ISBN 3-9809336-0-1
Lust am Lesen
Lust am Schreiben
Ein Beitrag zum Kurzgeschichtenwettbewerb "Im Frisiersalon"
Ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag
Eine Kurzgeschichte von Mia Camara
"Zwei Dauerwellen, einmal Strähnchen, zweimal Waschen-Schneiden-Legen, eventuell einmal Ponyschneiden!" begrüßte mich meine Chefin an diesem Morgen. Ich atmete einmal tief durch - und ging dann frisch ran ans Werk!
Die erste Dauerwelle entpuppte sich als Dame Ende Fünfzig, die mir als erstes ihre frische OP-Narbe am rechten Oberschenkel präsentierte und die dazugehörige Geschichte in allen Details gratis lieferte.
Beim Eindrehen der Dauerwellenwickler informierte sie mich eingehend über ihr Blasenproblem und wie dieses sich im Alltag äußerte. Nachdem die Fixierung aufgetragen war, wusste ich genauestens Bescheid über ihre Schwierigkeiten beim Stuhlgang bis hin zu ihren Arthroseschmerzen im Knie.
Es folgte die Zeit des Einwirkens der Fixierflüssigkeit und damit eine Zeit der Stille für mich.
Unterdessen kam einmal Waschen-Schneiden-Legen und setzte sich gespannt vor den Spiegel. Sie wollte eine Typberatung von mir - und voller Begeisterung zog ich alle Register und fühlte mich ganz in meinem Element. Während ich daraufhin mit der Schere schnippelte und mit dem Kamm herumhantierte, wollte Waschen-Schneiden-Legen ganz genau wissen, wie das denn nun im trockenen und gestylten Zustand wirken würde. Sie gab Bericht von den neuesten Trend-Frisuren der Promis und welchen der Schauspielerinnen und Sängerinnen diese nun aber gar nicht gut zu Gesicht standen. Natürlich wollte sie meine fachkundige Meinung dazu wissen, und insgeheim schämte ich mich, dass ich manchen der genannten Promis nicht einmal dem Namen nach kannte. Zu dumm aber auch, man wird in diesem Beruf einfach nicht umfassend ausgebildet.
Inzwischen war die Dauerwelle fertig und die Wickler wollten herausgedreht werden - im gleichen Zuge vertraute die Dauerwelle mir noch ein paar weitere Auswirkungen ihrer Arthrose an. Die verbleibende Zeit bis zum Auftragen des Haarsprays reichte gerade eben aus, um ihre Darstellungen für sie einigermaßen zufriedenstellend abzurunden.
Nun kamen die Strähnchen und nahmen vor dem Spiegel Platz. In der folgenden Stunde erfuhr ich eine ganze Menge über den Königshof in Schweden, die neuesten Affären in England und den Urlaubsort der Fürstenfamilie von Monaco. Klasse - so konnte ich wieder etliche Euro sparen, die ich sonst eventuell in Versuchung gekommen wäre für die Anschaffung diverser Frauenzeitschriften zu investieren.
Eine weitere Dauerwelle hatte Platz genommen - und ich kannte sie allzu gut, war es doch meine eigene Nachbarin. Sie hatte mich als ihre Stammfrisöse auserkoren, denn es gab so viele Fragen, auf die sie von mir Antwort erhoffte. Wer war die junge Frau, die in diesem Monat schon zum fünften Mal gegen Mittag bei Herrn Schulz ins Haus gegangen und nach einer guten Stunde - einmal dauerte es sogar knappe 90 Minuten - wieder herausgekommen war? Und wen rief Frau Becker ständig im benachbarten Park von ihrem Handy aus an, obwohl sie doch einen Festnetzanschluss im Haus hatte? Was war mit den beiden Töchtern von den Müllers los - war es nicht eine Verantwortungslosigkeit ohnegleichen, dass die Eltern ihnen erlaubten, abends so spät heimzukommen? Was konnte nicht alles passieren! Ob ich von dem schrecklichen Sexualmord gelesen hatte, der vor einigen Tagen in Köln aufgedeckt worden war? So eine Dauerwelle kann ganz schön mühsam sein.
Die nächste Waschen-Schneiden-Legen sagte kein Wort. Mir war zuerst etwas unwohl, und ich versuchte, ein Gespräch über das Wetter anzuleiern. Was ausblieb, war eine Reaktion. Sie schien ganz in ihre eigenen Gedanken versunken zu sein - und ich atmete tief durch und hatte 30 Minuten Zeit, mich ohne ein Wort zu sprechen auf ihre Frisur zu konzentrieren. Ich genoss es richtig - bis sie mich in beißendem Ton darauf hinwies, dass sie das Haar gern doch etwas länger gehabt hätte, und was denn da jetzt noch zu machen sei.
Zwischendurch kam noch ein Pony. Der wollte trocken nachgeschnitten werden, und ich ärgerte mich wieder einmal maßlos darüber, dass Besitzerin besagten Ponys es vehement abstritt, diese Aktion zuhause unverkennbar selber ausprobiert zu haben.
Die Chefin schloss die Ladentür und wir säuberten Wickler, Bürsten und Kämme und fegten Haare auf.
Ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag war vorbei. Zwei Dauerwellen, einmal Strähnchen, zweimal Waschen-Schneiden-Legen, einmal Ponyschneiden. Und ich ging heim.
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Eingereicht am 04. August 2003.
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