ISBN 3-9809336-0-1
Lust am Lesen
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Ein Beitrag zum Kurzgeschichtenwettbewerb "Im Frisiersalon"
Opfergang für Bruder Gelbschnur
Eine Kurzgeschichte von Jens Uwe Stolte
In unserer Bruderschaft herrscht ein strenges Regiment mit eisernen Regeln.
Eigentlich möchte ich dieser Bruderschaft nicht so richtig angehören, es nicht meine tiefste Überzeugung. Aber ich komme da erst einmal nicht so schnell von weg, ich kann nur versuchen die Zeit irgendwie rumzukriegen. Alles ist in Büchern geregelt, einige können die Psalmen und Sprüche schon gedichtsmäßig aufsagen, die unser Leben bestimmen. Wir machen alles nach Bestimmung, tragen dieselbe Kleidung, schlafen meistens zur selben Zeit ein und wachen zur selben Zeit auf.
Wenn ich am Wochenende keine Frondienste ableisten muss und von unserer Bruderschaft weg bin, werde ich aufgrund meines Alters und meiner Haartracht gleich als Angehöriger dieser Bruderschaft erkannt.
Daher versuche ich es zu vermeiden. Bruder Gelbschnur, den keiner so richtig mag, wacht mit Argusaugen über die Einhaltung des Wortes in den Büchern. Auch über unsere Haartracht. In den Büchern steht: Kurz, Kragen nicht berühren, Ohren frei, stirnmäßig bis maximal Augenbrauen.
Um nicht aufzufallen habe ich mit Haarfestiger alles enganliegend nach hinten gekämmt und bei den Prozessionen und Messen immer einen langen Hals gemacht. Bruder Gelbschnur hatte es eine ganze Weile nicht bemerkt. Am Wochenende hatte ich dann den Festiger ausgewaschen und hatte eine Haartracht, die mich als normale Person kennzeichnete. Aber die Grenze wurde bald überschritten, ich bin aufgefallen. Bei genauerer Überprüfung stellte sich heraus, dass meine Haare die Ohren fast bedeckten.
In zwei Tagen muss ich meine Haare dem Buch entsprechend haben, mit Haarfestiger und nach hinten kämmen ist es wohl nicht mehr getan. Ich muss in den Tempel und Opfer bringen.
Nachdem unsere Bruderschaft das Tagewerk vollbracht hatte, ging ich schnell duschen, um den Haarfestiger rauszukriegen, zog mir meine zivile Kleidung an und machte mich auf den Weg in die Opferstätte.
Fremd in dieser Stadt, mich eigentlich nicht auskennend, ging ich durch die Strassen. Und ich bekam ein Zeichen. Ganz groß stand es an der Wand: "Haircutters". Das könnte fast das Wort des Tages sein. Ich gehe zielstrebig auf den Salon zu und trete ein.
Eine Friseurin dreht gerade Lockenwickler ein, fragt mich was zu tun wäre. Schneiden und das ziemlich kurz.
Das kann gleich losgehen, ich soll noch einen Moment warten. Nachdem sie ihren Abschnitt bei der Kundin fertig hat, kommt sie auf mich zu, geleitet mich in die Herrenabteilung zu einem schweren Sessel mit Fußstütze. Ich setzte mich hinein, sie legt mir einen Papierkragen und einen großen weißen Umhang um. Sie ist sehr groß, und pumpt mich mit dem Fuß auf ihrer Arbeitshöhe. Während sie mich hochpumpt wirft sie schon einmal einen Blick auf meine Haare, während ich sie mir im Spiegel ansehe. Sie trägt einen kurzen
Herrenschnitt, auf dem Oberkopf höchsten 2 Zentimeter mit angeschnittenen Seiten und anrasiertem Hinterkopf, auf dem Oberkopf alles noch oben geföhnt, von der Länge entspricht es der Frisur, die ich eigentlich haben müsste.
Ich überlege gerade, ob sie wohl eine überzeugte Kurzhaarliebhaberin ist, oder ob sie die Haare notgedrungen nach mehreren Färbe- und Strukturumformungen, die bei Friseurinnen ja nicht so selten sind, als letzte Möglichkeit jetzt so trägt. Aber ich traue mich nicht sie darüber zu fragen.
"Und wie soll es geschnitten werden?"
Ich bete ihr den Psalm aus unserem Buch herunter, daher weiß sie sofort, welcher Ordensbrüderschaft ich angehöre.
Dann sage ich ihr aber auch, dass es wohl besser ist, eine kürzere Frisur zu haben, als direkt an der Grenze des Erlaubten, denn andernfalls werde ich in der Freizeit ja sofort als Angehöriger der grünen Bruderschaft erkannt.
Ferner wird Bruder Gelbschnur mir in der nächsten Zeit eine erhöhte Aufmerksamkeit angedeihen lassen, so dass ich wohl alle zwei Wochen wieder hierher muss. Dann soll es lieber gleich kürzer werden.
Sie schaut sich kurz meine Haare an, dann macht sie mir einen Vorschlag: "Maschinenschnitt, Oberkopf Bürste, der Rest schön kurz gehalten. Wenn, dann muss es richtig schön stoppeln."
Ich stimme zu. Kurz muss es sowieso werden, dann kann sie gleich etwas draus machen.
Sie nimmt die Maschine mit Kabel, steckt einen Aufsatz drauf. Mit einem lauten "Klack" läuft die Maschine an, gibt jetzt nur noch ein leises Summen von sich. Ein letzter Blick in den Spiegel auf meine mühsam gezüchtete Mähne, während sie sich rechts vor mir hinstellt. Mit den Fingerspitzen der freien Hand greift sie an meinen Hinterkopf um gleich darauf die Maschine an der Stirn anzusetzen und kräftig nach hinten zu führen. Erste Bahn geschnitten, kurze Schwenkbewegung, das erste Haarbüschel fällt auf
den Umhang, gleich wieder an der Stirn aufgesetzt, zweite Bahn geschnitten, gleich wieder zur Stirn, in wenigen Zügen ist der Oberkopf kurz. Dann drückt sie mir den Kopf auf die Seite, fängt an der Schläfe an, schert Bahn für Bahn zum Hinterkopf, das Ohr wird umgebogen, die Maschine vibriert dahinter herauf, drückt mir den Kopf nach vorn, ich spüre wie die Maschine den Hinterkopf Bahn für Bahn raufgeht.
Dann drückt sie den Kopf auf die andere Seite und schneidet die andere Seite. Bahn für Bahn hinten angefangen, ist sie schnell vorne angelangt. Sie legt die Maschine wieder vorne ab. Mein Kopf ist schmal geworden, aber der Umhang ist gut gefüllt. Mit der Hand streicht sie mir über die Haare.
"Das sind 15 Millimeter, aber das stoppelt noch nicht richtig. Ich mache noch einmal die nächste Stufe."
Sie wechselt den Aufsatz und macht die Prozedur noch einmal. Wieder stützt sie mit der freien Hand den Kopf, damit sie die Maschine wohl schneller führen kann, in weniger als einer Minute ist sie das zweite Mal mit der Maschine über den Kopf gegangen. Nochmal liegen ein paar Millimeter mehr Haare auf dem Umhang. Sie schaltet die Maschine aus und legt sie auf die Ablage. Dann nimmt sie die kleinere Maschine daneben, um dann mit Kamm und Maschine die Seiten und den Hinterkopf zu bearbeiten. Die Ansätze werden direkt
mit der Maschine geschnitten, nach oben mit einer Schwenkbewegung vom Kopf weg.
Sie schaltet die Maschine aus, nimmt einen Pinsel um den Kopf sauber zu machen. Legt ihn aber bald weg, sagt die Haare sind zu kurz für den Pinsel, schwenkt ein Waschbecken heran, zieht einen Hebel am Sitz und ich spüre wie die Lehne nach hinten verschwindet. Haltsuchend geht mein Oberkörper nach hinten, eh ich meinen Rücken wieder irgendwo anlehnen kann, dirigiert sie mich zwar freundlich aber ohne weitere Auswahlmöglichkeit in das Rückwärtswaschbecken hinein.
Irgendwie versuche ich noch nach links oder rechts zu sehen, aber das geht nicht mehr, die Halseinfassung ist recht eng. Schon läuft warmes Wasser über meinen Kopf und sie schamponiert mir den Kopf ein. Mit sanften Bewegungen geht sie über den Kopf. Dann erfolgt das Abspülen des Shampoos, sie wickelt mir ein Handtuch um den Kopf und gibt mir das Signal zum Aufrichten. Die Lehne wird wieder festgestellt. Sie frottiert den Kopf trocken und legt das Handtuch beiseite.
Dann stellt sie sich hinter mich und streicht mit den Händen durch die Haare. Ich spüre wie es stoppelt und sie streicht mehrfach gegen die Wuchsrichtung.
"Föhnen ist jetzt nicht mehr nötig, das ist schon trocken."
Sie zeigt mir den neuen Schnitt im Spiegel.
"Wie viel sind das jetzt noch?" Frage ich
"Auf dem Oberkopf 9 Millimeter, an den Seiten kürzer. So schön stoppelig hatte ich mir das auch vorgestellt....."
Mit dieser Frisur bräuchte ich die nächste Zeit ja nicht mehr hierher zu kommen das reicht für mehrere Wochen.
Sie öffnet den Umhang, um mir dann gleich noch einmal mit der kleinen Maschine den Nacken auszurasieren. Dann nimmt sie den Umhang ab. Ich schaue mir den schmalen Kopf jetzt noch einmal im Spiegel an. Dann stehe ich auf und gehe zur Kasse.
Beim Kassieren sagt sie: "So ein reiner Maschinenschnitt ist günstiger als ein Scherenschnitt, der ist auch schnell gemacht. Wenn das nicht mehr so schön stoppelt, komm doch gerne wieder vorbei......."
Das könnte durchaus passieren. Auf dem Rückweg merke ich den leichten Wind direkt auf der Kopfhaut. Als ich das Gelände unserer Bruderschaft wieder erreiche versuche ich noch gewohnheitsmäßig im Reflex die Haare hinter die Ohren zu streichen, aber das ist nicht mehr nötig, das fühlt sich an wie eine Bürste.
Bruder Gelbschnur wird wohl nichts mehr auszusetzen haben.
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Eingereicht am 20. September 2003.
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