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Von Licht in Schatten und zurück
Von Bianca Kronsteiner
Caren träumte und obwohl sie wusste, dass alles nur ein Traum war, ein schrecklicher, beängstigender Traum zwar, aber trotzdem nichts anderes als ein paar Bilder vor ihrem inneren Auge, keine Realität, ihr konnte überhaupt nichts geschehen. Obwohl ihr dies alles klar war, hatte Caren riesige Angst, am liebsten wäre sie aufgewacht und hätte festgestellt, dass die Uhr kurz nach Mitternacht zeigte, sie allein in ihrem Bett lag. Doch wachte sie nicht auf, zu sehr hatte das Grauen sie gepackt, ließ ihre Gedanken,
Gefühle vielleicht nie wieder los.
Nun stellt sich so mancher wahrscheinlich die Frage, was Caren in dieser Nacht träumte:
Ein blasses Gesicht, nein, eher schon eine Fratze mit unnatürlichen, großen, hässlichen Augen, schmalen, fast weißen Lippen, übergroßen Ohren ließen die ganze Gestalt noch wahnsinniger aussehen. Der Körper dieses Wesens - denn eins war klar, dies war kein Mensch - war dünn mit knochigen Armen und Beinen, die jedoch keineswegs eine Spur von Schwäche andeuteten, sondern von einer immensen Kraft.
Auch die Kleidung des Wesens erregte ein unangenehmes Gefühl in ihr ... Abscheu wäre wohl der richtige Ausdruck dafür. In der Wirklichkeit hätte der hautenge, violett glänzende, Anzug, der nur das Gesicht, Hände, Füße und Ohren freiließ, bestimmt lächerlich, schlimmstenfalls absurd, gewirkt. Doch hier, in Carens Traumwelt, hinerließ er einen Eindruck des Schreckens.
Die langen knorrigen Finger zauberten aus dem Nichts ein Seil hervor. Caren wollte wegrennen, schreien, aufwachen ... irgendetwas tun, nur bloß nicht dastehen und darauf warten, bis sich das kühle Seil um ihre Handgelenke schloss.
Doch genau das tat sie. Niemand verschränkte ihre Hände hinter ihrem Rücken und hielt sie fest, dessen war Caren sich bewusst. Es stand kein unsichtbares Ding hinter hier, das darauf wartete bis sein Kollege die Fesseln um ihre Handgelenke schlang. Nein. Ganz von selbst verschränkten sich Carens Hände hinter ihrem Rücken. Trotzdem konnte sie mit Sicherheit sagen, dass sie gegen ihren eigenen Willen diese Bewegung vollführte, so als ob jemand für einen Augenblick ihre Gedanken übernahm. Caren wartete.
Das Wesen grinste wahnsinnig. Plötzlich war es hinter ihr. Die Fesseln legten sich - beinahe sanft - um ihre Handgelenke. Am liebsten hätte sie vor Angst geschrien, doch versagte ihre Stimme.
"Wehr dich nicht. Du brauchst dich nicht zu fürchten", flüsterte das Wesen ihr ins Ohr. Es war das Erste, was es zu ihr sagte, seine Stimme ließ sie erschrocken zusammenfahren. Sie klang rau, heiser, aber absurderweise auch klar und fest. Das Wesen zog noch einmal fest an den Fesseln und strich kurz mit seinen Fingern über die ihren. Nicht nur dieses merkwürdige, schreckliche Wesen, sondern auch Caren spürte den kurzen, leichten elektrischen Schlag, der zwischen ihren Fingerspitzen hin und her zuckte,
als sie sich berührten.
Was soll das alles? Schoss es ihr durch den Kopf.
"Komm mit", flüsterte das Wesen wieder, es bestand kein Zweifel, dass dies ein deutlicher Befehl war. Innerlich wehrte Caren sich entschlossen, doch ihre Füße hingegen weigerten sich nicht, dem Befehl des Wesens nachzukommen. Ein Schritt nach dem anderen. Das Wesen spazierte langsam neben ihr her. Wieder ein Schritt, diesmal nicht mehr so zaghaft, wie der erste sondern schon viel sicherer. Carens Inneres dagegen wehrte sich immer heftiger. Erfolglos.
"Wer bist du eigentlich?" Sie hatte keine Ahnung, warum sie diese Frage stellte. Vielleicht nur um Zeit zu gewinnen oder aus einem Grund, den Caren selbst nicht verstand.
"Tiburtius." Kam die Antwort nach einigen Sekunden.
Was für ein seltsamer Name. Dachte Caren, während sie - immer noch widerwillig - einen steilen Hügel hinauf marschierte. Erst jetzt fiel Caren auf, dass sie einem Weg folgten. Von dieser Entdeckung überrascht, nahm sie ihre Umgebung etwas genauer in Augenschein. Seltsamerweise wirkte alles irgendwie vertraut und gleichzeitig so fremd, als ob sie schon einmal hier gewesen wäre und es wieder vergesse hätte.
Reiß dich zusammen! Forderte sie sich selbst auf. Wütend über ihre eigene Dummheit, konzentrierte Caren sich diese seltsam, vertraute Umgebung noch einmal neutraler zu betrachten. Der Hügel stieg immer steiler an, der Gipfel war hinter Nebelschleiern versteckt. Die auch sie langsam einhüllten. Bevor der Nebel stärker wurde hatte Caren noch ein entferntes Waldstück gesehen, Wiesen mit schwarzen Blumen und den Himmel, der eher wie ein finsterer Schatten wirkte. Keine Sterne, keine Häuser, kein Zeichen eines lebenden
Wesens außer ihr und Tiburtius.
Tiburtius. Auch dieser Name erweckte in ihr dieses vertraute, abstoßende Gefühl.
"Wohin bringst du mich?" Dieses Mal wusste Caren genau, warum sie wieder eine Frage an ihn stellte: Überall lag eine körperliche, erdrückende Stille, in der Luft die ihr beinahe den Atem nahm.
"Wirst du schon noch sehen." Anscheinend antwortete Tiburtius immer kurz und bündig. Eines war Caren klar: Sie wollte auf keinen Fall irgendwo hin, schon gar nicht in dieser komischen Traumwelt.
Genau! Das ist es! Ich träume das Ganze nur, alles was ich tun muss ist aufwachen! Von diesem Gedanken beflügelt, versuchte sie sich selbst aufzuwecken. Wach auf! Komm schon, verschwinde von hier!
Erschrocken, verwirrt und schwer atmend riss Caren die Augen auf, in der selben Sekunde saß sie kerzengerade in ihrem Bett. Nur langsam beruhigte sich ihr rasendes Herz, ebenso wie ihr Atem. Alles nur ein Traum. Nur ein Traum. Mund und Kehle waren staubtrocken, so als wäre sie über ein steiles Gelände marschiert ...
Energisch presste sie die Augen zusammen, bis ihr schwindelig wurde. Dann schwang sie die Beine aus dem Bett, drehte das Licht auf und blickte in den Spiegel, der gleich neben dem Lichtschalter hing.
Schon seit einigen Jahren erschrak Caren nicht mehr, als sie ihr Gesicht sah. Doch in dieser Nacht war es anders. Ihre rechte, normale Gesichtshälfte hatte eine wächserne, kranke Farbe angenommen. Das heile rechte, hellgrüne Auge bestand fast nur aus der schwarzen Pupille. Die eigentlich schönen, glatten, rötlichen Haare waren zersaust und hingen ihr wirr über die Schultern. Nur ihre linke, verbrannte, für immer zerstörte Gesichtshälfte, hatte sich nicht verändert. Noch immer war ihre Stirn über ihr Auge bis
fast zu ihren Lippen mit hässlichen Brandnarben übersät. Niemals würden sie verheilen. Immer wieder würde Caren an diesen schrecklichen Tag erinnert werden.
Damals, vor neun Jahren, Caren war gerade sieben Jahre geworden, als aus einem bis heute unklaren Grund, Feuer in ihrer Schule ausbrach. Zu spät wurde ihrer Lehrerin bewusst, dass ein Kind fehlte: Caren. Die war, kurz bevor der Feueralarm losging, auf der Toilette gewesen. Als er schließlich aufheulte, eilte Caren aus der Toilette. Plötzlich sah sie die Katze des Hausmeisters, die ängstlich in einer Ecke hockte. Da das Mädchen schon immer sehr tierlieb gewesen war, nahm sie die Katze auf den Arm und versuchte
sich einen Weg durch das Feuer zu bahnen. Plötzlich, ein paar Meter vor dem rettenden Ausgang, fiel irgendetwas auf ihre linke Gesichtshälfte und versengte sie. Wäre in diesem Moment nicht die Hand eines Feuerwehrmannes gewesen, der sie schützend aus dieser Hölle befreit hätte, wäre sie wahrscheinlich gestorben.
Während Caren noch darüber nachdachte, ging sie in Richtung Küche um ihren Durst zu löschen. Der einzig schöne Gedanke war, dass dieses Opfer nicht umsonst war: Die Katze hatte es überlebt.
Caren betrat die Küche, schaltete das Licht ein, nahm ein Glas aus der Vitrine, füllte es mit Leitungswasser, trank mit gierigen Schlucken. Nach drei Gläsern Wasser war ihr Durst gestillt. Sie stellte das Glas hin, drehte sich um und hätte um ein Haar aufgeschrieen, doch presste Caren ihre Hände rechtzeitig auf ihren Mund.
Das kann nicht sein! Vor ihr stand Tiburtius, lässig gegen den Türrahmen gelehnt. Er kam auf sie zu, ein paar Zentimeter von ihr entfernt blieb er stehen.
"Es war sehr unhöflich von dir, mich einfach zu verlassen." Meinte er müde. Caren bemerkte, dass er ein bisschen größer war als sie, im Traum war ihr das nicht aufgefallen. Verwirrt schüttelte Caren den Kopf, wie konnte ein Traumwesen in die reale Welt gelangen?
"Was tust du hier?" Ihre Stimme klang nicht halb so selbstbewusst, wie sie es sich gewünscht hätte.
"Ich will dir etwas zeigen."
"Ach ja? Und was?" Merkwürdigerweise wurde ihre Angst immer schwächer, vielleicht lag es daran, dass sie sich in einer vertrauten Umgebung befand.
"Schau her." Ohne zu zögern ergriff er ihre Hand, wieder dieser Blitz zwischen ihren Fingern. "Spürst du es?", fragte Tiburtius leise.
"Den Blitz?" Caren war sich nicht sicher, was er meinte.
"Ja, das auch. Aber die Magie?"
"Magie?"
"Ich wurde hergeschickt, um dir etwas Wichtiges zu sagen, etwas das dein Leben für immer verändern wird."
Ungläubig starrte Caren das Wesen an, von dem sie nicht genau wusste, ob es Freund oder Feind oder eine Mischung aus beidem war.
"Komm mit. Von Licht in Schatten und vielleicht nie mehr zurück." Noch bevor sie fragen konnte, was er damit meinte, machte Tiburtius eine komplizierte Bewegung mit der linken Hand - mit der rechten hielt er immer noch die ihre fest - und vor ihnen erschien eine steinerne, schwarze Tür. Eine weitere Handbewegung ließ die Tür öffnen.
Caren war wieder in ihrer Traumwelt, doch diesmal schlief sie nicht. Der gleiche Weg, der gleiche Hügel, Nebel rund um sie herum. Fesseln gab es keine, stattdessen hielt sie eine Hand fest. Tiburtius. Plötzlich brannten ihr Hunderte Fragen auf der Zunge und die erste, die sie stellte war zugleich die dümmste.
"Wieso hast du mich anfangs gefesselt?"
"Weil ich dachte, du würdest mir so nicht entkommen, doch deine Macht ist stärker, als ich vermutet habe."
"Meine Macht?" Wieder ging es den Hügel hinauf, aber nun wehrte Caren sich nicht. Im Gegenteil: Sie wurde richtig neugierig auf das, was sie erwarten würde.
"Du weißt von nichts." Es war keine Frage. "Du gehörst in diese Welt, Caren. In die Welt der Schatten und des ewigen Zwielichts."
"Was?!"
"Du bist eine von uns. Ein Wesen der Magie, doch hat die Welt des Lichts - du nennst sie die reale Welt - dich entführt. Da sie wussten, dass du etwas Besonderes bist."
"Etwas Besonderes?" echote Caren verblüfft.
"Ja." Es war klar, dass er noch mehr sagen wollte, doch war er wohl nicht gewillt alles von sich aus preiszugeben. Caren verstand und spielte mit.
"Wieso hat mich die Welt des Lich- ... die reale Welt mich entführt?"
"Sieh dich einmal um. Hier lebt so gut wie nichts mehr, es gibt nur das Zwielicht. Keine Sonne, kein Mond, keine Sterne. Wenn das so weitergeht ist diese Welt verloren."
"Und wie soll ich dabei etwas bewirken?" Caren war sich noch immer nicht sicher, ob Tiburtius ihr die Wahrheit erzählte, oder er alles nur erfand. Doch wozu sollte er sich die Mühe machen und ihr eine solch absurde Geschichte auftischen?
"Du musst uns das Licht zurückbringen."
"Und wie?"
"Das wird dir deine Magie schon verraten." Eine zeitlang gingen sie schweigend nebeneinander her.
"Wir sind da", durchbrach Tiburtius die Stille, die langsam wieder begonnen hatte ihr den Atem zu nehmen. Zuerst konnte Caren nichts Außergewöhnliches feststellen, doch ganz plötzlich lichtete sich der Nebel und gab den Blick frei.
Vor ihnen stand ein Spiegel. Erst nach ein paar Sekunden wurde Caren klar, dass der Spiegel etwas Ungewöhnliches war. Er schien keine feste Form zu haben, der Rand war immer verschwommen, man hätte meinen können er bestände nur aus kleinen Wellen. Obwohl, so abwegig war diese Vermutung gar nicht, denn auch die Oberfläche wollte keine feste Form annehmen. Plötzlich kam Caren eine Idee: Was wäre, wenn das gar kein Spiegel war, sondern ein kleiner See, der senkrecht stand? Sie hatte das Gefühl, als ob das der Wahrheit
ziemlich nahe kam.
"Was ist das?", flüsterte sie ehrfurchtsvoll. Tiburtius schien nach einer passenden Erklärung zu suchen, denn er ließ sich mit der Antwort Zeit.
"In eurer Sprache gibt es kein bestimmtes Wort dafür, aber am ehesten würdest du wohl Orakel oder Ratgeber dazu sagen." Caren betrachte den Spiegel, See, Ratgeber, was auch immer, noch einmal genauer. Doch hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass es sich nicht gehörte ihn so lange anzustarren, deshalb blickte sie zum Himmel empor. Nichts als Schwärze. Mit der Zeit schmerzte die Dunkelheit in ihren Augen. Caren sah zu Boden. Schwarz, vielleicht auch etwas Grau.
Tiburtius, der noch immer ihre Hand hielt, zerrte sie ein Stück näher an den Spiegel heran.
"Berühr ihn", zischte er ihr ins Ohr.
Caren tat wie ihr geheißen. Wieder dieses Gefühl, nicht nach ihrem eigenen Willen zu handeln. Die Oberfläche fühlte sich eigenartig nass an, kalt und gleichzeitig warm. Die verschwommen Umrisse und die Innenseite begannen eine feste Form anzunehmen. Erschrocken zog Caren ihre Hand zurück. Plötzlich erschien im Spiegel ein Gesicht. Genauer gesagt: Wuchs das Gesicht ein paar Zentimeter aus dem Spiegel heraus. Es war leer, ohne jeden Ausdruck, genauso wie die Augen.
Zu Carens Überraschung begann das Gesicht mit einer Stimme zu sprechen, die genauso leer war wie seine Augen und trotzdem von leisem Wassergeplätscher erfüllt.
"Ah. Da bist du ja, unsere Retterin." Das Gesicht wandte sich kurz an Tiburtius. "Du hast deine Aufgabe sehr gut erfüllt."
"Danke." Der Angesprochene machte ein tiefe Verbeugung.
"Nun zu dir, Caren." Sie wunderte sich erst gar nicht, woher dieses Ding ihren Namen wusste und hörte einfach zu. "Soweit ich unterrichtet bin, weißt du nur, dass du in diese Welt gehörst. Und du uns das Licht wiederbringen wirst."
Caren nickte.
Es trat eine kurze Pause ein, verlegen blickte Caren in eine andere Richtung. Zuerst fiel es ihr nicht auf, aber dann wurde sie sich der Schatten bewusst, die einen Kreis um den Spiegel, Tiburtius und sie schlossen. Sie kamen immer näher, obwohl Caren nur schwarze Schatten sah, konnte sie die Umrisse deutlich erkennen, beinahe hätte sie aufgeschrien. Es waren keine einfachen Schatten, sondern Ungeheuer, bizarre Wesen mit Hunderten höllischen roten Augen, Keulen, Zähnen, die mindestens so groß waren wie ihr Arm,
unheimlichen langen, beharrten Spinnenbeinen, meterlange Klauen. Nicht alle hatten eine feste Form, manche schienen, wie Nebel hin und her zu schwirren. Auch die Größe der Ungeheuer war unterschiedlich einige von ihnen waren riesig, andere wiederum gerade mal so groß, wie ihre Faust. Doch strahlten sie alle einen unfassbaren Schrecken aus. Eine Sekunde später wurde Caren klar, wer diese Welt bewohnte. Die Albträume und Ängste der Menschen.
"Du hast es erfasst", sagte das Gesicht im Spiegel. Caren fragte erst gar nicht, woher er ihre Gedanken erraten hatte, vielleicht waren sie auch einfach nur zu deutlich in ihrem Gesicht erkennbar.
"Du glaubst, du gehörst nicht hierher?", fragte es höhnisch.
Caren änderte ihre Meinung: Dieses Ding konnte Gedanken lesen.
"Schau her, sieh dein wahres Gesicht."
Widerwillig betrachtete Caren das Gesicht, es verschwand. Stattdessen konnte sie ihr Spiegelbild sehen, das ihr zwar ähnlich sah, aber nicht direkt sie selbst war.
Vor ihr im Spiegel sah sie einen schaurig schönen Engel mit schwarzen Flügeln, blasser Haut, schwarzem Haar, langen Fingernägeln, auch ihr Gesicht sah anders aus. Zuerst wusste Caren nicht was es war, doch plötzlich überkam sie die Erkenntnis. Ihre Brandnarben waren verschwunden!
Mit zitternden Fingern tastete sie nach ihrer linken Wange, sie spürte keinen Narben mehr, sondern Haut. Eine Freudenträne glitzerte in ihren Augen.
"Wenn du zu uns kommst, wird dieses Bild Wahrheit." Das Gesicht war wieder da, ihr Spiegelbild verschwand.
Noch einmal tastete sie nach ihrem Gesicht. Die Narben waren zurück.
"Was muss ich tun?" Caren hätte alles, alles getan um wieder in ihr schönes Gesicht blicken zu können.
"Werde eine von uns." Drang die Stimme in ihr Ohr. "Werde zu dem, was du gesehen hast."
Caren schwieg.
"Danach bringst du, mit Hilfe deiner Macht, das Licht zu uns zurück."
"Welches Licht?"
"Die Sterne. Du fragst dich warum? Unsere Welt lebt schon zu lange in Dunkelheit, sodass das Licht der Sonne oder des Mondes sie zerstören würde. Außerdem sind die Sterne der Schlüssel zu deiner ehemaligen Welt."
"Schlüssel?"
"Ja." Zischte das Spiegel-Gesicht. "Mit Hilfe der Sterne, die du uns bringst, gelangen wir in die Welt des Lichts."
"Und was wollt ihr dort?" Caren kam sich so vor, als ob sie in Trance wäre, oder jemand anders durch sie sprechen würde.
"Zurückfordern, was uns gehört." Die Stimme wurde lauter, drohender.
"Und was wäre das?"
"Das Leben."
"Wie bitte?!" Die unheimliche Stimme lachte, jedoch war dieses Lachen alles andere als fröhlich.
"Wir sind keine lebenden Wesen, wir existieren nur in den Köpfen der Menschen, durch ihre Ängste nehmen wir Gestalt an. Wenn wir nun in die Welt des Lichts gelangen, werden wir uns das Leben, derer nehmen, die uns so fürchten. Dasselbe wirst auch du tun."
Nach diesen Worten fiel die Trance von Caren. Mit einem mal wurde ihr klar, dass sie der Welt der Schatten nicht helfen würde. Sie würde nicht der Schlüssel zur Vernichtung ihrer Welt sein. Niemals!
"Du willst für immer deine hässlichen Narben behalten?"
Die Drohung wirkte. Für einen Augenblick spielte sie doch mit dem Gedanken. Aber der Tod ihrer Welt, wie sie sie kannte? Eine Welt opfern für ein schönes Gesicht? War es das wert?
"Natürlich, komm zu uns."
"Nein!" entfuhr es Caren. Sie bückte sich, schnappte einen Stein und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen den Spiegel. Doch versank ihr Wurfgeschoss, wie in einem See. Noch einmal versuchte sie es, ohne etwas anderes zu bewirken. Daraufhin kam Caren auf eine Idee.
Sie sprang direkt in den Spiegel hinein. Als das Wasser ihre Haut berührte, lief Caren ein eisiger Schauer über den Rücken. Mit einem lauten Schrei stürzte sie auf einen harten Steinboden. Den Schmerz verdrängend blickte sie wild um sich. Anscheinend war sie in einer kleinen Höhle. Stille. Auch das erwartete Rauschen des Wassers blieb aus. Carens Blick glitt über die schwarzen Wände. Da! In einer kleinen Nische glitzerte etwas. Schnell kam sie auf die Füße und lief zu der Nische hin.
Darin befand sich ein schwarzes Amulett mit einem schwarzen Stein als Anhänger. Ein unbestimmtes Gefühl verriet ihr, dass es sich um das Herz des Spiegels handelte. Der Spiegel wiederum war der dunkle Kern dieser Welt.
Entschlossen griff Caren nach dem Amulett. Es war kühl. Von irgendwo her kam ein wütender Schrei. Nach einigen Sekunden wurde ihr klar, dass es sich um die Stimme des Spiegel-Gesichts handelte. Sie hatte ihm sein Herz entrissen. Wer würde da nicht schreien? Plötzlich begann sich alles um Caren zu drehen. Etwas Schweres, vielleicht ein Stein, fiel ihr auf den Hinterkopf. Nun wurde es gänzlich schwarz um sie.
Mit höllischen Kopfschmerzen erwachte Caren. Verblüfft stellte sie fest, dass sie in ihrem Bett lag. War alles nur ein Traum gewesen? Die Antwort kam gleich darauf. Wenn nicht Tiburtius, der neben ihr auf der Bettkante saß, sie überzeugt hätte, dann spätestens das schwarze Amulett um ihrem Hals.
"Was ist passiert?" Caren erschrak, als sie ihre eigene Stimme hörte, sie war kratzig und rau.
"Du hast dem Orakel sein Herz genommen, das Orakel zerfiel in tausend Stücke. Und da es sozusagen für unsere Welt die Luft zum Atmen war, wird sie nun langsam ersticken." Schloss er.
Beinahe wollte Caren "Zum Glück" sagen, aber das traurige Gesicht ihres Gegenübers hielt sie davon ab. Stattdessen sagte sie: "Gibt es denn keine Hoffnung?"
Tiburtius schüttelte den Kopf. "Nein, aber vielleicht ist es auch besser so."
Eine kurze Pause trat ein.
"Mir bleibt nicht mehr viel Zeit." Caren sah ihn fragend an.
"Ich muss sagen, dass ich sehr beeindruckt war, als du dich geweigert hast uns die Sterne zu bringen."
Verlegen blickte sie zu Boden.
"Du leidest sehr unter diesen Narben." Es war keine Frage, sondern eine reine Feststellung. "Und ich denke, für deinen Mut solltest du belohnt werden." Ohne ein weiteres Wort berührte er ihre linke Wange. Seine Finger waren angenehm kühl.
Nach einigen Sekunden zog er die Hand weg, lächelte noch einmal und verschwand innerhalb eines Augenaufschlages. Caren konnte sich denken, was er getan hatte, jedoch wollte sie auf Nummer sicher gehen. Schnell sprang sie aus dem Bett. Ein freudiger Blick in den Spiegel bestätigte ihren Verdacht.