ISBN 3-9809336-0-1
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Ein Beitrag zum Kurzgeschichtenwettbewerb "Im Frisiersalon"
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Eine Kurzgeschichte von Peter Kuchenbuch
"Wie soll's n werden?"
"Mehr!"
Nicht verstehend guckt er mich durch den blank polierten Spiegel an. Über der Nase thront eine senkrechte, steile Falte, die nach oben wie ein Flussdelta zerfasert und nahtlos in die tiefen, waagerechten Schützengräben der Stirn fließt.
"Was, mehr?", echot seine irritierte Stimme.
"Na, mehr Haare", klär ich ihn, mit enttäuschtem Unterton, dass der Gag nicht saß, auf.
"Ach so." Über das stoppelige, von dichten schwarzen Borsten eingerahmte Gesicht des Meisters huscht der Stiefbruder eines Lächelns. "Okay."
Er winkt ein dralles, (natürlich!) blondes Mädchen heran und sagt: "Bitte waschen." Und zu mir gewandt: "Bin gleich wieder da."
Dann verschwindet er in der Tiefe des Spiegels, während die dralle Blondine meinen Nacken freundlich, aber unerbittlich in die Guillotinensenke des Waschbeckens zwängt. Sofort versprechen meine Nervenbahnen im oberen Wirbelbereich für später heftige Kopfschmerzen.
Während das Wasser über meine Kopfhaut perlt, denke ich mit geschlossenen Augen über das ‚okay' nach. Schön wär's ja. Was hab ich nicht alles versucht. Vitamine, Essenzen, Wunderpillen, sogar Akupunktur. Alles teures Blech. Die Haare befinden sich unwiderruflich auf einem hastigen, planlosen Rückzug und weichen einer glänzenden, sich gierig weiter fressenden, lebensfeindlichen Einöde.
Mein trister Gedankenfluss wird durch ein hart gebackenes Handtuch unterbrochen, welches sich knisternd und schwer auf mein Gesicht legt. Die Dralle befreit meinen Nacken von der Keramikkrause und schrubbelt meine Kopfhaut vehement mit dem nach WC-Reiniger duftendem Plastikgewebe ab. Fast kann ich die Schreie der entwurzelten, ihrer Existenz beraubten Haare hören, die in der statischen Aufladung der Plasto- und Elastomere kleben bleiben. Dann, endlich, endet die vernichtende Prozedur abrupt. Im Luftzug des entschwindenden
Handtuches sehe ich Hunderte feiner Härchen - meine Härchen!- in kleinen Wirbeln durch den Raum tanzen.
"Fertig!", grunzt die Dralle. Sie wickelt mir ein weißes Kreppband um den Hals und schenkt mir ein Geschäftslächeln.
"Danke!" Errät sie, dass meine Gedanken contraproduktiv zu meiner Äußerung verlaufen? Frauen sollen ja angeblich äußerst sensible Antennen für Unausgesprochenes haben.
Das blond eingerahmte Barockgesichtchen verwandelt sich wie durch Zauberhand in die zerklüftete Gesichtslandschaft des Meisters. In den Händen hält er ein großes, rotes Tuch, schwenkt es wie ein Torero elegant über meinen Kopf und verzurrt es mit festem Knoten in meinem leidgeprüften Nacken.
"Na, dann woll'n wir mal."
Er setzt sich rittlings auf seinen Schemel und fängt an zu schnippeln. Keine Frage mehr nach dem Wie. Er legt einfach los. Die Schere frisst gierig klappernd tiefe Schneisen der Verwüstung in die Topographie meines Schädels und verändert sie auf dramatische Weise. Mit großen, starr geweiteten Augen beobachte ich, wie mein wallendes Haupthaar, mühsam auf Länge gezüchtet, um notdürftig die kahlen Blößen zu verdecken, innerhalb weniger Nanosekunden zu einer raspelkurzen Steppe mit weit auseinander stehenden Halmen
abgeholzt wird.
"Fertig!", grunzt dieses Mal der Meister. Mit einem weichen, überdimensionalen Pinsel bürstet er noch schnell die dahingemetzelten Haarreste fort. Im Spiegel ist nun unschwer zu erkennen, dass ich eine Saugglockengeburt war. Außerdem hab ich Pickel auf dem Kopf.
"Eigentlich hatte ich ‚mehr' gesagt!", versuche ich mich in Sarkasmus, während mir die Tränen in die Augen schießen.
Die buschigen Augenbrauen des Meisters überwinden mühelos die Gräben seiner Stirnfalten und gesellen sich zum dichten, borstigen Haupthaar.
"Noch mehr? Sind Sie sicher?"
Hastig schüttel ich den Kopf.
"Ist schon okay."
Der Meister nickt knapp, öffnet den Knoten in meinem Nacken und entfernt mit geübtem Schwung das Tuch samt Kreppband. Ich folge ihm zur Kasse, unfähig und auch nicht gewillt, den Gedanken, der sich vehement in den Vordergrund drängt, zu Ende zu denken. Doch auf dem Bürgersteig lässt er sich nicht mehr negieren:
Ich bin verstümmelt!
Ein leichter Wind erforscht neugierig die Konsistenz meines Schädeldaches und hinterlässt bittere, ungewohnte Kälte auf der ungeschützten Kopfhaut. Ich schlage das Revers meiner Jacke hoch und versuche vergebens, mich in der weichen Wattierung zu verkriechen. Mit einem kurzen Sprint flüchte ich in die Anonymität meines Autos. Ich starte den Motor und schalte das Gebläse aus. Nach ein paar Minuten haben sich die Scheiben beschlagen, und ich kann losfahren. Den Innenspiegel klappe ich nach oben.
Nach einer kurzen, orientierungslosen Fahrt erreiche ich meine Wohnung und verharre dort im treuen Gefährt; der Blick leer, die Hände am Steuer festgefroren. Wie soll ich den Abgrund zwischen Auto und Wohnung überbrücken? Mein Blick fällt auf die Rückbank. Ich pflege mein Auto nicht zu pflegen, und das erweist sich jetzt als großes Glück. Auf dem Rücksitz finde ich einen Schal. Er klebt zwar etwas durch den Schokoriegel und die Donutreste, bedeckt jedoch meinen Kopf vollständig. Lediglich den Augen gestehe ich
einen minimalen Sehschlitz zu. Trotzdem warte ich sicherheitshalber, bis es vollständig dunkel ist. Dann husche ich, jede dürftige Deckung ausnutzend, bis zur Haustür. Mit fahrigen Fingern nestle ich mit dem Schlüssel am Türschloss rum. Der minimale Sehschlitz verschiebt sich und lässt mich halb erblinden. Da ich im Sehen mit eindimensionalem Gesichtsfeld nicht geübt bin, treffe ich das Schlüsselloch nicht und werde immer nervöser. Eine Schweißperle rinnt in den nicht abgedeckten Augapfel und lässt mich vollends
erblinden.
Plötzlich bekomme ich Herzrasen und akute Atemnot. Ich reiße mir den Schal vom Kopf und schnappe röchelnd nach Luft.
"Geht's?", fragt eine besorgte Stimme.
Ich zucke zusammen und versuche, mit den Händen meinen Schädel zu bedecken.
"Oh, sie waren beim Friseur."
Ich kenne die Frau. Sie wohnt über mir. Allein, genau wie ich. Ihren Namen hab ich vergessen. Sie verlässt gerade das Haus und hält die Tür mit einer Hand offen. Ohne Antwort haste ich an ihr vorbei und sprinte die Treppen hoch. Als die Wohnungstür ins Schloss fällt, bricht es endlich aus mir heraus.
"CAMPANULA GROSSEKII!"
Echte Schimpfwörter erlaube ich mir schon seit meiner Jugend nicht mehr. Soweit ich weiß, handelt es sich um eine Glockenblumenart. Es erleichtert ungemein.
Im Dunkeln, ohne Licht anzumachen, überlege ich. Spiegel. Wie viele Spiegel besitze ich? Einen im Badezimmer. Natürlich. Und einen im Nachttisch. Zuerst der im Badezimmer, der ist komplizierter. Ich nähere mich ihm unentschlossen von der Seite. Er fungiert als Tür und ist mit Scharnieren am Schrankkorpus befestigt. Kreuzschrauben. In der Küche ist ein Schraubenzieher. In der Werkzeugschublade. Ich hole ihn. Und zack, ist der Spiegel ab. Unentschlossen halte ich ihn in der Hand. Dann schiebe ich ihn unter den
Wohnzimmerteppich, mit der verspiegelten Seite nach unten.
Nun der im Nachttisch. Ein ovaler Handspiegel. Ich robbe mich an, ziehe die Schublade heraus, ertaste den Griff, schließe die Augen und verstecke ihn unter meinem Pullover. Er findet seinen Platz neben dem Wohnzimmerspiegel.
Erschöpft aber erleichtert lasse ich mich auf die Couch sinken. Das Licht lasse ich lieber aus. Meine Haare! Fast hätte ich mir über den Kopf gestrichen, aber nur fast. Wie wenig man Gewohnheiten doch in den Griff kriegt. Sicherheitshalber setze ich mich auf meine Hände.
Ich bin müde, ausgelaugt. Ich sollte ins Bett gehen. Aber dann werden meine Hände frei sein. Sie streichen gerne über meine Haare, zupfen hier, zupfen da, ordnen sie, verteilen sie gleichmäßig. Was passiert, wenn sie...
Ich kann den Gedanken nicht zuende denken und fange an zu würgen. Besser, ich bleibe hier sitzen. Auf den Händen.
Ich schließe die Augen. Sofort sehe ich meine Haare im Luftwirbel tanzen und höre das metallische Klappern der Schere. Ich reiße meine Augen auf und stöhne laut. Noch einmal Campanula? Ich entscheide mich dagegen. Es bringt ja nichts.
Endlich stellen sich auch die Kopfschmerzen ein. Mein Nacken brennt, und die Schulterblätter kämpfen durch die verkrümmte Haltung mit den protestierenden Muskeln. Im Zimmer wird es allmählich heller. Ein bleiches, fahles Licht. Mein Blick fällt auf die Wanduhr. Kurz vor Zwei. Also noch jede Menge Zeit bis zum Morgengrauen. Ich zwinge meinen verspannten, wütend schmerzenden Kopf herum und schaue zum Fenster. Natürlich, der Mond. Fast voll. Ich grinse ihn freudlos an. Dann fällt mein Blick auf die polierte, weiße
Granitplatte des Wohnzimmertisches. Ein unförmiges Gesicht grinst mich im Licht des Mondes schemenhaft an. Mein Gesicht.
Ich schreie laut auf und werfe mich auf den Boden. Krieche unter den Tisch. Überlege. Farbe! Im Abstellraum steht noch ein Eimer mit Latexfarbe. Von der letzten Renovierung. Ich hole ihn. Drin steckt noch die Rolle. Entschlossen streiche ich die Granitplatte mit dem milchigen Rot. So, fertig.
Schwer atmend sitze ich wieder auf der Couch und meinen Händen. Wie schnell wachsen Haare? Wenn ich mich nicht rasiere, ist mein Bart nach einer Woche vielleicht einen halben Zentimeter lang. Nach einer Woche! Ich überschlage, wie lange ich Urlaub nehmen muss und komme auf mindestens zwanzig Wochen. Ich habe aber nur noch zwei. Meine Hände brennen. Ich könnte mich auch krank schreiben lassen. Aber dann muss ich zum Arzt. Ins Wartezimmer. Auf keinen Fall. Jetzt jucken meine Hände. Außerdem tut mein Nacken furchtbar
weh, er schmerzt fast noch mehr als der Kopf und der Rücken. Besitze ich eine Pudelmütze? Nein. Ich könnte eine kaufen. Die Muskeln in meinen Oberarmen zucken. Über einen Versandhandel. Schnelllieferung innerhalb von 48 Stunden. Oder sind es 24? Aber wer nimmt das Paket an? Meine Hände sind taub. Sie kribbeln. Ich schwitze stark. Wann wird es hell? Ich schaue zum Fenster. Mein Gott! Scheiben!
Vier Fenster! Glas! Glas spiegelt! Aber ich habe noch genug Farbe...so ist es besser... meine Hände zucken... wollen zum Haar... dürfen nicht... draufsetzen... Wohnzimmerschrank... Glastür... anstreichen... Hände... NICHT!!!!
"Vielen Dank. Dass sie uns informiert haben."
Der Polizist klappte sein Notizbuch zu und strich sich über sein graues, müdes Gesicht.
"Was ist denn mit ihm? Ist er verrückt geworden?", fragte die Frau neugierig. Sie hatte diesen frettchenhaften, sensationslüsternen Ausdruck im Gesicht, den der Polizist nur zu gut kannte.
"Das wird der Arzt entscheiden."
Die Tür der Nachbarwohnung öffnete sich. Durch die Öffnung fiel auf den Hausflur rötlich eingefärbtes Licht. Zwei Sanitäter schoben mit ausdruckslosem Gesicht die Krankenliege heraus und an dem Polizisten und der Frau vorbei zum Aufzug. Während sie warteten, musterte die Frau begierig das Gesicht des Mannes. Es war verzerrt und zeigte einen Ausdruck namenlosen Entsetzens. Von den halb geöffneten Augen sah man nur das Weiße. Aus den Mundwinkeln flossen dünne, blasige Speichelfäden. Die obere Schädelhälfte war
mit unregelmäßigen, hellroten Flecken übersät.
"Komisch", sagte die Frau.
"Was denn", fragte der Polizist.
"Die Haare", murmelte die Frau. "Sie sind irgendwie... anders."
"Anders? Sie meinen, weil sie rot verfärbt sind?"
"Nein. Ich meine, das natürlich auch. Aber es sind...ich könnte schwören..."
"Was denn?", fragte der Polizist gereizt.
"Naja, ich hab ihn doch gestern Abend noch kurz gesehen. War wohl beim Friseur. Ziemlich kurz geschoren, aber stand ihm, find ich, trotz allem. Aber jetzt sind es plötzlich viel... viel..."
"Ja?"
"MEHR!"
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Eingereicht am 16. September 2003.
Herzlichen Dank an den Autor.
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