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Samanda Ra'ia

Von Michael Schnitzenbaumer


"Nicht deine Abstammung bestimmt deine Gesinnung, sondern dein innerster Kern, denn die von ihm ersonnenen Taten spiegeln wider, ob du dich dem Guten zuwendest, oder ob du dem Bösen erliegst."
Zitat Gimata Kanamo, Hochmeister der Klingen

Die angstvollen Blicke des einsamen Wanderers irrten über den nächtlich verschleierten Wald. Es schien als würde er nach Wölfen oder viel gefährlicheren Kreaturen Ausschau halten, die zwischen den hölzernen Fratzen der zerfurchten Bäume umherschlichen, denn auf der Welt Avalgaron durchstreifen unheimliche Geschöpfe die finsteren Wälder.
Was war das! Der alte Wanderer lauschte aufmerksam. Da raschelte ein Busch in seiner Nähe. Sofort stand er still und beobachtete angestrengt die Gegend.
"Ist da jemand?", krächzte er in die Dunkelheit. - Stille!
Der Alte schüttelte den Kopf, als wollte er seiner törichten Ängstlichkeit spotten, dann setzte er seinen Wanderstab energisch auf den Boden und schritt langsam weiter.
"Was?" Wieder ein Geräusch! Nicht weit von ihm entfernt knackte ein Ast. Dem alten Mann blieb keine Zeit sich aufs Neue umzusehen, denn ein Atemzug später erfolgte der Angriff. Flink schnellte eine filigrane Gestalt aus dem Buschwerk, seitlich des Weges heraus, sprang ihn mit katzenhafter Geschmeidigkeit an und warf ihn zu Boden.
Des Wanderers Blicke trafen auf hungrige rotleuchtende Augen, und auf zwei lange Hauer, die aus dem aufgerissenen Rachen herausblitzten und sich langsam seiner pochenden Halsschlagader näherten.
"Lass mich am Leben, Mädchen", flehte der Alte, denn er bemerkte unter dieser kalten, fahl schimmernden Haut ein zierlich aussehendes Wesen von seltsamer Schönheit, deren schwarzes Haar durch die Lüfte tanzte, obwohl nicht der kleinste Windhauch zu spüren war.
"Nein! Bitte nicht!" Ihr frostiger Atem befeuchtete schon seine Haut - dann aber, ganz unverhofft, hielt sie inne.
Der Alte glaubte eine Spur von Mitgefühl in den zuvor so seelenlosen Augen zu erkennen. Die junge Frau sah traurig und verwirrt auf ihn herab, erhob sich schnell und meinte nur: "Los! Verschwinde!"
"W.., w... wie?", stammelte der Wanderer verblüfft. Gleich darauf rappelte er sich aber auf und suchte, ohne auf eine nähere Erklärung zu warten, das Weite.
Das unheimliche Fräulein beobachtete noch, wie er hinter einer Biegung verschwand - dann erschrak sie selbst. Ein spöttisches Lachen hallte durch den dunklen Wald.
"Samanda, Samanda!" höhnte jemand ihren Namen. "Ich wusste es! Du bringst es nicht über dich, einen Menschen zu töten. Du hast es nach siebzehn Jahren nicht über dich gebracht, du wirst es auch in deiner letzten Nacht nicht tun." Ein hochgewachsener schlanker Kerl trat zwischen den Bäumen heraus und schwebte dem Mädchen finster lächelnd entgegen.
"Die Nacht ist noch nicht vorbei, Bruder. Dieser Alte ... war nicht das Richtige für mich", verteidigte sie sich etwas verlegen.
Abermals ertönte sein überhebliches Gelächter. "Nenn' es wie du willst! Doch deine Seele gehört bereits mir. Dein dummes, dummes Herz wird dich auch weiterhin daran hindern, Menschenblut zu trinken. - Also reiße dir ein letztes Tier, bevor es mit deinem Leben zu Ende geht."
"Freu' dich nicht zu früh, Silmar! Die Mitglieder des alten Rates hassen meine Eigenart und wollen mich persönlich vernichten. Wie würdest du also dastehen, wenn du ihnen dieses Vergnügens stielst? - Nein! Du bis nicht befugt, meiner Existenz ein Ende zu setzen", ermahnte sie ihn, mit bösen Blicken.
"Wie dem auch sei, Schwesterchen! Der Rat bietet dir eine letzte Gelegenheit, dich zu bewähren. Unten im Dörfchen Kalbadur wohnt ein Kleriker des Paros, der schon viele der unseren ermordet hat. Diesen Kleriker beseitige und dir wird Gnade gewährt. Wenn du aber diesmal versagst, hast du dein untotes Leben verwirkt!" Damit verformte sich sein Leib zu Nebel. Der löste sich auf und verschwand.
Samanda blieb nichts anders übrig, als ihrem Bruder zu gehorchen. "Wie stelle ich es nur an, das Leben des Ehrwürdigen zu schonen?" fragte sie sich aber insgeheim. Doch so sehr sie auch grübelte, ihr fiel einfach nicht ein, wie sie den Kleriker und gleichzeitig sich selbst hätte retten sollen.
Kurz vor Kalbadur wurde ihr das Herz sehr schwer. "Ich muss mit ihm reden, und darauf vertrauen, dass er mir zuhört", sprach sie zu sich, als sie das schlummernde Dorf erreichte. "Er ist sicher ein weiser und verständiger Mann und weiß bestimmt einen Ausweg. Ja so mache ich es!"
