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Die Gier

Von Dean Olschewsky


Es ist unsere Zeit. Es ist Sommer. Es ist Mittag. Es ist heiß. Hoch steht die Sonne über dem Dörfchen an einer Küste irgendwo im Nirgendwo. Ein Falke sitzt auf einem der Dächer und blickt hinab auf die Straßen. Es wirkt lieblich, harmonisch, wie gemalt. Aber der Maler scheint einen Fehler gemacht zu haben.
Im Schatten einer der vielen kleinen Gassen, die sich durch das Dorf wie Adern ziehen, verbirgt sich ein anderer Schatten. Lasziv lehnt er an der Häuserwand, still, unbewegt. Nur die Glut einer Zigarette lässt Leben erahnen. Sie schwingt hin und her, glimmt hell auf, fällt dann hinab und erlischt mit einem Mal.
Er ist ein Reisender. Er war schon in vielen Ländern, an vielen Orten, kennt die Kulturen besser als sie sich selber kennen, verfügt über Fähigkeiten, die man längst vergaß und über Wissen, das man nie erfahren wird. Er philosophierte mit dem Mächtigsten, machte seine Wünsche zu ihren Zielen, leise und heimlich, und verursachte die größten Kriege und die schlimmsten Katastrophen. Er war immer da, nie fort. Immer ein anderer. Er war Lehrer und Schüler, Arzt und Kranker, Richter und Mörder, Kläger und Angeklagter, Priester und Ketzer. Und doch trug er immer seine Maske, ließ nie erahnen wer er ist. Er liebte und liebt noch immer dieses Spiel aus Lug und Betrug.
Für ihn spielt Zeit keine Rolle. Ihr widerstand er, macht sie sich untertan schon vor Jahrhunderten ... nein schon vor Jahrtausenden, raubte sie einem Dämonen. Er hat gelernt perfekt zu sein, seine Gefühle zu steuern, sich nichts anmerken zu lassen und immer die Oberhand zu behalten. Nur eines blieb in ihm als Überbleibsel der Tiere: die Gier nach jungem Blut.
Während ihm all dies im Kopf umher schwirrt, schweift sein Blick auf die Straße. Abseits der Schatten erblicken seine müden Augen etwas Erfreuliches: Eine zierliche Gestalt steht auf der anderen Straßenseite, blickt hinauf zum Falken, während sie mit einer Hand ihr Gesicht vor der Sonne abschirmt.
Der Reisende zündet sich eine weitere Zigarette an.
Mit einer kurzen Bewegung stößt er sich von der Wand ab und tritt ohne Zwang aus dem Schatten.
Langes braunes Haar umrahmt ein schmales, blasses Gesicht. Die Wangenknochen liegen hoch, erhaben, geben seinem Äußeren eine gespielte Herzlosigkeit. Die Augen sind von einem tiefen Braun, das einen leichten Rotstich aufweist. Seine Hände sind glatt und sanft, weisen keine Spuren von Arbeit auf. Er trägt einen langen Mantel aus braunem Wildleder, ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Darunter verbirgt sich ein Paar staubige Stiefel, eine alte, abgewetzte Arbeitshose und ein langes Hemd, welches mit Ornamenten und Symbolen verziert ist. Auf dem Kopf trägt er einen staubigen Hut, der an alte Cowboy-Zeiten erinnert. Er hat ihn ein Stück ins Gesicht gezogen und eine kleine schwarze Sonnenbrille verdeckt die Augen. In der Hand hält er eine alte Tasche, die an mehreren Stellen bereits geflickt wurde.
Gelassen schlendert der über die Straße. Die Frau beachtet ihn immer noch nicht, schaut weiterhin dem Raubvogel nach. Der Reisende stellt sich neben sie, drückt die Zigarette geschickt am Stiefel aus, spricht sie an, während er in die Schatten blickt.
"Ein schöner Tag, nicht wahr Madame?"
Die Frau blickt auf und schaut ihn erstaunt an.
Ihr blondes Haar fällt glatt auf ihre Schulter, Das Gesicht aus Schnee umspielt die Rosen ihres Mundes und die Augen aus blauem Saphir. Sie trägt ein langes weißes Kleid, das sich eng um ihren Körper schmiegt.
"Ja, ein sehr schöner Tag. So einen Tag erlebt man nicht oft."
"Schon, aber verglichen mit Ihnen vermag nichts schöner zu sein."
Ihre Wangen röteten sich sanft. Verlegen schaute sie wieder dem Falken nach.
"Darf man fragen wie Ihr Name sei? Ich wäre untröstlich wenn ich den Namen eines schönen Geschöpfes nie erfahren würde."
Sie blickte ihn wieder an.
"Ihr dürft. Nennt mich Jasmin, wenn Ihr es wollt. Aber wie ist Euer Name?"
"Fremdartig wie die Nacht. Ihr würdet ihn nicht aussprechen können, selbst wenn Ihr wolltet. Doch Ihr könnt mich Arthur nennen." Ein Name der vielen Masken.
"Ein passender Name. Wollt Ihr mich nicht ein Stück begleiten, runter zum Meer? Es ist eine passende Gelegenheit um mal einen Spaziergang zu machen."
"Nichts täte ich lieber."
Jasmin nimmt seine Hand, schaut ihn verträumt an und läuft los.
Er lässt sich führen, mit einem eiskalten Lächeln auf den Lippen.
Sie gehen eine Weile ruhig die Küste entlang, schauen den Vögeln am Horizont nach.
Sie lachen, sprechen viel, freuen sich und sind froh.
Hinter ihnen türmen sich schwere, schwarze Gewitterwolken.
Jasmin wirft einen Blick zurück.
An einer steinigen Klippe halten sie an. Bedächtig nimmt Jasmin seine Hand in die ihre, fährt behutsam die feinen Linien seiner Adern nach und blickt ihm in die braunen Augen.
Ein Lächeln umspielt ihren Mund. Sie legt seine Hand um ihre Taille, legt ihre um seinen Hals und drückt sich fest an ihm.
Der zarte Geruch der Jugend betört seine Nase, ihre Wärme lässt ihn erzittern. Sanft drückt er gegen ihren Rücken, sich seiner ständig wachsenden Gier bewusst. Jasmin legt ihren Kopf an seine Brust, schließt die Augen und ist ruhig. So verharren beide, und nur der Flügelschlag eines vereinzelten Vogels ist zu hören.
Der Reisende kann sich nicht mehr halten. Zu groß ist sein Verlangen, zu sehr muss er seine Gier unterdrücken um nicht der Raserei zu verfallen. Mit der rechten Hand streicht er Jasmin zärtlich durch das seidene Haar, während er mit der anderen Hand ihren schlanken, blassen Hals frei legt. Er küsst sie auf die Stirn, fährt die Wangen hinab, liebkost ihren Mund. Dann nähert er sich ihrem Hals. Seine Lippen berühren ihn. Jasmin erschauert, eine zarte Gänsehaut breitet sich rund um seine Lippen aus. Dann bewegt sich sein Mund wieder rauf, bis seine Lippen nahe an ihrem Ohr sind. Und leise flüstert er ihr zu: " Das war ein Fehler, Jasmin ... du wirst sterben."
Stille.
Ein Vogel kreischt hoch über ihnen. Es ist der Schrei eines Falken.
Jasmin erschrickt nicht.
Stattdessen hebt sie den Kopf und blickt dem Reisenden direkt in die Augen.
Innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde verfärbt sich das Saphirblau in ein Blutrot. Ihr zartes Lächeln verkommt zu einer höhnischen Grimasse, ihr blondes Haar verfärbt sich aschgrau und ihre Finger verderben zu Klauen, die sich fest in sein Fleisch graben.
Nun liegt auch der Sturm über ihnen. Blitze zucken herab, schlagen in den Boden um sie herum ein. Das Meer schlägt ungebändigt gegen die Felsen und tosende Winde jagen über die Klippen.
Er stößt sie von sich, taumelt einige Schritte zurück und bleibt dann ungläubig stehen. Jasmin indes sinkt auf den Boden, krümmt sich und schreit wie aus tausend Kehlen auf. Ihr Kleid spannt sich, reißt am Rücken auf und ein Paar blutige Flügel aus schwarzen Federn entfalten sich zu voller Größe.
Die Kreatur richtet sich wieder auf, schwingt ihre Flügel ein paar Mal vor und zurück. Dann richtet sie ihren Blick wieder auf den Reisenden.
"Überrascht, Arthur? Oder soll ich dich Adam nennen? Endlich habe ich dich gefunden. So lange hat es gedauert ... Du schuldest mir etwas. Etwas sehr wichtiges. Du schuldest mir Zeit, sehr viel Zeit. Du hast mich verraten, wie es kein anderer tat. Ich habe entschieden ... gegen dich. Ich bin hier um das Urteil zu vollstrecken. Du wirst sterben!"
"Lilith! Nie habe ich dich verraten wollen. Jahwe selbst warf dich aus Eden, nicht ich. Was sollte ich tun? Wir beide leben ewig. Ich wollte leben. Du warst schon verdammt..."
"...Verdammt durch dich! Du hast Jahwe verraten und seine Gunst verloren. Du bist nicht besser als ich. Und du wirst sterben Adam, doch nicht so wie ich. Du wirst keine Jahrtausende tagein tagaus um den Tod betteln, der dir doch vergönnt ist. Ja, wir leben ewig, doch mein Leben hängt an deinem, wie dein Leben an meinem hängt. Ich werde dieses Band durchbrechen. Du bist eine Missgeburt, ein Fehltritt Jahwes, mehr nicht. Mir verlangt es nicht nach Erlösung. Mich treibt nur die Rache voran. Und wenn ich dabei selbst vergehe, so soll es mir recht sein. Bete zu Gott, du wirst es brauchen."
Mit diesen Worten geht Lilith in die Knie, Macht einen Sprung in die Lüfte und wirft sich mit einem einzigen Flügelschlag auf Adam. Mit jedem Blitzschlag graben sich ihre Klauen tiefer in seinen Leib. Adams Zähne beißen sich in ihrem Hals fest. Blut spritzt auf den Boden, bildet ein Meer, in dem beide wüten. Der Wind jagt über das Schlachtfeld und Blitze erhellen die von Zorn entstellten Gesichter. Keiner gibt auf, keiner lässt nach. Schlag um Schlag zerfetzen sie sich gegenseitig. Doch dann kriegt Adam Liliths Kopf zu fassen und dreht ihn um. Mit einem lauten Knacken bricht ihr Körper leblos zusammen. Der Sturm löst sich auf und die untergehende Abendsonne erscheint am Horizont. Adam spürt den Triumph in sich aufkommen. Freudig reißt er den toten Körper des schwarzen Engels gegen den Himmel, zeigt ihn voller Stolz dem Falken, der noch immer seine Kreise zieht.
"Siehst du? Ich bin so mächtig wie du! Selbst ein Dämon vermag nicht mich zu vernichten. Ich habe sie getötet!" -‚Ja, wir leben ewig, doch mein Leben hängt an deinem, wie dein Leben an meinem hängt.' - Erschrocken lässt er den Körper wieder fallen.
- Sie hat mich betrogen -
Plötzlich durchfährt ein heftiges Stechen sein Herz. Doch Adam erschreckt weniger der Schmerz, als vielmehr das Herz, das er glaubte verloren zu haben. Er schreit vor Schmerzen auf, greift um sich, taumelt, jappst, bettelt um Gnade und Vergebung. Doch es hilft alles nichts. Mit einem Mal bricht er selbst leblos über Liliths Leichnam zusammen. Als sie sich im Tode berühren, zerfallen beide augenblicklich zu Asche und werden zerstreut in alle Winde.
Der Falke jedoch zieht weiter Richtung Abendsonne, einem unbekannten Ziel entgegen.


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