ISBN 3-9809336-0-1
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Ein Beitrag zum Kurzgeschichtenwettbewerb "Im Frisiersalon"
Salon mit Herz
Eine Kurzgeschichte von Alexa Wagner
Sie musste etwas verändern.
Mit einem unglücklichen Seufzen strich Verena noch einmal die unordentlichen Haarsträhnen zurück, die ihr immer und immer wieder in die Augen fielen und versuchte, sich selbst mit einer neuen Frisur vorzustellen.
Es gelang ihr nicht. Ihr dünnes, mausbraunes Haar, welches ihr schon seit der Schulzeit die unmöglichsten Spitznamen eingebracht hatte, widersetzte sich jedem Versuch, es in irgendeiner Art und Weise interessant zu gestalten.
Den Ratschlag ihrer Mutter noch in den Ohren, die ihr empfohlen hatte, wegen ihrer Haare endlich einmal zu einem Friseur zu gehen, hatte sie sich endlich einmal aufgerafft und den Weg zum nächsten Friseursalon angetreten.
Und deswegen saß sie jetzt hier, im Wartebereich eines kleinen Friseursalons, nicht weit entfernt von ihrer Wohnung, und versuchte in den ausgelegten Katalogen eine Frisur zu finden, die ihr gefiel.
Es war sinnlos. Da machte sie sich nichts vor. Um ihr Aussehen zu verbessern reichte eine neue Frisur nicht aus. Obwohl gerade mal Mitte vierzig, schätzen viele sie bei ihrem ersten Treffen gut zehn Jahre älter. Und das lag bei weitem nicht nur an ihren Haaren. Es war einfach ihr ganzer Typ. Nicht allzu dick, aber doch wieder zu mollig, um dem Ideal zu entsprechen. Nicht gerade klein, aber doch nicht groß genug, um aufzufallen. Nicht hässlich, aber nicht hübsch genug, um die Aufmerksamkeit eines Mannes zu erregen.
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Frustriert schlug Verena den Katalog zu und stand auf. Sie war fest entschlossen, den Salon auf der Stelle zu verlassen. Überhaupt war es eine äußerst dumme Idee gewesen hierher zu kommen. Auch hier würde man ihr nicht helfen können.
"Frau Schneider?"
In der Tür prallte sie um ein Haar mit einem jungen Mädchen zusammen, die einen blassrosa Kittel trug, auf dessen linker Seite die geschwungene Aufschrift ,Salon Hertz' von ihrer Zugehörigkeit zu diesem Geschäft kündete.
Verena bekam kein Wort heraus. Vergessen war der Entschluss, einfach zu gehen. Beinahe schüchtern folgte sie der Angestellten zu einem der Friseurstühle und ließ sich widerstandslos darauf nieder.
"Haben Sie sich für eine Frisur entschieden?" Das Mädchen werkelte geschäftig an dem Stuhl herum, drehte ihn dem Spiegel entgegen und entfaltete schließlich mit elegantem Schwung den Umhang, der Sekunden später um Verenas Hals drapiert wurde.
Endlich fiel ihr auf, dass die Friseuse eine Antwort erwartete, doch alles, wozu sie fähig war, war ein beinahe heftiges Kopfschütteln.
"Nun..." Nachdenklich ließ das Mädchen ihre Finger durch Verenas Haare gleiten und schien nicht zu merken, wie sehr diese Geste ihre Kundin verunsicherte.
Verenas Gedanken kreisten augenblicklich um den Anblick, den ihre Haare boten.
Hoffentlich waren sie sauber. Die Tatsache, dass viele Leute gerade zum Friseur gingen,
um ihre Haare waschen zu lassen, verdrängte sie dabei elegant. Und Schuppen? Hatte sie jemals Schuppen gehabt? Eigentlich nicht und doch war sie auf einmal gar nicht mehr sicher.
"Haben Sie schon einmal eine Kurzhaarfrisur ausprobiert? Ich bin sicher, das würde Ihnen stehen." Das Mädchen begann mit sicheren Bewegungen, Verenas Haare zu bürsten.
"Kurz?!" Verena war entsetzt. Seit Jahren trug sie ihre Haare jetzt schon schulterlang und noch nie war ihr die Idee gekommen, diese abschneiden zu lassen. Vor allen Dingen, weil Karl ihr gesagt hatte, wie sehr er lange Haare mochte. Karl. Die Erinnerungen an ihren Ehemann kamen, wie immer, im unpassendsten Augenblick. Zehn Jahre Ehe. Zehn Jahre gemeinsame Kämpfe und Leid, Liebe und Glück, einfach vergessen. Fortgespült von einer langbeinigen, vollbusigen Blondine, die mit ihren knapp fünfundzwanzig
Jahren schlank und selbstbewusst in Karls Leben getreten war und dem armen Mann innerhalb weniger Tage den Kopf verdreht hatte.
"Hier."
Verena sah auf, als die Friseuse ihr ein Papiertaschentuch unter die Nase hielt und erst jetzt bemerkte sie, dass die Erinnerungen an ihren Exmann wohl wieder einmal sämtliche Schleusen geöffnet hatten. Dankbar nahm sie das Taschentuch entgegen und schnäuzte sich verhalten.
"Entschuldigung", murmelte sie leise und tupfte rasch die Tränen ab.
Die Friseuse lächelte. "Kein Problem. Da mussten wir alle schon durch. Ehefrau oder Geliebte?"
Verena erstarrte. "Wie bitte?", fragte sie schließlich mit schwacher Stimme nach, nicht sicher, ob sie wirklich richtig verstanden hatte.
"Na, ich meine sind Sie die verlassene Ehefrau oder die ausgenutzte Geliebte?" Das Mädchen warf sicherheitshalber einen raschen Blick über die Schulter, doch sie waren ganz allein und so lehnte sie sich ein wenig weiter vor, erstaunlich zutraulich für jemanden, der seinen Gesprächspartner noch nie zuvor gesehen hatte.
"Ich..." mehr brachte Verena nicht heraus, ehe die Tränen schon wieder flossen, diesmal noch stärker als zuvor.
"Oje." Das Mädchen tätschelte ihr beruhigend die Hand und hielt ihr ein neues Taschentuch hin. "Eindeutig Ehefrau würde ich sagen. Die Geliebten stecken so etwas in der Regel besser weg."
Das verständnisvolle Lächeln des Mädchens tat Verena gut und so vergaß sie ihre angeborene Schüchternheit, vergaß, dass sie beide sich eigentlich gar nicht kannten und schüttete dem Mädchen ihr Herz aus.
"Er hat mich verlassen. Nach zehn Jahren Ehe. Ich dachte, unsere Ehe wäre etwas Besonderes. Verstehen Sie? Natürlich wusste ich, dass heutzutage viel passieren kann und dass die Beziehungen schneller kaputtgehen als früher. Ich meine, wer will denn heute etwas investieren, wenn man so schnell verletzt oder betrogen werden kann? Aber das betraf doch nicht uns!" Und während Verena immer schneller und schneller sprach, immer mehr und mehr von ihrem Kummer und ihren Erinnerungen aus sich heraussprudelte,
entging ihr, dass die Friseuse begonnen hatte, mit Kamm und Schere ihren Haaren zu Leibe zu rücken.
"Und dann sagte er... OH MEIN GOTT!" Verena glaubte, noch nie in ihrem Leben solch einen Schrecken bekommen zu haben, als ihr Blick auf einmal in den Spiegel fiel und sie sich selbst nicht mehr erkannte. Verschwunden waren die beinahe ungekämmt wirkenden Strähnen, die ihr immer in die Augen gefallen waren, verschwunden die splissgeplagten Spitzen, die uninteressante Farbe... wann war das passiert? wollte Verena verwundert wissen und stellte diese Frage laut.
"Ach wissen Sie", das Mädchen winkte ab. "Sie mussten einfach reden. Das habe ich gespürt, wissen Sie? Deswegen habe ich Sie in Ruhe gelassen. Und Sie haben so schöne Haare, da kann man so viel draus machen."
Verena begriff es immer noch nicht so ganz. Das sollte sie sein? Diese fast jugendlich wirkende Frau mit den braunen Haaren, die in einem beinahe verwegen anmutenden Stufenschnitt zu einer Seite abfielen?
"Das ist ein Wunder", flüsterte sie schließlich leise, doch nicht leise genug, dass das Mädchen sie nicht gehört hätte.
"Ich wirke keine Wunder, ich arbeite nur mit dem Material, das die Natur mir liefert. Bei Ihnen ist doch alles vorhanden, was man braucht. Sie hatten nur zufällig die falsche Frisur gewählt."
"Ja." Verena lächelte kaum merklich. Nicht nur die falsche Frisur, sondern auch den falschen Mann. Ein Mann, der ihr immer nur seinen Willen aufgezwungen und versucht hatte, sie nach seinen Vorstellungen zu formen.
"Vielen Dank."
"Keine Ursache. Wenn es Ihnen gefallen hat, dann empfehlen Sie uns doch einfach weiter. Salon Hertz, der Salon mit Herz." Die Friseuse zwinkerte ihr übermütig zu und Verena, die sich von diesem Übermut anstecken ließ, nahm das überraschte Mädchen kurz in die Arme, bevor sie aus dem Salon hinein in eine neue Zukunft trat.
Eingereicht am 10. Oktober 2003.
Herzlichen Dank an die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin.