicherheitsmann öffnete meine Wagentür, ließ mich aussteigen und führte mich zum Eingang. Dort warteten -sehr klischeehaft - etliche Reporter, die mir auf Gut Glück Fragen zuriefen. "Herr Kramer, wie fühlt sich das an, eine eigene Sportart erfunden zu haben?", "Was sagen Sie zu den Zuschauerzahlen?"... so ging es weiter. Ich lächelte und eilte wortlos an der versammelten Journaille vorbei.
Als ich auf die Tribüne trat, sah ich auf ein volles, wenn auch kleines Stadion herab. Das war viel versprechend! Auf der Anzeigetafel wurde dem Publikum die Regeln noch mal in epischer Breite vorgetragen. Dann wurden die Mannschaften und Spieler vorgestellt. Und es ging los!
Der Anstoß erfolgte als Torwartabschlag, da die Mittelfeld-Blocker sonst im Weg gewesen wären. Trotz einigem Training gingen die Spieler der angreifenden Mannschaft etwas vorsichtig in die Mittelfeldzone, wo sie sogleich von den hünenhaften Blockern übel gerempelt wurden. Klatsch! Die Anzeigetafel übertrug den spektakulären Zusammenprall in riesigem Format, und die Menge johlte. Hektisch drückten die Zuschauer auf Ihren Geräten herum.
So recht wollte das Spiel nicht in Gang kommen. Den Zuschauern fiel das wahrscheinlich gar nicht so genau auf, denn sie waren mit dem kleinen Bewertungshandy und den neuen Regeln sehr beschäftigt. Naja.
Später dann die Nachbesprechung. "Die Wettleute sind sehr zufrieden - bessere Einnahmen als erwartet. Den Zuschauern hat's gefallen, soweit die ersten Befragungen kurz nach dem Spiel ergeben haben", sagte Max. "Das mit den Mittelfeldblockern klappt nicht", sagte ich. "Die machen das ganze Spiel kaputt. Wir müssen uns was anderes einfallen lassen".
Die Idee kam von Harry Patzek. "Warum nicht stattdessen Torschüsse zählen und wie kleine Tore werten? Dann würde Mittelfeldgeplänkel auch seltener werden". "Ja, aber was genau ist ein Torschuss?" "Na, wenn der Torhüter eingreifen muss.". "Und was ist eigentlich ein "kleines Tor?""
Wir arbeiteten die Lösung heraus. Jeder Eingriff des Torhüters sollte gezählt werden, und bei zehn Eingriffen sollte es einen Elfmeter für die gegnerische Mannschaft geben. Die Blocker entfielen.
Die Spielerbewertung hatte sich als absoluter Treffer erwiesen. Die zusätzliche Spannung war förmlich spürbar! Kein Zuschauer war eher gegangen, jeder wollte die Wertungen sehen.
Einige weitere kleine Änderungen waren geplant. Die Tore sollten näher zueinander rücken, um trotz Wegfalls der Blocker das Spiel im Mittelfeld schneller zu machen - ein Trick, den wir schamlos beim Hallenfußball geklaut hatten.
So langsam kam die Idee in Schwung. Die ersten Spieltage waren noch von einigen weiteren Regeländerungen begleitet, aber das Interesse der Zuschauer war nach wie vor hoch. Aber ein Problem wurde immer deutlicher: Es fehlte uns an Geld. Die 50 Millionen waren fast ausgegeben - und die Einnahmen aus den Eintrittsgeldern (plus die mageren Werbegelder) reichten einfach vorn und hinten nicht. Die Spielergehälter, die laufenden Kosten - mir wurde klar: So geht das nicht mehr lange weiter.
Und mittlerweile trafen immer hässlichere Briefe von den Anwälten der "Erben" ein. Sogar von "Privathaftung" meinerseits war die Rede. Ein unschönes Wort! Meineke verbrachte mehr und mehr Zeit auf den Gerichtsfluren, von den Schriftsätzen, die erforderlich waren, mal ganz zu schweigen.
Wir brauchten dringend Bares. Und davon nicht zu knapp. Woher nehmen, wenn nicht stehlen?
Fernsehrechte - das war die große Hoffnung. Wenn es uns gelingen würde, einen starken Sender für die Ausstrahlung der M-Liga zu begeistern - das wäre die Lösung! Aber die Sache gestaltete sich nicht einfach. Es fehlte uns an Stars! Mit unseren verkrachten Zweit- und Drittliga- Spielern konnten wir so recht keinen Staat machen.
In diesem Zusammenhang wurde eines deutlich: Der etablierte Fußball warb unsere Top-Leute ab. Zunächst waren es Einzelfälle: Die herausragenden Spieler erhielten Angebote von renommierten Bundesliga-Vereinen. Gute Angebote. Und die meisten wurden schwach - kein Wunder. Was sollten wir tun? Das für alle Spieler gleiche Grundgehalt war eine feste Regel der M-Liga. Die Belohnungen durch gute Zuschauerbewertungen besserten die Gehälter der "Stars" natürlich deutlich auf, aber im Durchschnitt verdiente ein Bundesligaspieler natürlich ein Mehrfaches. Warum man aber Spieler, die eigentlich bestenfalls Zweitliga-Niveau hatten, so großzügig entlohnen wollte, das war mit Angebot und Nachfrage nicht mehr erklärbar.
Langsam schwante mir: Das Establishment war beunruhigt. Man fürchtete uns als Konkurrenz! Der gute Maler wäre sicher zufrieden mit uns gewesen. Die Sache machte langsam Spaß, allen Problemen zum Trotz.
Ein Treffen mit den Wettunternehmen rettete die Saison. Wir mussten einen Kredit aufnehmen, der mit einer Wandelschuldverschreibung abgesichert war. Das hieß: Wenn wir nach 18 Monaten den Kredit nicht zurückzahlen können würden, dann würden 30 Prozent der Anteile an der M-Liga an das Wettunternehmen fallen. Ich überließ diese Angelegenheit Max Meineke - einerseits verstand ich von diesen Dingen nichts, andererseits war mir das Thema unangenehm.
Jedenfalls ging unsere Liga weiter. Und es klappte! Die Spiele waren schnell, unterhaltsam und torreich. Mittlerweile gingen wir in die größeren Stadien, was uns zu Freitagsspielen zwang. Es kamen viel mehr Zuschauer, als wir zunächst angenommen hatten. Die Leute hielten unser kleines Unternehmen für sehr erfolgreich - wir waren arm, aber populär.
Es war wieder Max Meineke, der die Idee hatte: Gaststars! Wir konnten den internationalen Größen hohe "Gagen" zahlen, ohne unser Konzept zu gefährden. Jede Woche spielten zwei bis drei echte Stars bei uns mit, immer in den Top-Spielen - und das zündete bei den Fernsehrechten. Die Top-Leute aus Brasilien, Argentinien, aber auch aus Frankreich und Italien wollten die Menschen sehen. Auch der Nachwuchs kam - unsere Mannschaften wurden immer besser, die Jungs hatten Geschmack an der M-Liga gefunden. Auf einmal liefen die Dinge zusehends runder.
Nur die Gerichtsverfahren machten uns zu schaffen. Die Erben von Maler wurden immer aggressiver, und sie hatten die besten Anwälte Deutschlands aufgefahren. Nun redeten diese Saukerle von "Missmanagement" und von "beispielloser Verschwendung", ja sogar von "Vetternwirtschaft" - nur weil ich Harry Patzek eingestellt hatte. Na ja, zugegeben, einen neuen Wagen habe ich ihm auch spendiert - aber irgendwie muss er doch zum Training fahren, oder etwa nicht?
Und die Etablierten (sprich: der DFB und die großen Vereine) hatten mittlerweile wohl begriffen, dass an uns nicht mehr vorbeizukommen war. In der letzten Winterpause hatten wir "offene" Hallenturniere organisiert, und einige der Top-Mannschaften waren gegen unsere Jungs angetreten. Dabei hatten sich die M-Kicker super geschlagen. Unter den ersten fünf waren zwei Teams von uns. Das schnelle Spiel, die vielen Tormöglichkeiten - M-Fußball (so nannte man das schon bald) war einfach spannender.
Sicher, es gab auch viele Traditionalisten - aber gerade die jungen Leute fanden Spaß an unserer Version des Themas Fußball. Mit der Zeit hatten wir auch Elemente des American Footballs übernommen - zum Beispiel die Cheerleader, wenn auch die Uniformen dezenter waren als in den USA. Die Zukunft erschien uns rosig - wir waren die Männer, die den Fußball weiterentwickelt hatten und in das dritte Millennium gebracht hatten.
Die Leute sprangen auf - tosender Jubel erfüllte das Stadion. Ich saß - wie immer - auf meinem Logenplatz im VIP-Bereich. Die Anzeigetafel leuchtete auf: Elfmeter! Zehn Torschüsse waren zusammengekommen. Alles echte Attacken, seit der neuen Regel 10-Schüsse-1-Elfer gab es natürlich keine Torwart-Rückgaben mehr. Sofort leuchtete die Quotenanzeige auf, die Werte veränderten sich und pendelten sich bei 63% Quote für einen Treffer ein. Ein Laut ertönte - das Signal zum Ende der Wettannahmen. Jetzt erst gab der Schiri den Ball frei.
Der Stürmer bereitete sich auf den Schuss vor. Die Menge hielt den Atem an.
Die Videokameras des Schiedsrichter-Unterstützungs-Systems waren jetzt so eingestellt, dass ein vorzeitiges Bewegen des Keepers sofort aufgefallen wäre. Auch so eine Neuerung! Der Schiedsrichter konnte im Zweifelsfall über den Stadion-Riesenbildschirm die Szenen ansehen. Computergestützte Auswertungen wurden online eingeblendet werden.
Der Schütze lief an, Schuss - Tor! Der Jubel der Fans wurde sicher durch die Wettgewinne verstärkt, es gab tosenden Applaus.
Jetzt würde der wunderschön platzierte Treffer für positive Bewertungen sorgen, und der Verdienst des Torschützen an diesem Abend steigen. Das System hatte eine gewisse Schönheit.
Der Gegenangriff rollte bereits. Der Gaststar, ein Ballzauberer aus Italien, war am Ball und dribbelte mit faszinierender Eleganz durch die Reihen seiner Gegner, begleitet vom frenetischen Jubel der Fans.
Und da stand er auch schon vorm Tor, Schuss - der Torhüter musste die Fäuste zur Abwehr nehmen, Nachschuss - Tor! Jetzt kochte die Arena. Es stand 8 zu 6, kein ungewöhnlicher Spielstand zum Ende der zweiten Halbzeit. Die neuen Regeln sorgten für torreiche Spiele, langweilige 0:0 Ergebnisse waren in der M-Liga die absolute Ausnahme. Die Fans liebten das - und auch ich musste mir zunehmend eingestehen, dass ich M-Fußball mittlerweile mehr genoss als die traditionelle Variante.
Alles wartete jetzt auf den Abpfiff, und es ertönte tatsächlich ein Laut. Aber es war mein nur Handy, dessen Klingelton einer Schiripfeife ähnlich war. Telefon aus Italien! Ein Anruf vom Entertainment-Unternehmen mit dem großen B. Ich zog mich in das Innere der Arena zurück, wo es bedeutend ruhiger war. Der Anrufer, offensichtlich ein gebildeter Italiener mit gutem Deutsch, bat mich um einen Gesprächstermin. Ich sollte nach Rom kommen! Ich hatte ein echt gutes Gefühl bei der Sache - war das der erste Schritt ins Ausland?
Einige Tage später traf ich in der Lobby des Hotels Bristol-Rom auf zwei elegante Herren, die mich abholten. Shake Hands, Kartentausch - ganz wie im Business üblich. Wir fuhren mit einer S-Klasse durch den chaotischen Verkehr und erreichten endlich unser Ziel, das Verwaltungsgebäude des B-Konzerns. Edel, edel! Riesige Glastüren, Granitböden, Edelstahlaufzüge, blitzsauberes Vorzimmer, und dann endlich das imposante Büro mit Mahagoni-Täfelung. Wie nahmen in einer Besprechungsecke Platz. Das Leder roch neu und quietschte leise beim Setzen.
"Wir haben Ihre Liga verfolgt, Signore Kramer. Glückwunsch! Sie haben viel erreicht. Die Menschen in Italien sind an der M-Liga interessiert, die Übertragungen aus Deutschland können per Satellitenschüssel auch hier empfangen werden. Für eine Sendung mit rein deutschem Kommentar erzielen Sie hohe Einschaltquoten!"
Das fing gut an. Es sollte noch besser kommen.
"Wir möchten die Rechte erwerben, und zwar zunächst für eine Ausstrahlung der besten Spiele in Italien, mit italienischem Kommentar. Ab dem nächsten Jahr möchten wir mit dem Aufbau einer italienischen M-Liga beginnen! Sind Sie interessiert?"
Mir fiel die Kinnlade herunter. Ich war für einen kurzen Moment sprachlos. Mein klingelndes Handy rettete mich - ich ging automatisch dran. Frankreich in der Leitung! Was für ein Zufall. Ein Treffen in Paris? Nächste Woche? Warum nicht!
Jetzt ging es richtig los.
Zwei Jahre waren vergangen, in denen es insgesamt stetig bergauf ging mit der M-Liga. Wir genossen den Erfolg. Zugegeben, verglichen mit dem traditionellen Fußball waren unsere Gesamteinnahmen immer noch winzig, aber wir verdienten gutes Geld und konnten uns alles leisten.
Ich fuhr mittlerweile Maserati (und nebenbei noch einen Porsche Cayenne Turbo), trug nur noch Saville-Row Maßanzüge, und fand mich rundum gut. Ein Siegertyp! Die depressive Phase, aus der mich der Brief des Testamentvollstreckers gerissen hatte, war bereits in Vergessenheit geraten.
Das Darlehen der Wettfirma war pünktlich zurückgezahlt worden, sehr zum Leidwesen der dortigen Geschäftsleitung. Für die im Raume stehende Summe hätte man die Anteile nur zu gern übernommen! Aber mittlerweile waren wir nicht nur kreditwürdig, sondern konnten zu Vorzugskonditionen finanzieren. Der Rubel strömte nur so herein!
Nach einem 4-Stunden-Arbeitstag (ich hatte mittlerweile vieles delegiert) fuhr ich in meinem fantastischen gelben Maserati nach Hause. Das lag jetzt im Villenviertel und war mehr als standesgemäß. Von einer hohen Mauer umgeben lag die Casa Kramer, ein Protzbau mit allen nur erdenklichen Annehmlichkeiten. Sogar ein Pförtnerhaus gab es!
Aber an diesem Tag machte mich eines stutzig: Der Sportwagen meiner Freundin war nicht da. Das war mehr als ungewöhnlich! Um diese Tageszeit war Lisa in aller Regel bereits eingetroffen. Wir lebten nicht zusammen, weil unsere Affäre nicht an die große Glocke gehängt werden sollte. Aber es gab schon feste Zeiten, die wir gemeinsam verbrachten.
Ich kramte meinen Schlüssel heraus und öffnete die Haustür. Auf der Anrichte im edel ausgestatteten Flur lag ein Schreiben. Ein kurzer Blick machte mir klar: Das war keine kurze Notiz - der Brief war von einer Anwaltskanzlei. Ich riss das Ding mit zitternden Fingern auf... "im Namen unserer Mandantin...", "sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz...", solche Sätze sprangen mir ins Auge.
Man sei ein einer außergerichtlichen Einigung interessiert, hieß es. Auch in Anbetracht der "vielen heiklen Internas" und der "Medienwirksamkeit" eines Prozesses sollte ich eine solche Einigung doch in Betracht ziehen. 10 Tage Zeit wurden mir großzügig eingeräumt. Immerhin!
Viele der Einrichtungsgegenstände, die mein kleines verräterisches Täubchen zugegebenermaßen (von meinen Geld natürlich) gekauft hatte, waren verschwunden. Auch die gesamte Kosmetika, die Kleidungsstücke, alles. Ein radikaler Auszug! Plötzlich durchzuckte mich ein jäher Verdacht. Ich sprintete ins Arbeitszimmer - und fand den Tresor geöffnet vor. Leer, bis auf meine Ausweise etc. Das Bargeld (einige zehntausend Euro, nur so als Notgroschen) fehlten, so wie einige Wertpapiere. Aber auch alle Aktenordner waren verschwunden!
Klar, die "heiklen Interna" ... ja, ich hatte ein wenig mit den Zahlen getrickst. Als Stiftungsleiter konnte ich meine Unkostenabrechnungen leicht ein wenig frisieren, und einige der "Zuwendungen" an meine Mitarbeiter hatte ich mit so genannten "Kickbacks" versehen. Toller Name, natürlich von Max zuerst eingeführt - aber eigentlich war es "ich gebe Dir 2000 Euro Prämie, wenn ich 700 davon schwarz zurück bekomme", und nichts anderes.
"Miststück, Miststück, Miststück!" - ich schrie meine Wut hinaus. Ich hatte das dumme Gefühl, als ob mir jemand eine Schlinge um den Hals gelegt hätte.
Sofort fuhr ich ins Büro, ich musste dringend mit Max sprechen. Mit Schwung fuhr ich auf den Parkplatz unseres Hauptquartiers. Der Wagen von Max Meineke stand wie immer auf seinem Platz. Ich sprang aus dem Auto, hetzte die zwei Treppen hoch und betrat das Vorzimmer meines Juristen. Die Tür zu seinem Büro stand offen! Das war ungewöhnlich. Max arbeitete von uns allen am längsten, und nie bei offener Tür. Wo war er?
Ich fand seine Sekretärin in der kleinen Teeküche eine Etage höher. Sie hatte rot verweinte Augen und trank aus einer Kaffeetasse. Auf dem Tisch stand eine geöffnete Cognacflasche, und der scharfe Duft des nicht gerade teuren Weinbrands füllte den Raum.
"Karin, was ist passiert?" fragte ich. "Herr Meineke - er wurde verhaftet! Man hat ihn sofort mitgenommen...", kam mit leicht verwaschener, vom Weinen und vom Cognac in Mitleidenschaft genommene Stimme zurück. "Warum? Haben Sie eine Kopie des Haftbefehls?"
Sie hatte. Bestechung! Angeblich hatte Max Einfluss auf gewisse Ereignisse ausgeübt. Tore, Elfmeter - natürlich, mit seinen Verbindungen, solche Möglichkeiten standen ihm offen. Und bei aller Arbeit - sein Lebensstil war schon sehr extravagant und teuer. Ich hatte nie darüber nachgedacht, aber seine Bezüge aus der M-Liga waren dafür nicht üppig genug. Und aalglatt genug war der Kerl immer schon.
Was für ein Tag! Wenn das so weitergehen sollte ...
Und es ging so weiter. Nicht mehr an diesem Tag, aber innerhalb der nächsten Woche häuften sich die Probleme. Meineke war in U-Haft, und meine süße Ex-Freundin wollte 3 Millionen Euro "Wiedergutmachung".
Völlig fertig fuhr ich an diesem Abend nach Hause. Ich hielt kurz am Kiosk an und kaufte mir eine Flasche Tullamore Dew, der beste Whiskey, den das magere Sortiment aufzuweisen hatte. Egal - ohne Alkohol war an Schlaf nicht zu denken.
In den nächsten Tagen ging ich erst gar nicht ins Büro. Mein Telefon schellte sowieso ohne Unterbrechung. Mittlerweile war mir klar: Ich stand vor einem Scherbenhaufen. Wer hoch fliegt, kann tief fallen!
Doch am vierten "bürolosen" Tag klingelte es am Tor. Ich benutzte die Gegensprechanlage - ein Bote mit einer Sonderzustellung! Anwaltspost, dachte ich, und schlurfte träge zum Tor. Ein Kuvert, nicht sonderlich dick, wurde mir gegen meine Unterschrift überreicht.
Das Kuvert trug als Absender den Deutschen Fußballbund! Jetzt war ich wirklich gespannt. Mit leicht zitternden Fingern riss ich den Umschlag auf. Man lud mich zu Verhandlungen "über die wesentliche Beteiligung des Deutschen Fußballbunds an der "M-Liga Stiftungsgesellschaft".
Ich fuhr natürlich hin und traf sogar einige Minuten vor dem angegebenem Termin ein. Ich wurde in einen schmucklosen Besprechungsraum geführt. Man versorgte mich mit Kaffee aus der Thermoskanne, Wasser und einigen Billigplätzchen. Na toll! Ich wartete.
Nach ca. 10 Minuten (also zwei Tassen Kaffee, ein Wasser und null Plätzchen später) ging die Tür auf und sechs Herren traten ein. Den Präsidenten des DFB erkannte ich natürlich sofort, einige der anderen Gesichter kamen mir bekannt vor. Man schüttelte sich die Hände, Visitenkarten wurden gezückt und getauscht. Allgemeines Kaffeetassengeklapper.
Dann wurde es ernst. "Mein lieber Herr Kramer, uns ist Ihre schwierige Lage nicht entgangen. Ihre Liga ist am Ende! Aber wir haben uns nach langen Verhandlungen entschlossen, Ihre Liga zu erwerben, einige Zeit weiterzuführen und schließlich mit unserem Ligasystem zu vereinen. Alles andere würde dem Fußball einfach zu sehr schaden. Sie haben viele Fans mit Ihren unorthodoxen Methoden gewonnen! Wir wollen diese Fans nicht an andere Sportarten verlieren" - eine klare Ansage vom DFB-Chef.
