ISBN 3-9809336-0-1
Ein Beitrag zum Kurzgeschichtenwettbewerb "Im Frisiersalon"
Eigentlich wie immer
Eine Kurzgeschichte von André Linke
Entspannt sackte ich ein Stück in den Stuhl hinein. Das fremde Fräulein an meiner Seite machte sich gerade daran, meine langen dicken welligen Haare abzuschneiden.
"Probier' doch mal was Neues.", hatte Martha letzten Donnerstag zu mir gesagt.
Daraufhin hatte ich nur mit den Schultern gezuckt, ein teilnahmsloses "Von mir aus" zur Antwort gegeben, und mir sogleich einen Termin beim nächstgelegenen Friseur besorgt.
Es stimmte ja, dass ich seit Jahren dieselbe Frisur hatte, die im Grunde gar
keine war: Lange zottelige Haare, die einfach nur so herunterhingen. Zwar
waren sie dick und schön, allerdings auch recht widerspenstig - Spliss war
angesagt, und die Naturlocken passten nicht wirklich zu mir. Bei meiner
Gesichtsform sah es auch nicht gut aus, wenn ich meine Mähne zu einem Zopf
zusammenband. Andererseits konnte ich es mir auch unter keinen Umständen
leisten, ganz kurze Haare zu tragen.. "Probier' doch mal was Neues.",
hatte Martha gesagt. "Mittellang, füllig, peppig... Du weißt schon!" Ich hatte ihr zugenickt und den Telefonhörer in die Hand genommen.
Und jetzt war ich hier. Ich saß in einem schwarzen knautschigen Lederstuhl und starrte verkrampft in den Spiegel, um mich von meiner gewohnten dunkelblonden Haarpracht zu verabschieden, während ich innigst von einem kitschigbunten Umhang umarmt wurde. Wenigstens war es hier nicht so unangenehm wie in einem Wartezimmer oder in einem Fahrstuhl, denn die meisten der Leute in diesem großen Raum waren mit Schnippeln oder Sitzen beschäftigt.
"Na?", meinte die Auszubildende freudig. "Was hätten wir denn gern?"
Erst sagte ich nichts. "Haben Sie sich denn schon in unserem Frisurenkatalog umgesehen?"
Mein Blick blieb beim Spiegel. Bei mir. Bei meinen Haaren. Meinem Gesicht. "Mittellang."
Das Mädchen beugte sich etwas zu mir herunter. "Mittellang, sagen Sie?"
"Füllig... peppig?", kam es unsicher aus mir heraus.
Überraschenderweise haute sie mir in aller Lebensfreude sofort auf den Rücken. "Ach, Madame, das kriegen wir hin!" Jaja. War ja klar. Schließlich war ich erst siebzehn. Mit mir konnte man so was ja noch machen.
Anscheinend hatte die Genossin bereits eine Idee, welche zur Errettung meines gesamten Hauptes entscheidend beitragen sollte. Tatsache war, dass ich keine hatte, und so erteilte ich ihr stumm und bedingungslos die Erlaubnis, an meinen Haaren herumzubasteln.
Ich wusste, dass es in diesem und in jedem anderen Fall sowieso nichts bringen würde, sich verrückt zu machen. Entweder, ihr würde diese Mission gelingen, oder eben nicht. Ein aufgeregtes Zittern hatte in meinen Augen noch nie geholfen. Auch nicht, wenn es bloß innerlich stattfand. Also ließ ich sie einfach mal machen.
Halbwegs entspannt sackte ich ein kleines Stück in den Stuhl hinein, nachdem ich einmal tief durchgeatmet hatte. Neben mir ruhte die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift SPIEGEL. Ich erblickte sie, krallte sie, und öffnete sie. Ablenkung - so viel ist hoffentlich sicher - hat sich als eine äußerst hilfreiche Methode bewährt. Darüber hinaus hat ein wenig ,Bildung' noch niemandem wehgetan. Ein wenig. Zumal ich wusste, dass mein Allgemeinwissen nicht sehr groß war, vertiefte ich mich umgehend in Artikel
mit den langweiligsten und gleichzeitig wichtigsten Themen der Welt: Ronald Schill hätte irgend so einen Bürgermeister beleidigt, der mächtige Stromausfall in den Vereinigten Staaten sei für das Land eine Lektion, Angela Merkel kritisiere natürlich auch heute den armen Schröder, und irgend so ein Bürgermeister hätte Ronald Schill gefeuert. Zwischendurch drückte jemand meinen Kopf mal nach oben, mal nach links, mal nach rechts, und dann wieder nach unten. Meine Augen blieben stets auf den SPIEGEL gerichtet.
"So!", rief mein Fräulein laut aus. "Fertig!"
Im ersten und zweiten Moment dachte ich nur daran,
mich zu ärgern, weil ich erst die Hälfte dieser Illustrierten durchgelesen hatte.
"Sie wollten ja gar nicht zusehen. Sind Sie denn zufrieden, Madame?"
Blitzartig schaute ich auf. Was ich im Spiegel vorfand, war... war etwas Anderes. Etwas Neues. Meine Haare waren deutlich kürzer, jedoch nicht zu kurz. Nahezu mittellang. Recht füllig. Die Frisur, die mir verpasst worden war, wirkte wirklich peppig. Es sah tatsächlich gut aus, passte hervorragend zu meinem Gesicht. Verträumt sagte ich: "Bravo."
Zufrieden - nein, wohl eher stolz - grinste das Mädchen, das da neben mir stand und eine superschöne Frisur mit langen blonden Haaren trug.
Doch zwei Sekunden später wurschtelte die Frau erneut in meiner Pracht herum. "Wir können es auch noch abstufen, oder helle Strähnchen reinfärben."
"Nee, danke." Ohne herunterzusehen klappte ich meine Lektüre zu. "Ich möchte gerne zahlen."
Wenn Sie einen Kommentar abgeben möchten,
benutzen Sie bitte unser
Diskussionsforum.
Unsere Autorinnen sind sicherlich
genau so gespannt auf Ihre Meinung wie wir und all die anderen Leser.
Eingereicht am 07. September 2003.
Herzlichen Dank an die Autorinnen.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorinnen.