Abenteuer im Frisiersalon. Kurzgeschichten aus dem Internet. Edition www.online-roman.de  Dr. Ronald Henss Verlag, Saarbrücken.  160 Seiten 10 Euro ISBN 3-9809336-0-1
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Ein Beitrag zum Kurzgeschichtenwettbewerb "Im Frisiersalon"

stadtspiegel

Eine Kurzgeschichte von Jan K. Woike


busse ziehen dunkle linien in den schnee, kinder häufen die ersten fetzen zu kümmerlichen menschengestalten auf, eine deutsche vorstadt hat sich endlich vom herbst getrennt.
gasheizungen belächeln ofenheizungen, ofenheizungen belächeln die heizungslosen, gedanken an weihnachtsgeld erzeugen investoren wohin man nur hört. es ist richtig, dass die bürgersteige nur bis 18 uhr den boden berühren, es ist richtig, dass die jugend in die größeren städte fliehen will, es ist richtig dass die lokalnachrichten nur wegen der todesanzeigen gelesen werden. das muss aber jetzt nicht stören, wenn einer der busse nun um die ecke biegt, es steigt ein mann aus, ein ziel vor augen, die hände in den manteltaschen, er geht recht schnell die straße entlang, weil ihn das schneewasser in seinen schuhen stört. er öffnet die tür des frisiersalons, betritt den raum und atmet warme luft, lässt seinen mantel am haken und freut sich auf die kopfwäsche, seinen erotischsten moment im monat. neben ihm sitzen nur menschen ohne bedeutung für diese geschichte, in der eine frau ihrem spiegelbild die augen auskratzen wird. aber die dinge sollten nicht dem zeitstrom entrissen werden, deshalb spielt die handlung weiterhin oberhalb von zahlreichen haarstücken und unterhalb von scherenklingen, nur die wartezeit des mannes ist jetzt übersprungen worden. während die hände des personals ihre arbeit verrichten, kommt eine frau am laden vorbei, sie schaut hinein, erbleicht und läuft weiter. keiner weiß zu diesem zeitpunkt allerdings, was das zu bedeuten hat, denn in allen richtungen finden sich lediglich haarbüschel, kunden und angestellte. der mann ist inzwischen frisiert, er hat die frau nicht gesehen, ist guter dinge und verlässt den laden. es vergehen einige unspektakuläre minuten. dann geht die tür auf, die frau stürmt herein, wirft sich auf den boden, und klaubt haarbüschel zusammen, alle in einer einzigen farbe, der haarfarbe des mannes, der gerade in eine straßenbahn eingestiegen ist, um das vorabendprogram nicht zu verpassen. dieser mann kann jetzt auch beruhigt in den feierabend fahren, denn außer seiner haarfarbe ist nichts an ihm für die geschichte interessant. während dauerwellen für die ewigkeit gelegt und strähnchen für den urlaub gewünscht werden, stopft sich besagte frau die taschen mit haaren voll und bevor zwei besorgte scherenträger eine frage stellen können, ist sie schon wieder hinausgelaufen. der geschäftsbetrieb hat vorrang und der laden versinkt erneut in der produktion von vorstadtfrisuren, die episode verblasst und hat sowieso für niemanden im laden eine ernsthafte bedeutung.
die frau ist zuhause, ein schnellgericht in ihrem magen, eine tüte mit haaren vor ihr auf dem tisch. sie riecht daran, nickt und nimmt einige haare in die hand, prüft sie mit daumen und zeigefinger, nickt erneut, steckt sie in den mund und kaut eine weile gedankenverloren darauf herum. dann greift sie zum telefon, sie wählt eine nummer, wartet auf eine antwort, dann spricht sie in die muschel: "ich habe dein haar, dein resthaar meine ich." sie hört zu, schüttelt den kopf und lacht. "du weißt, was man über haare und männer sagt. ich habe dein haar. ich…". es klickt, die verbindung ist unterbrochen, aber sie ist zufrieden. sie geht mit der tüte ins badezimmer, wo ein poster hängt wie überall in der wohnung, ein filmplakat. die haare in der tüte haben die gleiche farbe wie die haare des mannes im vordergrund des bildes. sie streicht leim über das poster, nimmt die haare aus der tüte und drückt sie gegen das papier, einige haare bleiben haften, das poster wird ansatzweise dreidimensional. sie lächelt den mann an, drückt ihm einen kuss auf die lippen, dorthin wo das papier aufgeweicht ist. der mann spielt einen piraten in diesem film, er spielt andere rollen in anderen filmen, deren plakate die wände bedecken. dann fällt ihr blick neben das plakat, sie schreit auf. sie greift zu einer nagelfeile, sticht damit zu, immer und immer wieder. "er gehört mir", schreit sie und attackiert das glas des spiegels, bis sie müde wird zu stechen, der spiegel ist hinreichend zerkratzt, sie muss die frau nicht mehr sehen. sie füllt wasser in die badewanne, steigt hinein lehnt sich zurück, den blick fest auf das plakat gerichtet, von dem noch haare auf den boden rieseln, und ihr gesicht wird weicher als es seit langem gewesen ist. sie wird in der badewanne einschlafen, am morgen mit kopfschmerzen aufwachen, sich über den spiegel wundern und zur arbeit fahren, am abend ins kino gehen. es wird aber nicht genug spannendes passieren um ein verbleiben bei dieser frau zu rechtfertigen. auch sonst gibt es nicht viel aus diesem teil der stadt zu berichten. ein mensch im vorort wundert sich noch jetzt über einen seltsamen telefonanruf. eine frau hat ihm erklärt, sie hätte sein haar. er hätte es gern zurück, denn seit sieben jahren ist seine glatze nun vollständig, aber er glaubt nicht, dass die frau es ihm zurückgeben kann. sonst ist alles beim alten, es wird nach 18 uhr niemand mehr den bürgersteig berühren wollen, die jungen männer träumen weiter von der flucht und schwängern ihre freundinnen, deren kinder niemals in der großstadt aufwachsen sollen. in der lokalredaktion werden nur die todesanzeigen korrektur gelesen, weil der rest niemanden interessiert. busse ziehen immer mehr dunkle linien in den schnee, der die alten linien immer wieder auffüllt, kinder stürzen die ersten kümmerlichen menschengestalten wieder um, eine deutsche vorstadt hat endlich den winter begrüßt.




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Eingereicht am 08. September 2003.
Herzlichen Dank an den Autor.
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