Abenteuer im Frisiersalon. Kurzgeschichten aus dem Internet. Edition www.online-roman.de  Dr. Ronald Henss Verlag, Saarbrücken.  160 Seiten 10 Euro ISBN 3-9809336-0-1
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Ein Beitrag zum Kurzgeschichtenwettbewerb "Im Frisiersalon"

FIGARO

Eine Kurzgeschichte von Gisela Mathias


Einkaufsbummel im Novembergrau einer unbedeutenden Kleinstadt irgendwo in Bayern...
Aber nicht unbedeutend genug, als dass es nicht auch hier einen kühl designten, Großstadtflair verbreitenden TEuro-Friseur-Salon gäbe. Einem spontanen Hang zur Dekadenz folgend ging ich hinein und wurde von einem fragend vom Terminkalender aufschauenden Mittfünfziger mit ebenso fragwürdiger schwarzer Strähne im edelgrau melierten Haar nicht gegrüßt.
"Entschuldigen Sie bitte, hätten Sie heute eventuell noch einen Termin zum Haareschneiden frei?..." Abschätzender Blick von hinter der Theke, gefolgt von tendenziell arrogantem Kopfschütteln.
In diesem Moment wurde mir mein schlichtweg unverschämtes Anliegen bewusst: Als könnte man bei einem solchen High-End-Starfigaro einfach mal vorbeischneien und quasi zwischen Tür und Angel seine göttlichen Künste beanspruchen...
Dann plötzlich doch ein etwas herablassender Blick des Maestros in den Kalender, untermalt von einer aus dem Nichts kommenden Stimme von Desiree: "Ist vorne noch was von der High Fidelity News Sassoon Midnight-Spülung?" Nach einem prüfenden Blick des Maestro in die Hairstyle-Collection, die sich freischwebend über der Theke präsentierte, und einer mir leider unverständlich gebliebenen Antwort an Desiree mittels einer mir noch unverständlicher gebliebenen Freisprechanlage vernahm ich dann: "Mittwoch in 2 Wochen, 12.35 Uhr." Ich beschloss spontan, mich angesprochen zu fühlen, auch wenn der Meister mich keines Blickes mehr würdigte, sondern einer Fönwelle auf Pumps zum Ausgang half.
Nachdem dann noch mein Name in dem high-society Kalender notiert wurde, verließ ich mit einem erleichterten "Vielen Dank" diese Hochburg, während mein "Gesprächspartner" wieder mit Luft-Desiree fachsimpelte.
Das wäre geschafft, dachte ich auf der Straße, meinem neuen, ultimativ stilsicheren "Der gibt dem Ich neuen Schwung"-Profi-Trendlook steht nichts mehr im Wege...
Gutes in meinem Leben erahnend stiefelte ich weiter durch die Straßen dieser gar nicht so verachtenswerten Kleinstadt, überschlug beim Einkaufen an der Wursttheke noch mal kurz, wie viele Tage mich noch von meinem "Jetzt wird alles anders"-Event trennten und konnte mir einen eher abfälligen Blick auf ein vor mir stehendes dauergewelltes Blondchen mit völlig unstrukturierter "Mein Fön ist explodiert"-Mähne nicht ganz verkneifen. Überhaupt, wenn man sich mal genauer umsieht, liegt der Gedanke nicht fern, dem ein oder anderen Zeitgenossen mal eben mit lässiger Geste eine Visitenkarte meines Star-Figaros in die Hand zu drücken und gute Besserung zu wünschen...
Leider war jedoch selbst ich noch nicht im Besitz einer solchen Eintrittskarte zum Glück, was ich mir nur ungern eingestand. Aber die ersten Connections sind geknüpft, dachte ich hoffnungsfroh, als ich - mittlerweile an der Kasse stehend - erschrak: Eine "Hier wird niemals Schwung sein"-Visage sah mir mit sinnentleertem Gesichtsausdruck direkt in die Augen. Als mir beim Wechselgeld bewusst wurde, dass da hinter der Kasse ein Spiegel hing, packte ich hektisch meine Sachen, verließ schleunigst den Laden und hoffte inständig, möglichst unerkannt geblieben zu sein.
Von Hauswand zu Hauswand robbend erkannte ich die Brisanz meiner Lage und wusste, dass eine Lösung her musste und zwar sofort! Da fiel mein Blick auf einen nichts Gutes verheißenden, runtergekommenen Sex-Shop. Im Schaufenster stand eine textilfreie Puppe mit pinker Perücke und ohne Arm, soweit man das hinter den grauschleiernden Gardinen erkennen konnte. Erst beim zweiten Blick erkannte ich, dass es sich um einen Friseurladen handelte: "Mustafas Haar-ab-Höhle" stand da mit defekten Neonbuchstaben über dem Schaufenster. Von Panik getrieben und zu allem bereit, was mich von meinem derzeitigen Haupthaar trennte, betrat ich den Laden und erkannte im Halbdunkel einen langgezogenen, schmalen Raum und eine Gruppe südländischer Männer mit Halbglatze und Goldzähnen, die kurzfristig ihr Gespräch unterbrachen, um mich unfreundlich anzustarren.
Unbeirrt stürzte ich auf den nächstbesten freien Stuhl vor dem adäquat versüfften Spiegel und wurde kurz darauf von dem Kaschemmenbesitzer mit einem beherzten Schlag auf meine Schulter - und ich habe meine Gründe, nicht von "Klapps" zu sprechen - mit den Worten begrüßt: "Sie brauchen gar nichts weiter zu erklären, das mach ich schon!!" Dabei wuschelte er mit seiner Hand kurz durch meine Haare, legte mir einen kackbraunen Kittel um und rief sodann nach "Gabi", die jedoch noch mit dem Gebiss einer neben mir sitzenden sabbernden Oma beschäftigt war, die unter ihrem Krause-Dauerwellen-Strahler eingenickt war.
Nach einer Weile kam Gabi dann zu mir, sagte "Waschen!" und zog den Hals-Verschluss meines Kittels mit entschiedener Geste noch ein Stückchen enger, so dass mir jeglicher Ansatz potentiellen Widerspruches im Hals stecken blieb. Nachdem sie meinen Kopf dann in ein hinter mir stehendes Becken gedrückt hatte, kommentierte sie beim Haarewaschen die Wassertemperatur ambitionslos mit "zu kalt", womit sie durchaus recht hatte.
Nachdem ich ihre Frage "Noch´ ne Kopfmassage?", die sie mit einem gewissen drohenden Unterton an mich richtete, erfolgreich abwehren konnte, wurde ich wieder vor diesen undurchsichtigen Spiegel verfrachtet. Gabi rubbelte mir dann in konsequenter Manier die Haare trocken; zum Kämmen kam sie nicht mehr, da sie wieder zu der Oma eilte, die inzwischen in einer bedrohlichen Schräglage auf ihrem Stuhl hing und von diesem hinunter zu rutschen drohte, was jedoch bei näherem Hinsehen durchaus seine Berechtigung hatte, da ihr Gebiss auch schon auf dem Boden lag.
Es kann befreiend sein, sich von diesem Zwang zu lösen, irgendwie gut aussehen zu wollen.
Ich jedenfalls ließ ab jetzt alles weitere einfach mit mir geschehen, ich wehrte mich nicht mehr, nein, erreichte fast eine gewisse Gelassenheit und vernahm nur noch sehr vernebelt das Schnippelgeräusch der Schere, die sich jetzt recht orientierungslos in meinem Haar zu schaffen machte.
Aufgerüttelt wurde ich erst durch das - gewohnheitsgemäß unsanfte - Rücken meines Stuhles nach links, da zu meiner rechten ein neues Opfer platziert werden sollte. Ein bekittelter Mann mittleren Alters mit Vollglatze nahm neben mir Platz. Warum gehen Männer mit Glatze zum Frisör?, fragte ich mich noch, als es passierte: Unsere Blicke trafen sich im Spiegel und ein kleiner Blitz durchzuckte meinen Körper: Funkelnd blaue Augen, umrandet von sympathischen Augenfältchen, strahlten mir ziemlich nett entgegen und verursachten ein spontanes Lächeln auf meinem Gesicht.
Lag es an dem mitleiderregenden Bild, das ich da in meiner schicksalsergebenden Lage abgab, dass er mich so nett anlächelte? Allerdings sah mein Nachbar mit diesem weißen Schaum vorm Maul - ah, zur Messerrasur war er gekommen - auch nicht wesentlich vorteilhafter aus... Unsere Blicke trafen sich immer wieder in diesem heruntergekommenen Spiegel - und das mit einer Intensität, die alles um uns herum verschwinden ließ. Wahrscheinlich hätte in diesem Moment auch eine Kröte auf seinem Kopf sitzen können, ich hätte es kaum bemerkt. Da waren nur unsere Blicke... Und dann gab es nur noch uns.
Im Rückblick lag es vielleicht gerade an den Umständen, unter denen wir uns begegneten: Vielleicht muss man einem Menschen erst mit kackbraunem Kittel und völlig desolater Haartracht über den Weg laufen, um das Wesentliche in ihm zu entdecken...
Vielleicht spielt das aber auch gar keine Rolle.
Zwei Wochen später las ich bei einem lieblichen Frühstück, zärtlicher Rückenmassage und einem leichten Lächeln am Donnerstag morgen im Lokalteil: Der Salon Figaro ist gestern abgebrannt. Wegen Kurzschlusses der Freisprechanlage. Keine Frisur blieb unversehrt. Nur die freischwebende Theke schwebt noch immer. Im Freien.

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Eingereicht am 14. Oktober 2003.
Herzlichen Dank an die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin.