Kartoffelackergladiatoren
© Frank Moné
Gelegentlich neigt Stefan dazu, zu glauben, dass ein gewaltiger Östrogenüberschuss in meinem Körperhaushalt mir so manches rein männliche Vergnügen vermiest. Und um nun den finalen Test zu starten, welcher mir die grausige Wahrheit vor Augen führen sollte, nahm er mich mit auf den Fußballplatz. Der 1. FC Kleinwackerhausen, sein Verein, spielte gegen die SV Großleinedorf. Die beiden Größen in der hiesigen 2. Kreisklasse. Die Bundesliga sagte mir was. Glaube ich. Aber 2. Kreisklasse? "Müsste es nicht DER SV
Großleinedorf heißen", fragte ich ihn. Er verdrehte die Augen, dass jeder Leguan erblasst wäre. "Nein", war seine Antwort, "denn SV heißt Spielvereinigung, DIE Spielvereinigung". Das leuchtete mir ein.
Wir waren recht spät losgefahren, sodass ich mir Sorgen machte, ob wir denn noch Karten ergattern konnten. "Und was kosten die Karten?", hatte ich ihn gefragt. Doch ich erntete nur einen verständnislosen, leicht verzweifelten Blick. Die Antwort darauf gaben einem Mann, zumindest einem mit normalem Hormonspiegel, wohl automatisch die Gene. Das war bestimmt seit der Steinzeit einprogrammiert. Erfreut bemerkte ich, dass die Karten nichts kosteten, denn es gab keine. Man konnte einfach so auf den Fußballacker
marschieren, sich ein Plätzchen suchen und zugucken. Es wäre wohl auch ein zu großer Aufwand gewesen, für die gerade mal zehn Zuschauer extra Karten drucken zu lassen. Außer zwei einsamen Bällen tat sich auf dem Spielfeld gar nichts. Auf meine schüchterne, diesbezügliche Frage, bekam ich von Stefan zu hören, dass sich die Teams schon warm gemacht hatten und nun in der Teamzone, er sprach das Wort in einwandfreien Oxford-Englisch aus, noch mal gecoacht wurden. Ein kurzes, aber intensives Briefing vor dem unmittelbaren
Spielbeginn. Das hörte sich professionell an. Ehrfürchtig harrte ich der Dinge, die da kamen. Und dann kamen sie auch schon. Zuerst liefen drei, völlig in Schwarz gekleidete, bierernst drein blickende Männer aus der schmalen Tür der Umkleidekabinen. Der erste mit einer Riesenpfeife um den Hals, die beiden anderen mit lustigen bunten Fähnchen in der Hand. "Wow", rief ich erstaunt, "ihr habt sogar Cheerleader."
"Du Depp, das sind die Schiedsrichter!", entgegnete mir ein schon reichlich abgenervter Stefan.
Unmittelbar hinter den dunklen Schiedsrichtern quoll nun eine Masse von anderen Leuten auf den Platz. Wenn man genauer hinsah, bemerkte man gewisse Übereinstimmungen in der Tracht, die sie trugen. Gemeinsam nahmen sie im Schneckensprint die Sportarena in Besitz. Nachdem die Schwarzen in dem Kreis, der sich genau in der Mitte dieses Massensportvierecks befand, stehen geblieben waren, liefen die modern uniformierten Gladiatoren, ihren Farben entsprechend, zu beiden Seiten auf. Wie bei einer Weltmeisterschaft rissen
sie die Arme nach oben, beklatschten sich selbst und nahmen dankbar den tosenden Jubel der neun Zuschauer auf. Ich klatschte nicht. Das hätte ich als ein bisschen übertrieben empfunden. Worauf ich mir prompt neun finstere Blicke einfing.
"Ich bin nur zu Besuch", versuchte ich, unsicher lächelnd, die sich zuspitzende Situation zu entspannen.
Ein schriller Pfiff entließ mich aus der Aufmerksamkeit der Zuschauer. Man kann es sich kaum vorstellen, aber ich schwöre bei den roten Hot Pans von Sachsenverräter Ballack, die neun fanatischen Daumendrücker machten mehr Radau als ein voll besetztes Stadion auf Schalke. Das Spiel hatte kaum begonnen, da hagelte es auch schon Buhrufe und Pfiffe ob der Aktionen einzelner Kartoffelackergladiatoren. Besonders heikel wurde die Stimmung, als einer der Todgeweihten böse von hinten gefoult wurde. Schreiend vor Schmerzen
wand sich der Arme auf dem Rasen, unfähig ein artikuliertes Wort formen zu können. Eine eisige Stille legte sich über das Provinz-Kollosseum. Aller Augen richteten sich auf den Schwerverletzten, der sich, vor Todespein rasend, rasend in den Rasen grub.
"Nee, nee", sagte da der kalte Stefan, "das war sauber vom Ball getrennt. Da war nix". Ich hätte zwar gewettet, da hatten sich die Kreuzbänder sauber vom Oberschenkelknochen getrennt, aber gut, Stefan musste es ja wissen. Der Ball rollte unterdessen unverdrossen auf die Seitenlinie zu. Es gelang einem Gegenspieler allerdings, das Leder vor dem Aus zu retten, das Spiel ging weiter und der Verletzte war vergessen. Dann ertönte der Pausenpfiff. Die Spieler verschwanden wieder zur Besprechung
in die Kabinen. Mit Ausnahme des einen Helden, dessen Kreuzbänder verlustig gegangen waren. Aufgrund der von ihm angerichteten Schäden im Rasen musste er eine Standpauke vom Platzwart über sich ergehen lassen.
Dann erschienen sie wieder. Jeder für sich ein Märtyrer mit individuellem, göttlichem Auftrag. Mit grausamer Entschlossenheit in den verschwitzten Gesichtzügen standen sie wieder auf ihren Positionen. Vielleicht überdachten sie auch gerade die Martyrien der wehrlosen Bälle, auf die sie ständig mit ihren, auf Knöchelhöhe abgeschnittenen Sportkampfstiefeln eintraten. Und das mit solch langen Spikes an der Sohle, als wollten sie zum Himalaya hinauf.
Ein Pfiff, und alle rannten wieder wild durcheinander. Nur die beiden Wächter, die Typen, die vor den rechteckigen Fischernetzen herum lungerten, hatten einen prima Job. Sie hatten sich in der ganzen Zeit noch nicht groß bewegen müssen. Und schön sauber waren sie auch noch.
Dann ging wieder ein Aufschrei durch die Massen.
"ABSEITS, du Pflaume", empörte sich Stefan und klatschte Beifall als der Oberrichter endlich pfiff.
Abseits. Darüber werde ich die Menschheit aufklären, sobald ich es begriffen habe. Also nie.
Das Spiel wogte hin und her. Dann pfiff der Schwarze wieder. Der hatte eine Menge zu tun. Ein Handspiel war der Grund für die Unterbrechung. Einer der Großleinedorfer, der von der Spielvereinigung, hatte den Ball mit der Hand "mitgenommen".
"Du bist doch nicht Maradona, du Niete", schrie nun mein Stefan außer sich. Spielte einst der Argentinier Maradona mit der Hand Gottes, also unerlaubt mit der Hand, so musste meines Erachtens auch ein jeder dieser tapferen Mannen einen guten Draht zum Weltenschöpfer haben, so oft schummelten diese Recken.
Und es kam, wie es aufgrund meines entarteten Hormonspiegels kommen musste, das einzige Tor des Spieles fiel während meines Aufenthaltes auf der Toilette. Zum Glück war ich allein dort, wegen ... aber das hatten wir schon.
Rechtzeitig zum Schlusspfiff kam ich wieder auf dem Spielfeld an. Der Trainer rief den siegreichen Kleinwackerhausenern zu: "Kommt in die Kabine Jungs, ich gebe auf den Sieg einen Kasten Bier aus." Innerhalb von zwei Sekunden war der Platz wie leer gefegt. Selbst der Schwerverletzte machte die Erfahrung einer spontanen Selbstheilung und flitzte aus seinem mit Schmerzen gegrabenen Loch heraus, wie von einer Tarantel gestochen.
Nun, es war ein Erlebnis gewesen. In der Tat. Allein mein Zuviel an Östrogen vermochte es nicht zu mindern.
Eingereicht am 17. April 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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