Bald darauf stand Samanda Ra' ia vor der Hütte des Klerikers. Still und verschlafen lag sie da, und als sie durch das Fenster in die dunkle Stube kletterte, vernahm sie nur das gleichmäßige Ticken der Wanduhr.
,Sicher schläft er schon', dachte sie und schlich leise weiter.
Tatsächlich! Unter der Bettdecke zeichnete sich ein Körper ab, doch Samanda hatte bei dem Anblick plötzlich ein ungutes Gefühl.
"Hört mich an Ehrwürdiger! Ich muss Euch zu reden".
Keine Antwort, keine Regung! Da packte sie die Decke, und mit einem Ruck, zog sie den Stoff von dem schlafenden Mann. Schlafend? Samanda erschrak fürchterlich und wich entsetzt zurück. Der Kleriker schlief nicht - er war tot!
"Nein!", rief das Mädchen und schüttelte ungläubig den Kopf. "Diese Wunden an seinem Hals!" Nur einer der ihren war fähig, solche Einstiche zu hinterlassen.
Plötzlich vernahm Samanda von draußen aufgebrachte Rufe.
Wenige Sekunden später hämmerten aufgeregte Bürger an die Tür und riefen den Toten beim Namen. Der war natürlich nicht mehr in der Lage Antwort zu geben. Daher schwoll das Hämmern zu einem zornigen Donnern an. Samanda wusste, dass die alte Türe nicht lange standhalten würde. Schnell wandte sie sich flüchtend zum Fenster.
Zu spät! Die Tür fiel aus den Angeln und ein wütender Haufen, angeführt vom dicken Bürgermeister Erich Kräutel, polterte in die Stube, direkt auf Samanda zu.
"Packt die untote Brut!" rief der Bürgermeister. "Lasst sie nicht entkommen!" Sofort wurde Samanda überwältigt und ergriffen.
"Nein! Ich habe es nichts getan!" versicherte sie noch. Die Bürger aber umschnürten ihren Leib mit schweren Ketten. "Bitte glaubt mir." Langsam begriff sie, wie sich der Mord an dem heiligen Mann zugetragen hatte. "Mein Bruder Silmar hat den Ehrwürdigen getötet! - Nicht ich."
Doch ungeachtet ihrer Worte zerrte sie die aufgebrachte Menge vor die Hütte. Sie war in Silmars Falle gegangen. Hätte er sie eigenhändig getötet, hätte er sich den Zorn des Rates zugezogen. Daher hatte er des Klerikers Leben beendet und anschließend das ganze Dorf aus dem Schlaf geholt.
"Was sollen wir mit der Höllenbrut anstellen, liebe Leute?", fragte Kräutel seine wütenden Untertanen.
"Tötet sie!" riefen da manche. "Auf den Scheiterhaufen mit ihr!" krähten andere. "Ja! Brennen soll sie!" Die braven Bürger waren sich schnell einig.
"Ihr macht einen großen Fehler! Ihr werdet doch von Silmar nur benutzt." Samandas Verzweiflung wuchs. Unter Tränen beobachtete sie, wie die Bürger schon eifrig trockenes Holz zu einem hohen Haufen stapelten. Zwei kräftige Knechte wollten die zappelnde Samanda gerade auf seinem Gipfel platzieren, da ertönte eine Stimme, dunkel und hart: "Was geht hier vor?"
Plötzlich herrschte eine erschrockene Stille. Die Leute erblickten einen großen, breit gebauten Mann. "Wer ist dieser Riese?" wunderten sie sich. Nur Kräutel erkannte den alten Kampfmagier von der Kaste der Klingenmeister sofort. "Meister Gimata! Welche Ehre zu so ..."
"Erspare mir deine Huldigung. Beantworte lieber die Frage!"
Samanda blickte auf Gimatas gezogene Klinge. An ihr klebte schwarzes Blut, und sie erkannte ein paar silbrig schimmernde Haarstränge, die nur von Silmar stammen konnten.
Auch Kräutel sah das verfluchte Blut und so erzählte er mit stolzgeschwellter Brust, welchen Fang sie gemacht hätten. Gimata wurde jedoch sehr zornig und befahl die Gefangene umgehend frei zu lassen. Zu Samandas Erleichterung wagte es niemand, dem Kampfmagier zu widersprechen. Die Bürger gehorchten missmutig, ließen sie laufen, und sahen, wie sie mit dem Meister im Wald verschwand.
"Warum habt ihr meinen Bruder getötet, mich aber gerettet?", fragte das Fräulein verwirrt, als sie mit Gimata.
Der lächelte listig. "Ich habe dein Herz geprüft!" Die Gestalt des Kampfmagiers verschwamm und verwandelte sich vor einer sehr erstaunten Samanda Ra' ia in den alten Wanderer, dessen Leben sie vorhin verschont hatte. "Es lodert jetzt schon so hell, dass es keines Feuers mehr bedarf, um dessen Wärme zu entfachen."
Später, so wurde berichtet, erwählte Meister Gimata Samanda zu seiner Schülerin. Sie erlebten zusammen allerhand unglaubliche Abenteuer. Zu ihrer hasserfüllten, blutdurstigen Sippschaft aber, kehrte Samanda nie wieder zurück.


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