ISBN 3-9809336-0-1
Lust am Lesen
Lust am Schreiben
Ein Beitrag zum Kurzgeschichtenwettbewerb "Im Frisiersalon"
stadtspiegel
Eine Kurzgeschichte von Jan K. Woike
busse ziehen dunkle linien in den schnee, kinder häufen die ersten fetzen zu
kümmerlichen menschengestalten auf, eine deutsche vorstadt hat sich endlich
vom herbst getrennt.
gasheizungen belächeln ofenheizungen, ofenheizungen belächeln die heizungslosen,
gedanken an weihnachtsgeld erzeugen investoren wohin man nur hört. es ist richtig,
dass die bürgersteige nur bis 18 uhr den boden berühren, es ist richtig, dass die
jugend in die größeren städte fliehen will, es ist richtig dass die
lokalnachrichten nur wegen der todesanzeigen gelesen werden. das muss aber
jetzt nicht stören, wenn einer der busse nun um die ecke biegt, es steigt ein
mann aus, ein ziel vor augen, die hände in den manteltaschen, er geht recht
schnell die straße entlang, weil ihn das schneewasser in seinen schuhen stört.
er öffnet die tür des frisiersalons, betritt den raum und atmet warme luft,
lässt seinen mantel am haken und freut sich auf die kopfwäsche, seinen
erotischsten moment im monat. neben ihm sitzen nur menschen ohne bedeutung
für diese geschichte, in der eine frau ihrem spiegelbild die augen auskratzen
wird. aber die dinge sollten nicht dem zeitstrom entrissen werden, deshalb
spielt die handlung weiterhin oberhalb von zahlreichen haarstücken und
unterhalb von scherenklingen, nur die wartezeit des mannes ist jetzt
übersprungen worden. während die hände des personals ihre arbeit verrichten,
kommt eine frau am laden vorbei, sie schaut hinein, erbleicht und läuft
weiter. keiner weiß zu diesem zeitpunkt allerdings, was das zu bedeuten
hat, denn in allen richtungen finden sich lediglich haarbüschel, kunden
und angestellte. der mann ist inzwischen frisiert, er hat die frau nicht
gesehen, ist guter dinge und verlässt den laden. es vergehen einige
unspektakuläre minuten. dann geht die tür auf, die frau stürmt herein,
wirft sich auf den boden, und klaubt haarbüschel zusammen, alle in einer
einzigen farbe, der haarfarbe des mannes, der gerade in eine straßenbahn
eingestiegen ist, um das vorabendprogram nicht zu verpassen. dieser
mann kann jetzt auch beruhigt in den feierabend fahren, denn außer seiner
haarfarbe ist nichts an ihm für die geschichte interessant. während
dauerwellen für die ewigkeit gelegt und strähnchen für den urlaub gewünscht werden, stopft sich besagte frau die taschen mit
haaren voll und bevor zwei besorgte scherenträger eine frage stellen können,
ist sie schon wieder hinausgelaufen. der geschäftsbetrieb hat vorrang und
der laden versinkt erneut in der produktion von vorstadtfrisuren, die
episode verblasst und hat sowieso für niemanden im laden eine ernsthafte
bedeutung.
die frau ist zuhause, ein schnellgericht in ihrem magen, eine tüte mit
haaren vor ihr
auf dem tisch. sie riecht daran, nickt und nimmt einige haare in die hand,
prüft sie
mit daumen und zeigefinger, nickt erneut, steckt sie in den mund und kaut
eine weile gedankenverloren darauf herum. dann greift sie zum telefon, sie
wählt eine nummer, wartet auf eine antwort, dann spricht sie in die
muschel: "ich habe dein haar, dein resthaar meine ich." sie hört zu,
schüttelt den kopf und lacht. "du weißt, was man über haare und männer
sagt. ich habe dein haar. ich…". es klickt, die verbindung ist unterbrochen,
aber sie ist zufrieden. sie geht mit der tüte ins badezimmer, wo ein
poster hängt wie überall in der wohnung, ein filmplakat. die haare in
der tüte haben die gleiche farbe wie die haare des mannes im vordergrund
des bildes. sie streicht leim über das poster, nimmt die haare aus der
tüte und drückt sie gegen das papier, einige haare bleiben haften, das
poster wird ansatzweise dreidimensional. sie lächelt den mann an, drückt
ihm einen kuss auf die lippen, dorthin wo das papier aufgeweicht ist.
der mann spielt einen piraten in diesem film, er spielt andere rollen in
anderen filmen, deren plakate die wände bedecken. dann fällt ihr blick
neben das plakat, sie schreit auf. sie greift zu einer nagelfeile, sticht
damit zu, immer und immer wieder. "er gehört mir", schreit sie und
attackiert das glas des spiegels, bis sie müde wird zu stechen, der
spiegel ist hinreichend zerkratzt, sie muss die frau nicht mehr sehen.
sie füllt wasser in die badewanne, steigt hinein lehnt sich zurück, den
blick fest auf das plakat gerichtet, von dem noch haare auf den boden
rieseln, und ihr gesicht wird weicher als es seit langem gewesen ist.
sie wird in der badewanne einschlafen, am morgen mit kopfschmerzen aufwachen,
sich über den spiegel wundern und zur arbeit fahren, am abend ins kino gehen.
es wird aber nicht genug spannendes passieren um ein verbleiben bei dieser
frau zu rechtfertigen. auch sonst gibt es nicht viel aus diesem teil der stadt zu berichten. ein mensch im vorort wundert sich noch jetzt über einen
seltsamen telefonanruf. eine frau hat ihm erklärt, sie hätte sein haar.
er hätte es gern zurück, denn seit sieben jahren ist seine glatze nun
vollständig, aber er glaubt nicht, dass die frau es ihm zurückgeben kann.
sonst ist alles beim alten, es wird nach 18 uhr niemand mehr den bürgersteig
berühren wollen, die jungen männer träumen weiter von der flucht und
schwängern ihre freundinnen, deren kinder niemals in der großstadt aufwachsen
sollen. in der lokalredaktion werden nur die todesanzeigen korrektur gelesen,
weil der rest niemanden interessiert. busse ziehen immer mehr dunkle linien
in den schnee, der die alten linien immer wieder auffüllt, kinder stürzen die
ersten kümmerlichen menschengestalten wieder um, eine deutsche vorstadt
hat endlich den winter begrüßt.
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Eingereicht am 08. September 2003.
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