Jetzt nahm die Sache an Fahrt auf. Der DFB übernahm die Stiftung, und nach drei Jahren recht erfolgreicher Weiterführung wurde ein neues Regelwerk für alle Ligen verabschiedet und die M-Liga wurde in die erste und zweite Bundesliga eingegliedert. Das hatte man ja schon mal nach der Wiedervereinigung so gemacht, also warum nicht? Die besten drei M-Ligisten spielten nun in der 1. Bundesliga, die schlechtesten vier in den Regionalligen, der Rest in der 2. Bundesliga. Nach einem Jahr war nur noch eine Mannschaft in der ersten Bundesliga verblieben, der Rest stieg ab.
Natürlich waren viele Regeln nicht zu übernehmen, da ja die FIFA-Standards gehalten werden mussten. Aber das Wettsystem wurde komplett übernommen, und die Spieler erhielten eine Prämie, die auf der Zuschauerzufriedenheit beruhte. Für die Top-Spieler war das aber nur ein kleiner Teil des Gehaltes - kein Vergleich mit unseren Standardgehältern in der M-Liga.
Ich selbst bekam genügend Abfindung, um meine Schulden zu bezahlen und meinen Frieden mit meiner süßen Ex-Geliebten zu machen. Ein halbwegs komfortabler Ruhestand war mir ebenfalls möglich.
Die Geschichte könnte hier zu Ende sein - aber eine Kleinigkeit gibt es noch zu berichten.
Nach einigen Jahren traf ich in einer Kneipe in Berlin Dr. Wolters wieder. Der Notar, der mir die Stiftung seinerzeit angetragen hatte! Er sah schrecklich aus. Seine Kleider schlotterten ihm um den abgemagerten Körper, tiefe Ringe unter den Augen verdunkelten seine vormals so vornehmen Gesichtszüge. Der Mann war todkrank!
"Protatakrebs. Metastasen überall. Ich habe vielleicht noch zwei Monate", sagte er mir wenig später. Wir tranken ein paar Bierchen, die bei ihm ganz offenkundig mehr Wirkung erzielten als bei mir. Die Krankheit, die Medikamente, das geringe Gewicht - klar.
"Eins schulde ich Ihnen noch, Herr Kramer. Ich trage es seit Jahren mit mir herum, und jetzt ist mir die Schweigepflicht egal. Was kann man mir noch tun?" sagte der angetrunkene Notar. Ich horchte auf.
"Es gibt keinen Nachlass Maler. Der Mann gab es allerdings wirklich, er war tatsächlich in früheren Jahren sehr vermögend und übrigens auch DFB-Funktionär, aber seine Hinterlassenschaft war mager. Es gab nicht mal ein Testament. Meine Auftraggeber wollten Ihnen lediglich eine glaubwürdige Geschichte auftischen.".
"Aber ... wer waren denn dann Ihre Auftraggeber? Wer hat so viel Geld in eine idiotische Liga gesteckt?" fragte ich ungläubig.
"Ach, Herr Kramer, kommen Sie ... wem hat den der ganze Spaß am Ende genutzt? Den Wettunternehmen natürlich. Seit Jahren hat man damals versucht, den DFB zu Zugeständnissen zu bewegen. Aber die starke, alte Leitung hat sich immer gesperrt. Da haben sich einige Nachwuchs-DFBler mit den Wett-Companies zusammengetan und die M-Liga gestartet. Für diese Leute war das doch alles Kleingeld!"
Langsam ging mir ein Licht auf. "Und man brauchte einen bekannten Mann, der das ganze medienwirksam in Schwung brachte! Da war der alte Kramer gerade recht. Pleite, aber nicht zu alt. Ja natürlich", sagte ich.
"Und Sie haben Ihre Sache ja auch toll gemacht. Die kühnsten Erwartungen meiner Mandanten haben sich erfüllt.", meinte Wolters.
"Aber die anderen Erben! Wieso hat man mich so gequält?"
"Das hatte zwei Gründe. Erstens wollte man ein Druckmittel Ihnen gegenüber in der Hand halten, damit Sie sich auch schön bemühen, und zweitens hätte man auf die Art jederzeit den Stecker aus der M-Liga ziehen können.", sagte Wolters und trank sein Bier aus. "Ach ja, und die hübsche Lisa haben Sie auch meinen Mandanten zu verdanken. Eine ideale Kombination von Spion und potentiellem Druckmittel!"
Er ging. Ich blieb noch etwas sitzen.
So alt man wird, man lernt eben nie aus. Ich war betrogen und benutzt worden. Das traf mich. Aber ganz tief in mir, da sagte eine Stimme: "Aber einen Riesenspaß hat die Sache trotzdem gemacht!"



Eingereicht am 02. Februar 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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