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Yokohama

© Thomas Schafferer


Ein, zwei, drei, höchstens fünf Sekunden bevor ich einem meiner Kontrahenten Auge in Auge gegenüberstand, kamen mir wieder diese Überlegungen, diese Gedanken. Diese ausgesprochen seltsamen Gedanken. Eigentlich zu diesem Zeitpunkt dumme Gedanken der allerschlimmsten Sorte. Gedanken, die ein Ergebnis, ein Produkt des Denkprozesses sind, mir aber in jenem Augenblick scheinbar ohne jegliche prozesshafte Vorgeschichte einfach ins Gedächtnis schossen. Gedanken, die sich in Windungen verspinnen zu Ideen, zu Visionen, um sich aufzublasen zu Gehirngespinsten, zu absurden Gebilden und Strängen, verketteten Assoziationen, Bildern die sich konstruieren und wieder verschwinden im schier unendlichen, doch auch begrenzten Denken. Gedanken, die aus Vorgängen im Inneren meines Geistes, aus einer impulsiven Auseinandersetzung mit Vorstellungen, Träumen, Erinnerungen, Symbolen und Begriffen eine Erkenntnis zu formen suchen. Gedanken, die mich weiterbringen, stocken, zweifeln, glauben, hoffen lassen. Gedankeninhalte, Ideengebäude, die sich verknüpfen oder entkoppeln, umformen aus einem Einfall, aus einer Situation, aus einem Sinneseindruck heraus. Gedanken, die mich in diesem Moment nachdenken ließen über das Denken und seinen Sinn. Ein Monolog, ein stummes Sprechen in mir, das nur oberflächlich betrachtet allen Menschen eine gemeinsame Sprache bietet. Die Sprache des Geistes. In Wahrheit jedoch so unterschiedlich wie jedes Individuum, an und für sich. Kein Mensch wird jemals nachzuprüfen vermögen, wie und was ein anderer Mensch denkt, was in fremden Köpfen vor sich geht. Man kann sich im besten Fall in das Denken des Gegenübers hineinversetzen, hineindenken, versuchen Vorgänge zu verstehen, zu spüren. Doch wird man nie denken können, auf jenen Bahnen, wie ein anderer Mensch zu denken pflegt. Die größte Freiheit, der größte Besitz ist das Denken, sind die Gedanken. Mein Denkraum wird nie jemandem anderen gehören, mein freier Raum, meine luxuriöse Welt. Und doch das größte Gefängnis. Kein Mensch wird jemals meine dunklen Gedanken und schwarze Seite, die dreckigen Winkel meiner Gedanken erwarten. Wird nie meine tugendhaften, guten, liebevollen Gedanken sich vorstellen können, wenn ich sie nicht in Worten und Taten in die Außenwelt trage, wenn ich sie nicht mitteile, darüber berichte, erzähle. Gedanken, die sich aus der Erfahrung, dem Wissen, der Vergangenheit speisen. Wenn Gedanken sich verselbstständigen, widersprüchlich, doch frei sind und niemals eingekerkert. Manchmal ein träger, aufgestauter Fluss, ein ratternder Zug, ein reißender Wildbach und ein segelnder Greifvogel, ein Kondor in den Lüften oder ein verrottendes, morsches Stück Holz sind. Denn Denken ist nicht nur Informationsverarbeitung innerhalb eines Nervensystems. Denken ist nicht das Gegenteil des Fühlens. Oder doch? Und was wenn das Fühlen nur ein Teil des Denkens? Und was wenn das Fühlen ohne zu denken nicht existieren würde, dachte ich mir in jenen Sekunden. Doch ich verwarf diese dummen Gedanken, diese Vorstellungen, als ich hinter dem üppig wuchernden Gedankenwald eine Stimme vernahm. Zuerst nur ganz leise, dann immer lauter sich ausufernd, hörte ich diese Stimme, die mir etwas zu sagen hatte, mir etwas zurief. Und ich kannte diese Stimme, es war die Stimme meines Trainers, die sich in ein atemlos brüllendes Inferno tausender kreischender Zuschauer zerbarst und mir mitzuteilen versuchte, endlich den Ball ins Tor zu dreschen. Noch nie hatte ich meinen Trainer in solchen Momenten schreien gehört, wie ein Wunder hörte ich jetzt seine Stimme. Es war ein Wunder. Es war ein Zeichen und ich beschloss, dieses Zeichen richtig zu deuten. Ich überlegte mir zwar, den Ball, den ich dicht am Fuß vom einen Ende des Platzes geführt hatte, vorbei an sämtlichen Gegenspielern bis hierher in den feindlichen Strafraum, bis hierher vor den gegnerischen Tormann, nun doch nicht abzugeben oder doch nicht auf ein Foul zu spekulieren, das einen Elfmeter nach sich ziehen könnte. Doch ich überlegte nicht mehr lange, sondern schoss die Kugel aus Kunstleder einfach vorbei am Keeper in die Maschen. Und diese Entscheidung am Ende eines Denkprozesses war tatsächlich Goldes Wert. Denn ich traf nach dem 1:0, gänzlich ohne zu überlegen, völlig gedankenlos, zwölf Minuten später noch einmal. Schoss das finale 2:0 in diesem Spiel. Und schlussendlich holten wir uns damit, gewannen wir, das Endspiel gegen die Deutschen. Damals im Juni des Jahres 2002 in Yokohama. Das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea. Und ich wurde zur sympathischsten Zahnlücke des Turniers gewählt ...



Eingereicht am 02. Oktober 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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